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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Das richterliche Urteil und die Phrase.

Über die Natur des Prozesses, die ohnehin jeder kannte, war jedes Aussprechen
unnötig. Daß das Gericht bei einem solchen Prozesse wie auch bei jedem
andern seine Schuldigkeit thut, versteht sich von selbst; es braucht das uicht
zu versichern. Auch wie lange das Gericht beraten hat, ob die Beratung mehr
oder minder schwierig gewesen ist, gehört nicht vor das Publikum. Vollends
sollten sich die Richter nicht in Versicherungen darüber ergehen, daß sie den
Angeklagten nicht hart behandeln wollen, und diesen nicht um ein Zeugnis
bitten, durch welches er ihr Wohlwollen anerkenne. Daß jemand, der soeben
verurteilt wird, künftig nicht wieder mit dem Strafgesetz in Konflikt gerate, ist
ja bei jedem Angeklagten zu hoffen. Eben deshalb aber ist ein Ausspruch
darüber, wenn er nicht etwa eine gutgemeinte Mahnung sein soll, ohne Wert.
Vor allem aber möchten wir wünschen, daß unsre Richter in ihren Urteilen es
streng vermieden, sich in pathetischen und geistreichen Wendungen zu ergehen.
Das richterliche Urteil wiegt in sich selbst so schwer, daß es solchen rhetorischen
Beiwerkes nicht bedarf. Überdies ist Geistreichsein eine gefährliche Sache. Es
mißlingt mitunter; und dann fällt es als Geschmacklosigkeit auf den Redenden
zurück. Doppelt schwer aber fällt es auf ihn zurück, wenn der Redende ein
Richter ist, weil jedermann fühlt, daß Geistreichsein nicht zum Berufe des
Richters gehört. Je nüchterner und einfacher der Richter seinen Ausspruch
abgiebt, umso besser erfüllt er seine Ausgabe.

Wir wollen nun auch den eigentlichen Inhalt des Urteils etwas näher
betrachten. Selbstverständlich lassen wir dabei die rechtliche Beurteilung, die
das Gericht der Sache hat angedeihen lassen, völlig unberührt. Nur dasjenige
soll hier besprochen werden, was uns in der Form des Urteils verfehlt erscheint,
wozu wir allerdings auch alle diejenigen Aussprüche rechnen, die das Gericht
gegeben hat, ohne daß die rechtliche Beurteilung der Sache dazu nötigte. Wir
bemerken in dieser Beziehung, daß es ja unzweifelhaft Pflicht des Gerichtes
war, das von der Verteidigung geltend gemachte Verhalten des Hofpredigers
Stöcker aus dem Gesichtspunkte zu prüfen, ob durch dasselbe die in den be¬
leidigenden Artikeln enthaltenen Vorwürfe sachlich gerechtfertigt oder doch we¬
nigstens einigermaßen entschuldigt werden. Diese Grenze hatte aber auch das
Gericht in seinen Ansprüchen umso strenger einzuhalten, als es ja von vorn¬
herein klar war, daß es sich hier um einen Tcndenzprvzeß handelte, durch
welchen der Richterspruch für politische Zwecke dienstbar gemacht werden sollte.

Die Hauptfrage war darauf gerichtet, ob das an die Spitze des Schmäh¬
artikels gestellte Wort "Lügner" in dem Verhalten Stöckers einen Anhalt finde;
ob man also demselben die Gepflogenheit, absichtlich und bewußt die Unwahrheit
zu sagen, vorwerfen könne. Das Urteil erörtert zu diesem Zwecke eine Reihe
von Fällen und zieht das Ergebnis, daß in diesen Fällen Stöcker mit den
Thatsachen sich in Widerspruch gesetzt habe. Bei einigen dieser Fälle wird dieser
Anspruch durch Einschiebung der Worte "teilweise" oder "halb und halb" ab-


Das richterliche Urteil und die Phrase.

Über die Natur des Prozesses, die ohnehin jeder kannte, war jedes Aussprechen
unnötig. Daß das Gericht bei einem solchen Prozesse wie auch bei jedem
andern seine Schuldigkeit thut, versteht sich von selbst; es braucht das uicht
zu versichern. Auch wie lange das Gericht beraten hat, ob die Beratung mehr
oder minder schwierig gewesen ist, gehört nicht vor das Publikum. Vollends
sollten sich die Richter nicht in Versicherungen darüber ergehen, daß sie den
Angeklagten nicht hart behandeln wollen, und diesen nicht um ein Zeugnis
bitten, durch welches er ihr Wohlwollen anerkenne. Daß jemand, der soeben
verurteilt wird, künftig nicht wieder mit dem Strafgesetz in Konflikt gerate, ist
ja bei jedem Angeklagten zu hoffen. Eben deshalb aber ist ein Ausspruch
darüber, wenn er nicht etwa eine gutgemeinte Mahnung sein soll, ohne Wert.
Vor allem aber möchten wir wünschen, daß unsre Richter in ihren Urteilen es
streng vermieden, sich in pathetischen und geistreichen Wendungen zu ergehen.
Das richterliche Urteil wiegt in sich selbst so schwer, daß es solchen rhetorischen
Beiwerkes nicht bedarf. Überdies ist Geistreichsein eine gefährliche Sache. Es
mißlingt mitunter; und dann fällt es als Geschmacklosigkeit auf den Redenden
zurück. Doppelt schwer aber fällt es auf ihn zurück, wenn der Redende ein
Richter ist, weil jedermann fühlt, daß Geistreichsein nicht zum Berufe des
Richters gehört. Je nüchterner und einfacher der Richter seinen Ausspruch
abgiebt, umso besser erfüllt er seine Ausgabe.

Wir wollen nun auch den eigentlichen Inhalt des Urteils etwas näher
betrachten. Selbstverständlich lassen wir dabei die rechtliche Beurteilung, die
das Gericht der Sache hat angedeihen lassen, völlig unberührt. Nur dasjenige
soll hier besprochen werden, was uns in der Form des Urteils verfehlt erscheint,
wozu wir allerdings auch alle diejenigen Aussprüche rechnen, die das Gericht
gegeben hat, ohne daß die rechtliche Beurteilung der Sache dazu nötigte. Wir
bemerken in dieser Beziehung, daß es ja unzweifelhaft Pflicht des Gerichtes
war, das von der Verteidigung geltend gemachte Verhalten des Hofpredigers
Stöcker aus dem Gesichtspunkte zu prüfen, ob durch dasselbe die in den be¬
leidigenden Artikeln enthaltenen Vorwürfe sachlich gerechtfertigt oder doch we¬
nigstens einigermaßen entschuldigt werden. Diese Grenze hatte aber auch das
Gericht in seinen Ansprüchen umso strenger einzuhalten, als es ja von vorn¬
herein klar war, daß es sich hier um einen Tcndenzprvzeß handelte, durch
welchen der Richterspruch für politische Zwecke dienstbar gemacht werden sollte.

Die Hauptfrage war darauf gerichtet, ob das an die Spitze des Schmäh¬
artikels gestellte Wort „Lügner" in dem Verhalten Stöckers einen Anhalt finde;
ob man also demselben die Gepflogenheit, absichtlich und bewußt die Unwahrheit
zu sagen, vorwerfen könne. Das Urteil erörtert zu diesem Zwecke eine Reihe
von Fällen und zieht das Ergebnis, daß in diesen Fällen Stöcker mit den
Thatsachen sich in Widerspruch gesetzt habe. Bei einigen dieser Fälle wird dieser
Anspruch durch Einschiebung der Worte „teilweise" oder „halb und halb" ab-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/18>, abgerufen am 28.07.2024.