Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Gstprenßische Skizzen.

Wesens -- aber es ist überall eine niedrigere Kulturstufe, die sich hierin aus¬
prägt; stellenweise sind es Dinge, über die man in dem bescheidensten süd¬
deutschen, rheinischen oder sächsischen Bürgerhause vor Entsetzen die Hände
über dem Kopfe zusammenschlagen würde. So die Sitte oder Unsitte, die
Dienstmädchen in der Küche schlafen zu lassen, und die nomadenhafte Gleich-
giltigkeit gegen die Stelle, wo das Bett stehen soll; man rückt es fortwährend,
wohin man es unter den gelegentlichsten Einflüssen gerade heute haben möchte.
Im tiefen Masuren Passiren noch ganz andre Dinge; da giebt es garnicht selten
eine richtige "polnische Wirtschaft." Ja, es ist so: das Laud ist nicht, wie
man sich einbildet, vor 650 Jahren erobert worden, sondern wir stecken noch
mitten in der Eroberung drinnen. Vom deutschen Wesen kann man bis heute
uicht einmal sagen, daß es herrschend, sondern höchstens, daß es vorherrschend
sei; das darf aber nicht so bleiben. Die Masuren sind protestantische Polen
und reden ein archaistisches und mit deutschen Worten stark vermischtes, sonst
jedoch nicht sehr unterschiedenes Polnisch. Es mögen ihrer 200 000 sein. Die
Städte sind deutsch; nicht nur versteht in ihnen jedermann Deutsch, sondern
dies ist auch die Umgangs- und Geschäftssprache. Auch die größern Guts¬
besitzer sind ausnamslos deutsch, trotz ihrer zum Teil polnisch klingenden
Namen. Trotzdem geht der Germanisirungsprozeß nur laugsam vor sich, und
das hat verschiedne Ursachen. Da ist einmal eine nicht eben starke, aber immer¬
hin vorhandene und durch zwei Blätter genährte polvnisirende Strömung; da
ist ferner die in ansehnlicheren Umfange sich vollziehende, durch die würde- und
interesselose Haltung mancher protestantischen Geistlichen begünstigte Nekatholi-
sirung; da ist der nicht abzuhaltende starke Verkehr mit Polen und der Rück¬
halt, den das Polentum dort findet; da ist endlich auch eine gewisse Zähigkeit
des Volkstums, wie sie ja auch in andern Provinzen im Gegensatz zu dem
unsrigen beobachtet worden ist. Günstig ist hingegen die starke königstreue Ge¬
sinnung der Masuren, die sie auch ohne Mißtrauen oder gar Haß auf den
Deutschen blicken läßt; ferner der protestantische Glaube und endlich, in eigen¬
tümlichem Gegensatze zu den in andern Provinzen gemachten Erfahrungen, das
stramme Deutschtum der sich vielfach in Masuren niederlassenden katholischen
Ermlciuder. Freilich geht in diesen Fallen die Germanisirung mit der -- Re-
katholisirung Hand in Hand. Der schlimmste Feind des Masuren ist der
Branntwein; er läßt ihn auf keinen grünen Zweig kommen. Man hat schon
gesagt, die russische" Polen kämen relativ besser vorwärts, weil bei ihnen der
Schnaps teurer wäre. Sei dem wie ihm sei, so ist soviel sicher, daß hier die
Gewinnung für eine höhere Kultur die Befreiung der Leute vom Branntwein¬
teufel zur ersten Voraussetzung hat. Das littcmischc Volkstum ist schwächer
und weicher, und seine Zurückdrängung ist außer allem Vergleich merklicher.
In ganzen Kreisen, deren Kreisstädte noch zu Menschengedenken lithauischen
Gottesdienst hatten, giebt es jetzt so gut wie keine Littauer mehr, und fvrt-
'


Grenzbotm II. 1835, > >
Gstprenßische Skizzen.

