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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Gstpreußische Skizzen.

gut wie die angrenzenden russischen Ostseeprovinzen, Es ist ein großes Land
mit gewaltigen Entfernungen; alles rechnet nach Meilen, und eine Entfernung
von drei bis vier, auch von fünf bis sechs Meilen schlägt man nicht sonderlich
an. Ist doch Ostpreußen reichlich halb so groß wie das ganze Königreich Baiern,
und muß man doch, um mit Wttrtemberg und Baden zusammen auszureichen,
nicht nur die Hohenzollernschen Fürstentümer, sondern auch fast das ganze
rechtsrheinische Südhesscn, die sogenannte Provinz Starkenburg, uoch hinzu¬
fügen. Auf diesem Gebiete wohnen gegen zwei Millionen Menschen, so viel wie
ein kleines Volk. Aber dieselben bilden keinen gleichartigen Menschenschlag,
sondern es ist, als ob die charakteristische Ungleichmäßigst der Bodenoberfläche
sich in ethnographischer Hinsicht wiederhole. Den Kern der Bevölkerung
bilden die zur Ordenszeit ins Land gekommenen und wahrscheinlich vielfach mit
den alten Preußen vermischten Deutschen. Altpreußische Adelsfcnnilien, deren
anfangs noch ziemlich viele übriggeblieben waren, giebt es gegenwärtig -- nach
dem Aussterben der Lesgewang -- nur noch zwei: die Kalneiu und die Per-
bcmdt; im übrigen ist das Volk untergegangen, und der letzte preußisch redende
Mensch ist schon im siebzehnten Jahrhundert gestorben. Aber nur der Nordwesten,
allerdings, wie mehrfach gezeigt, der beste Teil der Provinz, ist von einem un¬
bestritten deutschen Volke bewohnt; im Süden wohnen die Masuren, im Osten
die Littauer, und zwischen hinein sind noch im vorigen Jahrhundert die Salz¬
burger und in andrer Zeit zahlreiche Mecklenburger, sowie aus allen Teilen
Deutschlands einzelne, in Ostpreußen ansässig gewordene Familien gekommen.
Also, auch innerhalb des deutschen Teils der Bevölkerung, eine ziemlich bunt¬
scheckige Zusammensetzung derselben. Dazu kommt noch, daß die Ermlünder,
weil katholisch geblieben und infolgedessen Jahrhunderte lang fast ohne Be¬
rührung mit den benachbarten Landesteilen, sich einigermaßen zu einer besondern
Stammcsindividualität ausgebildet haben. Von einem ostpreußischen Typus
und Volkscharakter kann man infolgedessen kaum reden, wenn auch gewisse Züge
verbreitet genug sind, um einen typischen Charakter anzunehmen.

Vor allem muß es nun offen ausgesprochen werden, daß im Deutschtum,
und in ihm allein, die Zukunft des Landes liegt. Wir werden weder den
Masuren noch den Littauer bedrücken oder Sprachenzwang gegen ihn üben,
sondern lassen es uns gefallen, die Germanisirungsarbeit langsam und geräusch¬
los, ohne alle Gewaltsamkeit, ihren Gang gehen zu lassen; aber wir dürfen
und müssen uns klar darüber sein, daß Germanisirung und höhere Kultivirung
des Landes wie des Volkes identisch sind. Am deutlichsten tritt dies zu tage,
wenn man sich vergegenwärtigt, in wie kolossalen Maße seit der Zeit des großen
Kurfürsten, d. h. seit dein Ende der Polenherrschaft, hat regermanisirt werden
müssen, und daß dies alles Schritt für Schritt die Erkümpfung oder Znrück-
Erkämpfung einer höhern Kultur bedeutete. Heute noch begegnet man
selbst in Königsberg auf manchem der vornehmsten Gutshöfe Rester polnischen


Gstpreußische Skizzen.

gut wie die angrenzenden russischen Ostseeprovinzen, Es ist ein großes Land
mit gewaltigen Entfernungen; alles rechnet nach Meilen, und eine Entfernung
von drei bis vier, auch von fünf bis sechs Meilen schlägt man nicht sonderlich
an. Ist doch Ostpreußen reichlich halb so groß wie das ganze Königreich Baiern,
und muß man doch, um mit Wttrtemberg und Baden zusammen auszureichen,
nicht nur die Hohenzollernschen Fürstentümer, sondern auch fast das ganze
rechtsrheinische Südhesscn, die sogenannte Provinz Starkenburg, uoch hinzu¬
fügen. Auf diesem Gebiete wohnen gegen zwei Millionen Menschen, so viel wie
ein kleines Volk. Aber dieselben bilden keinen gleichartigen Menschenschlag,
sondern es ist, als ob die charakteristische Ungleichmäßigst der Bodenoberfläche
sich in ethnographischer Hinsicht wiederhole. Den Kern der Bevölkerung
bilden die zur Ordenszeit ins Land gekommenen und wahrscheinlich vielfach mit
den alten Preußen vermischten Deutschen. Altpreußische Adelsfcnnilien, deren
anfangs noch ziemlich viele übriggeblieben waren, giebt es gegenwärtig — nach
dem Aussterben der Lesgewang — nur noch zwei: die Kalneiu und die Per-
bcmdt; im übrigen ist das Volk untergegangen, und der letzte preußisch redende
Mensch ist schon im siebzehnten Jahrhundert gestorben. Aber nur der Nordwesten,
allerdings, wie mehrfach gezeigt, der beste Teil der Provinz, ist von einem un¬
bestritten deutschen Volke bewohnt; im Süden wohnen die Masuren, im Osten
die Littauer, und zwischen hinein sind noch im vorigen Jahrhundert die Salz¬
burger und in andrer Zeit zahlreiche Mecklenburger, sowie aus allen Teilen
Deutschlands einzelne, in Ostpreußen ansässig gewordene Familien gekommen.
Also, auch innerhalb des deutschen Teils der Bevölkerung, eine ziemlich bunt¬
scheckige Zusammensetzung derselben. Dazu kommt noch, daß die Ermlünder,
weil katholisch geblieben und infolgedessen Jahrhunderte lang fast ohne Be¬
rührung mit den benachbarten Landesteilen, sich einigermaßen zu einer besondern
Stammcsindividualität ausgebildet haben. Von einem ostpreußischen Typus
und Volkscharakter kann man infolgedessen kaum reden, wenn auch gewisse Züge
verbreitet genug sind, um einen typischen Charakter anzunehmen.

