Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.Heinrich Leuthold.
aber es bleibt wie so vieles andre doch immer negativ. Ein einziges Gedicht
Honegger (in dem anfangs zitirten Essay) ist ganz entzückt von diesem Ge¬
Aber welche Ironie! Gerade dieses einzige Pathos, gerade diese einzige Leiden¬ Heinrich Leuthold.
aber es bleibt wie so vieles andre doch immer negativ. Ein einziges Gedicht
Honegger (in dem anfangs zitirten Essay) ist ganz entzückt von diesem Ge¬
Aber welche Ironie! Gerade dieses einzige Pathos, gerade diese einzige Leiden¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0230" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/196330"/> <fw type="header" place="top"> Heinrich Leuthold.</fw><lb/> <quote> <lg xml:id="POEMID_31" type="poem"> <l> Laß mir die von deutschen Dichtern<lb/> Längst behandelten Motive!</l> </lg> </quote><lb/> <p xml:id="ID_852"> aber es bleibt wie so vieles andre doch immer negativ. Ein einziges Gedicht<lb/> existirt in dem ganzen Buche, welches man als den positiven Ausdruck seines<lb/> Bekenntnisses ansehen konnte, das „Ave Maria" aus dem Zyklus „Von der<lb/> Riviera":</p><lb/> <quote> <lg xml:id="POEMID_32" type="poem"> <l><cb type="start"/><cb/> Ich aber secure lässig meinen Kahn;<lb/> Des Weltengeistes Odem lausch' ich stumm,<lb/> Und nieine Seele taucht, ein weißer Schwan,<lb/> Sich in der Sehnsucht stillen Ozean;<lb/> Die Liebe sei mein Evangelium.<lb/> Im Norden fern im engen KNmmerleiu<lb/> Weint jetzt ein blondes Kind und denket<lb/> mein.<lb/> Die jedes Glück, die mir den Frieden lieh<lb/> Und Poesie,<lb/> O sei gegrüßt, Marie! <cb type="end"/> Mit ihren Wonncschauern naht sie sacht,<lb/> Auf leichten Sohlen wandelt sie einher,<lb/> Die saufte Zauberkönigin, die Nacht,<lb/> Und ihres Sterueumantels stille Pracht<lb/> Ausspannt sie langsam über's Mittelmeer.<lb/> Vom Kirchlein, einsam auf dem Fels am<lb/> Strand,<lb/> Weht leises Läuten über Meer und Land;<lb/> Sonst alles still — nur durch das Schilf spielt<lb/> lind<lb/> Der Abendwind.<lb/> Ave Maria!<lb/><lb/><lb/></l> </lg> </quote><lb/> <p xml:id="ID_853"> Honegger (in dem anfangs zitirten Essay) ist ganz entzückt von diesem Ge¬<lb/> dichte. Wir können diese Frende nicht teilen, denn in seiner kunstvollen Form<lb/> wirkt es doch wie nüchtern gemacht und überzeugt nicht. Man wird wohl nicht<lb/> in den Verdacht des Katholiken geraten, wenn man diese Gegenüberstellung der<lb/> sentimentalen deutsche» Marie und der Jungfrau Maria für geschmacklos er¬<lb/> klärt. Überhaupt ist alles Pathetische diesem tüpfelnden Formalisten fremd. Die<lb/> Liebe fehlt ihm, meint Baechthold ganz treffend, mit Anwendung des bekannten<lb/> Goethischen Urteils über Platen auf dessen Verehrer Leuthold. „Er liebt so<lb/> wenig seine Leser und seine Mit-Poeten, als sich selber." Nur ein Pathos be¬<lb/> sitzt er, weil diese einzige Leidenschaft ihn wahrhaft erfüllt: den literarischen<lb/> Ehrgeiz. Wie sehr ihn die Literatur beschäftigt, zeigen die vielen literarischen<lb/> Satiren, Episteln, Dichter-Sonette, Epigramme, die seine „Gedichte" enthalten,<lb/> zeigen auch die häufigen Bilder, welche ein Natnrobjekt mit der Poesie ver¬<lb/> gleichen. (Es lispelt ein hüpfend Lenzgedicht der Quell zu meinen Füßen, u. dergl.)<lb/> Die ergreifendsten Töne hat er doch nur in dieser seiner Leidenschaft gefunden,<lb/> wie etwa im „Herbstgefühl":</p><lb/> <quote> <lg xml:id="POEMID_33" type="poem"> <l><cb type="start"/> Die ganze Schöpfung steht in Trauer;<lb/> Das Laub der Bäume färbt sich gelber,<lb/> Und ach! mir ist, als fühlt ich selber<lb/> Im Herzen kalte Wintcrschaucr. <cb/> Wie ringsum alles stirbt und endet!<lb/> Bei diesem Wellen und Verderben<lb/> Fied' ich: o Gott, laß mich nicht sterben,<lb/> Eh' ich ein schönes Werk vollendet! <cb type="end"/><lb/><lb/> </l> </lg> </quote><lb/> <p xml:id="ID_854"> Aber welche Ironie! Gerade dieses einzige Pathos, gerade diese einzige Leiden¬<lb/> schaft stand ihm im Wege, das zu erreichen, wonach er sich sehnte: die höchsten<lb/> Höhen der Kunst. Nur ein Geschenk ist die Gabe der Musen. Die literarische<lb/> Grübelei beschränkte seinen Sinn auf die Virtuosität der Form, auf die Welt<lb/> von Papier und entzog ihn der einzig fruchtbaren Wirklichkeit des Lebens.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0230]
Heinrich Leuthold.