Wesens — aber es ist überall eine niedrigere Kulturstufe, die sich hierin aus¬
prägt; stellenweise sind es Dinge, über die man in dem bescheidensten süd¬
deutschen, rheinischen oder sächsischen Bürgerhause vor Entsetzen die Hände
über dem Kopfe zusammenschlagen würde. So die Sitte oder Unsitte, die
Dienstmädchen in der Küche schlafen zu lassen, und die nomadenhafte Gleich-
giltigkeit gegen die Stelle, wo das Bett stehen soll; man rückt es fortwährend,
wohin man es unter den gelegentlichsten Einflüssen gerade heute haben möchte.
Im tiefen Masuren Passiren noch ganz andre Dinge; da giebt es garnicht selten
eine richtige „polnische Wirtschaft." Ja, es ist so: das Laud ist nicht, wie
man sich einbildet, vor 650 Jahren erobert worden, sondern wir stecken noch
mitten in der Eroberung drinnen. Vom deutschen Wesen kann man bis heute
uicht einmal sagen, daß es herrschend, sondern höchstens, daß es vorherrschend
sei; das darf aber nicht so bleiben. Die Masuren sind protestantische Polen
und reden ein archaistisches und mit deutschen Worten stark vermischtes, sonst
jedoch nicht sehr unterschiedenes Polnisch. Es mögen ihrer 200 000 sein. Die
Städte sind deutsch; nicht nur versteht in ihnen jedermann Deutsch, sondern
dies ist auch die Umgangs- und Geschäftssprache. Auch die größern Guts¬
besitzer sind ausnamslos deutsch, trotz ihrer zum Teil polnisch klingenden
Namen. Trotzdem geht der Germanisirungsprozeß nur laugsam vor sich, und
das hat verschiedne Ursachen. Da ist einmal eine nicht eben starke, aber immer¬
hin vorhandene und durch zwei Blätter genährte polvnisirende Strömung; da
ist ferner die in ansehnlicheren Umfange sich vollziehende, durch die würde- und
interesselose Haltung mancher protestantischen Geistlichen begünstigte Nekatholi-
sirung; da ist der nicht abzuhaltende starke Verkehr mit Polen und der Rück¬
halt, den das Polentum dort findet; da ist endlich auch eine gewisse Zähigkeit
des Volkstums, wie sie ja auch in andern Provinzen im Gegensatz zu dem
unsrigen beobachtet worden ist. Günstig ist hingegen die starke königstreue Ge¬
sinnung der Masuren, die sie auch ohne Mißtrauen oder gar Haß auf den
Deutschen blicken läßt; ferner der protestantische Glaube und endlich, in eigen¬
tümlichem Gegensatze zu den in andern Provinzen gemachten Erfahrungen, das
stramme Deutschtum der sich vielfach in Masuren niederlassenden katholischen
Ermlciuder. Freilich geht in diesen Fallen die Germanisirung mit der — Re-
katholisirung Hand in Hand. Der schlimmste Feind des Masuren ist der
Branntwein; er läßt ihn auf keinen grünen Zweig kommen. Man hat schon
gesagt, die russische» Polen kämen relativ besser vorwärts, weil bei ihnen der
Schnaps teurer wäre. Sei dem wie ihm sei, so ist soviel sicher, daß hier die
Gewinnung für eine höhere Kultur die Befreiung der Leute vom Branntwein¬
teufel zur ersten Voraussetzung hat. Das littcmischc Volkstum ist schwächer
und weicher, und seine Zurückdrängung ist außer allem Vergleich merklicher.