Vor allem muß es nun offen ausgesprochen werden, daß im Deutschtum,
und in ihm allein, die Zukunft des Landes liegt. Wir werden weder den
Masuren noch den Littauer bedrücken oder Sprachenzwang gegen ihn üben,
sondern lassen es uns gefallen, die Germanisirungsarbeit langsam und geräusch¬
los, ohne alle Gewaltsamkeit, ihren Gang gehen zu lassen; aber wir dürfen
und müssen uns klar darüber sein, daß Germanisirung und höhere Kultivirung
des Landes wie des Volkes identisch sind. Am deutlichsten tritt dies zu tage,
wenn man sich vergegenwärtigt, in wie kolossalen Maße seit der Zeit des großen
Kurfürsten, d. h. seit dein Ende der Polenherrschaft, hat regermanisirt werden
müssen, und daß dies alles Schritt für Schritt die Erkümpfung oder Znrück-
Erkämpfung einer höhern Kultur bedeutete. Heute noch begegnet man
selbst in Königsberg auf manchem der vornehmsten Gutshöfe Rester polnischen


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[0085] Gstpreußische Skizzen. gut wie die angrenzenden russischen Ostseeprovinzen, Es ist ein großes Land mit gewaltigen Entfernungen; alles rechnet nach Meilen, und eine Entfernung von drei bis vier, auch von fünf bis sechs Meilen schlägt man nicht sonderlich an. Ist doch Ostpreußen reichlich halb so groß wie das ganze Königreich Baiern, und muß man doch, um mit Wttrtemberg und Baden zusammen auszureichen, nicht nur die Hohenzollernschen Fürstentümer, sondern auch fast das ganze rechtsrheinische Südhesscn, die sogenannte Provinz Starkenburg, uoch hinzu¬ fügen. Auf diesem Gebiete wohnen gegen zwei Millionen Menschen, so viel wie ein kleines Volk. Aber dieselben bilden keinen gleichartigen Menschenschlag, sondern es ist, als ob die charakteristische Ungleichmäßigst der Bodenoberfläche sich in ethnographischer Hinsicht wiederhole. Den Kern der Bevölkerung bilden die zur Ordenszeit ins Land gekommenen und wahrscheinlich vielfach mit den alten Preußen vermischten Deutschen. Altpreußische Adelsfcnnilien, deren anfangs noch ziemlich viele übriggeblieben waren, giebt es gegenwärtig — nach dem Aussterben der Lesgewang — nur noch zwei: die Kalneiu und die Per- bcmdt; im übrigen ist das Volk untergegangen, und der letzte preußisch redende Mensch ist schon im siebzehnten Jahrhundert gestorben. Aber nur der Nordwesten, allerdings, wie mehrfach gezeigt, der beste Teil der Provinz, ist von einem un¬ bestritten deutschen Volke bewohnt; im Süden wohnen die Masuren, im Osten die Littauer, und zwischen hinein sind noch im vorigen Jahrhundert die Salz¬ burger und in andrer Zeit zahlreiche Mecklenburger, sowie aus allen Teilen Deutschlands einzelne, in Ostpreußen ansässig gewordene Familien gekommen. Also, auch innerhalb des deutschen Teils der Bevölkerung, eine ziemlich bunt¬ scheckige Zusammensetzung derselben. Dazu kommt noch, daß die Ermlünder, weil katholisch geblieben und infolgedessen Jahrhunderte lang fast ohne Be¬ rührung mit den benachbarten Landesteilen, sich einigermaßen zu einer besondern Stammcsindividualität ausgebildet haben. Von einem ostpreußischen Typus und Volkscharakter kann man infolgedessen kaum reden, wenn auch gewisse Züge verbreitet genug sind, um einen typischen Charakter anzunehmen. Vor allem muß es nun offen ausgesprochen werden, daß im Deutschtum, und in ihm allein, die Zukunft des Landes liegt. Wir werden weder den Masuren noch den Littauer bedrücken oder Sprachenzwang gegen ihn üben, sondern lassen es uns gefallen, die Germanisirungsarbeit langsam und geräusch¬ los, ohne alle Gewaltsamkeit, ihren Gang gehen zu lassen; aber wir dürfen und müssen uns klar darüber sein, daß Germanisirung und höhere Kultivirung des Landes wie des Volkes identisch sind. Am deutlichsten tritt dies zu tage, wenn man sich vergegenwärtigt, in wie kolossalen Maße seit der Zeit des großen Kurfürsten, d. h. seit dein Ende der Polenherrschaft, hat regermanisirt werden müssen, und daß dies alles Schritt für Schritt die Erkümpfung oder Znrück- Erkämpfung einer höhern Kultur bedeutete. Heute noch begegnet man selbst in Königsberg auf manchem der vornehmsten Gutshöfe Rester polnischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/85>, abgerufen am 22.07.2024.