Laß mir die von deutschen Dichtern
Längst behandelten Motive!
aber es bleibt wie so vieles andre doch immer negativ. Ein einziges Gedicht
existirt in dem ganzen Buche, welches man als den positiven Ausdruck seines
Bekenntnisses ansehen konnte, das „Ave Maria" aus dem Zyklus „Von der
Riviera":
Ich aber secure lässig meinen Kahn;
Des Weltengeistes Odem lausch' ich stumm,
Und nieine Seele taucht, ein weißer Schwan,
Sich in der Sehnsucht stillen Ozean;
Die Liebe sei mein Evangelium.
Im Norden fern im engen KNmmerleiu
Weint jetzt ein blondes Kind und denket
mein.
Die jedes Glück, die mir den Frieden lieh
Und Poesie,
O sei gegrüßt, Marie!
Mit ihren Wonncschauern naht sie sacht,
Auf leichten Sohlen wandelt sie einher,
Die saufte Zauberkönigin, die Nacht,
Und ihres Sterueumantels stille Pracht
Ausspannt sie langsam über's Mittelmeer.
Vom Kirchlein, einsam auf dem Fels am
Strand,
Weht leises Läuten über Meer und Land;
Sonst alles still — nur durch das Schilf spielt
lind
Der Abendwind.
Ave Maria!
Honegger (in dem anfangs zitirten Essay) ist ganz entzückt von diesem Ge¬
dichte. Wir können diese Frende nicht teilen, denn in seiner kunstvollen Form
wirkt es doch wie nüchtern gemacht und überzeugt nicht. Man wird wohl nicht
in den Verdacht des Katholiken geraten, wenn man diese Gegenüberstellung der
sentimentalen deutsche» Marie und der Jungfrau Maria für geschmacklos er¬
klärt. Überhaupt ist alles Pathetische diesem tüpfelnden Formalisten fremd. Die
Liebe fehlt ihm, meint Baechthold ganz treffend, mit Anwendung des bekannten
Goethischen Urteils über Platen auf dessen Verehrer Leuthold. „Er liebt so
wenig seine Leser und seine Mit-Poeten, als sich selber." Nur ein Pathos be¬
sitzt er, weil diese einzige Leidenschaft ihn wahrhaft erfüllt: den literarischen
Ehrgeiz. Wie sehr ihn die Literatur beschäftigt, zeigen die vielen literarischen
Satiren, Episteln, Dichter-Sonette, Epigramme, die seine „Gedichte" enthalten,
zeigen auch die häufigen Bilder, welche ein Natnrobjekt mit der Poesie ver¬
gleichen. (Es lispelt ein hüpfend Lenzgedicht der Quell zu meinen Füßen, u. dergl.)
Die ergreifendsten Töne hat er doch nur in dieser seiner Leidenschaft gefunden,
wie etwa im „Herbstgefühl":
Die ganze Schöpfung steht in Trauer;
Das Laub der Bäume färbt sich gelber,
Und ach! mir ist, als fühlt ich selber
Im Herzen kalte Wintcrschaucr.
Wie ringsum alles stirbt und endet!
Bei diesem Wellen und Verderben
Fied' ich: o Gott, laß mich nicht sterben,
Eh' ich ein schönes Werk vollendet!
Aber welche Ironie! Gerade dieses einzige Pathos, gerade diese einzige Leiden¬
schaft stand ihm im Wege, das zu erreichen, wonach er sich sehnte: die höchsten
Höhen der Kunst. Nur ein Geschenk ist die Gabe der Musen. Die literarische
Grübelei beschränkte seinen Sinn auf die Virtuosität der Form, auf die Welt
von Papier und entzog ihn der einzig fruchtbaren Wirklichkeit des Lebens.
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