In ganzen Kreisen, deren Kreisstädte noch zu Menschengedenken lithauischen
Gottesdienst hatten, giebt es jetzt so gut wie keine Littauer mehr, und fvrt-
'


Grenzbotm II. 1835, > >
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0086" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/195475"/>
          <fw type="header" place="top"> Gstprenßische Skizzen.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_283" prev="#ID_282" next="#ID_284"> Wesens &#x2014; aber es ist überall eine niedrigere Kulturstufe, die sich hierin aus¬<lb/>
prägt; stellenweise sind es Dinge, über die man in dem bescheidensten süd¬<lb/>
deutschen, rheinischen oder sächsischen Bürgerhause vor Entsetzen die Hände<lb/>
über dem Kopfe zusammenschlagen würde. So die Sitte oder Unsitte, die<lb/>
Dienstmädchen in der Küche schlafen zu lassen, und die nomadenhafte Gleich-<lb/>
giltigkeit gegen die Stelle, wo das Bett stehen soll; man rückt es fortwährend,<lb/>
wohin man es unter den gelegentlichsten Einflüssen gerade heute haben möchte.<lb/>
Im tiefen Masuren Passiren noch ganz andre Dinge; da giebt es garnicht selten<lb/>
eine richtige &#x201E;polnische Wirtschaft." Ja, es ist so: das Laud ist nicht, wie<lb/>
man sich einbildet, vor 650 Jahren erobert worden, sondern wir stecken noch<lb/>
mitten in der Eroberung drinnen. Vom deutschen Wesen kann man bis heute<lb/>
uicht einmal sagen, daß es herrschend, sondern höchstens, daß es vorherrschend<lb/>
sei; das darf aber nicht so bleiben. Die Masuren sind protestantische Polen<lb/>
und reden ein archaistisches und mit deutschen Worten stark vermischtes, sonst<lb/>
jedoch nicht sehr unterschiedenes Polnisch. Es mögen ihrer 200 000 sein. Die<lb/>
Städte sind deutsch; nicht nur versteht in ihnen jedermann Deutsch, sondern<lb/>
dies ist auch die Umgangs- und Geschäftssprache. Auch die größern Guts¬<lb/>
besitzer sind ausnamslos deutsch, trotz ihrer zum Teil polnisch klingenden<lb/>
Namen. Trotzdem geht der Germanisirungsprozeß nur laugsam vor sich, und<lb/>
das hat verschiedne Ursachen. Da ist einmal eine nicht eben starke, aber immer¬<lb/>
hin vorhandene und durch zwei Blätter genährte polvnisirende Strömung; da<lb/>
ist ferner die in ansehnlicheren Umfange sich vollziehende, durch die würde- und<lb/>
interesselose Haltung mancher protestantischen Geistlichen begünstigte Nekatholi-<lb/>
sirung; da ist der nicht abzuhaltende starke Verkehr mit Polen und der Rück¬<lb/>
halt, den das Polentum dort findet; da ist endlich auch eine gewisse Zähigkeit<lb/>
des Volkstums, wie sie ja auch in andern Provinzen im Gegensatz zu dem<lb/>
unsrigen beobachtet worden ist. Günstig ist hingegen die starke königstreue Ge¬<lb/>
sinnung der Masuren, die sie auch ohne Mißtrauen oder gar Haß auf den<lb/>
Deutschen blicken läßt; ferner der protestantische Glaube und endlich, in eigen¬<lb/>
tümlichem Gegensatze zu den in andern Provinzen gemachten Erfahrungen, das<lb/>
stramme Deutschtum der sich vielfach in Masuren niederlassenden katholischen<lb/>
Ermlciuder. Freilich geht in diesen Fallen die Germanisirung mit der &#x2014; Re-<lb/>
katholisirung Hand in Hand. Der schlimmste Feind des Masuren ist der<lb/>
Branntwein; er läßt ihn auf keinen grünen Zweig kommen. Man hat schon<lb/>
gesagt, die russische» Polen kämen relativ besser vorwärts, weil bei ihnen der<lb/>
Schnaps teurer wäre. Sei dem wie ihm sei, so ist soviel sicher, daß hier die<lb/>
Gewinnung für eine höhere Kultur die Befreiung der Leute vom Branntwein¬<lb/>
teufel zur ersten Voraussetzung hat. Das littcmischc Volkstum ist schwächer<lb/>
und weicher, und seine Zurückdrängung ist außer allem Vergleich merklicher.<lb/>
In ganzen Kreisen, deren Kreisstädte noch zu Menschengedenken lithauischen<lb/>
Gottesdienst hatten, giebt es jetzt so gut wie keine Littauer mehr, und fvrt-<lb/>
'</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzbotm II. 1835, &gt; &gt;</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0086] Gstprenßische Skizzen. Wesens — aber es ist überall eine niedrigere Kulturstufe, die sich hierin aus¬ prägt; stellenweise sind es Dinge, über die man in dem bescheidensten süd¬ deutschen, rheinischen oder sächsischen Bürgerhause vor Entsetzen die Hände über dem Kopfe zusammenschlagen würde. So die Sitte oder Unsitte, die Dienstmädchen in der Küche schlafen zu lassen, und die nomadenhafte Gleich- giltigkeit gegen die Stelle, wo das Bett stehen soll; man rückt es fortwährend, wohin man es unter den gelegentlichsten Einflüssen gerade heute haben möchte. Im tiefen Masuren Passiren noch ganz andre Dinge; da giebt es garnicht selten eine richtige „polnische Wirtschaft." Ja, es ist so: das Laud ist nicht, wie man sich einbildet, vor 650 Jahren erobert worden, sondern wir stecken noch mitten in der Eroberung drinnen. Vom deutschen Wesen kann man bis heute uicht einmal sagen, daß es herrschend, sondern höchstens, daß es vorherrschend sei; das darf aber nicht so bleiben. Die Masuren sind protestantische Polen und reden ein archaistisches und mit deutschen Worten stark vermischtes, sonst jedoch nicht sehr unterschiedenes Polnisch. Es mögen ihrer 200 000 sein. Die Städte sind deutsch; nicht nur versteht in ihnen jedermann Deutsch, sondern dies ist auch die Umgangs- und Geschäftssprache. Auch die größern Guts¬ besitzer sind ausnamslos deutsch, trotz ihrer zum Teil polnisch klingenden Namen. Trotzdem geht der Germanisirungsprozeß nur laugsam vor sich, und das hat verschiedne Ursachen. Da ist einmal eine nicht eben starke, aber immer¬ hin vorhandene und durch zwei Blätter genährte polvnisirende Strömung; da ist ferner die in ansehnlicheren Umfange sich vollziehende, durch die würde- und interesselose Haltung mancher protestantischen Geistlichen begünstigte Nekatholi- sirung; da ist der nicht abzuhaltende starke Verkehr mit Polen und der Rück¬ halt, den das Polentum dort findet; da ist endlich auch eine gewisse Zähigkeit des Volkstums, wie sie ja auch in andern Provinzen im Gegensatz zu dem unsrigen beobachtet worden ist. Günstig ist hingegen die starke königstreue Ge¬ sinnung der Masuren, die sie auch ohne Mißtrauen oder gar Haß auf den Deutschen blicken läßt; ferner der protestantische Glaube und endlich, in eigen¬ tümlichem Gegensatze zu den in andern Provinzen gemachten Erfahrungen, das stramme Deutschtum der sich vielfach in Masuren niederlassenden katholischen Ermlciuder. Freilich geht in diesen Fallen die Germanisirung mit der — Re- katholisirung Hand in Hand. Der schlimmste Feind des Masuren ist der Branntwein; er läßt ihn auf keinen grünen Zweig kommen. Man hat schon gesagt, die russische» Polen kämen relativ besser vorwärts, weil bei ihnen der Schnaps teurer wäre. Sei dem wie ihm sei, so ist soviel sicher, daß hier die Gewinnung für eine höhere Kultur die Befreiung der Leute vom Branntwein¬ teufel zur ersten Voraussetzung hat. Das littcmischc Volkstum ist schwächer und weicher, und seine Zurückdrängung ist außer allem Vergleich merklicher. In ganzen Kreisen, deren Kreisstädte noch zu Menschengedenken lithauischen Gottesdienst hatten, giebt es jetzt so gut wie keine Littauer mehr, und fvrt- ' Grenzbotm II. 1835, > >

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/86
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/86>, abgerufen am 22.07.2024.