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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Das sächsische Sibirien.

heitskriegc oder den dänischen Feldzug von 1864 zurück. Die Mehrzahl der
Lieder ist der Liebe mit ihren Freuden und Leiden gewidmet. Das erste Sehnen
im Herzen des kaum Erwachsenen:


Und ist das Bürschlein noch so klein,
So will es schon geliebet sein,

die Unruhe und glühende Sehnsucht des Verliebten, das volle Glück einer er¬
wiederten, der Kummer einer einseitigen, der tiefe Schmerz der betrogenen Liebe,
frohes Wiedersehen oder bittere Enttäuschung nach lauger Trennung, Scheiden
und Meiden sür immer:


Ich wollt', ich lag und schlief
Viel tausend Klaftern tief
Im Schoß der kühlen Erden,
Weil du mein nicht kannst werden,
Und nichts zu hoffen hab,
Als nur das kühle Grab --

das sind die Klänge, welche diese Lieder durchziehen. Finden sich bereits unter
oieser Gattung hie und da Variationen bekannter Volkslieder, so begegnen uns
unter den nun folgenden Balladen - freilich in mehr oder weniger abweichender
Fassung -- manche alte Bekannte ans des Knaben Wunderhorn, ans Uhlcmds
Volksliedern und andern Sammlungen; so das Lied vom GastwirtSsohn, der
nach langer Wanderschaft, nnr von der Schwester erkannt, im Vaterhause ein¬
kehrt und nachts von seiner eignen Mutter erschlagen wird, von Schön Ulrich,
der als zwölftes Opfer seiner Lust Trautendelein ermordet und dafür aufs Rad
geflochten wird, Die Judentochter, Verrat und Rache, Schröder Handel, Trau¬
rige Hochzeit und viele andre. Die meisten dieser Balladen haben die tiefernste
Geschichte von genossenen Liebesglttck und dein namenlosen Elend und dem
Tode der in ihrer Schmach Verlassenen zum Inhalt. Dahin gehört das fol¬
gende Lied von Joseph und Lina:


Ach Joseph, ja lieber Joseph, was hast du gedacht,
Daß du die schöne Lina in das Unglück gebracht?
Ach Joseph, ja lieber Joseph, mit der Lina ist's nun ans;
Denn sie wird ja nun geführt zum Richtplcch hinaus.
Der Richter kam gegangen, ein Schwert in seiner Hand,
Und machte der schönen Lina ihr Unglück bekannt.
Ach Richter, ja lieber Richter, richte scharf und mach' geschwind I
Denn ich will ja gern sterben, daß ich komm' zu meinem Kind.
Ihr Schwestern und lieben Brüder, die ihr alle um mich weint,
Trocknet ab eure Thränen, die ihr alle um mich weint!
Ach Joseph, ja lieber Joseph, die Lina ist nun tot,
Gott sei gnädig der teuren Seele, die in Ewigkeit ruht.

Das sächsische Sibirien.

heitskriegc oder den dänischen Feldzug von 1864 zurück. Die Mehrzahl der
Lieder ist der Liebe mit ihren Freuden und Leiden gewidmet. Das erste Sehnen
im Herzen des kaum Erwachsenen:


Und ist das Bürschlein noch so klein,
So will es schon geliebet sein,

die Unruhe und glühende Sehnsucht des Verliebten, das volle Glück einer er¬
wiederten, der Kummer einer einseitigen, der tiefe Schmerz der betrogenen Liebe,
frohes Wiedersehen oder bittere Enttäuschung nach lauger Trennung, Scheiden
und Meiden sür immer:


Ich wollt', ich lag und schlief
Viel tausend Klaftern tief
Im Schoß der kühlen Erden,
Weil du mein nicht kannst werden,
Und nichts zu hoffen hab,
Als nur das kühle Grab —

das sind die Klänge, welche diese Lieder durchziehen. Finden sich bereits unter
oieser Gattung hie und da Variationen bekannter Volkslieder, so begegnen uns
unter den nun folgenden Balladen - freilich in mehr oder weniger abweichender
Fassung — manche alte Bekannte ans des Knaben Wunderhorn, ans Uhlcmds
Volksliedern und andern Sammlungen; so das Lied vom GastwirtSsohn, der
nach langer Wanderschaft, nnr von der Schwester erkannt, im Vaterhause ein¬
kehrt und nachts von seiner eignen Mutter erschlagen wird, von Schön Ulrich,
der als zwölftes Opfer seiner Lust Trautendelein ermordet und dafür aufs Rad
geflochten wird, Die Judentochter, Verrat und Rache, Schröder Handel, Trau¬
rige Hochzeit und viele andre. Die meisten dieser Balladen haben die tiefernste
Geschichte von genossenen Liebesglttck und dein namenlosen Elend und dem
Tode der in ihrer Schmach Verlassenen zum Inhalt. Dahin gehört das fol¬
gende Lied von Joseph und Lina:


Ach Joseph, ja lieber Joseph, was hast du gedacht,
Daß du die schöne Lina in das Unglück gebracht?
Ach Joseph, ja lieber Joseph, mit der Lina ist's nun ans;
Denn sie wird ja nun geführt zum Richtplcch hinaus.
Der Richter kam gegangen, ein Schwert in seiner Hand,
Und machte der schönen Lina ihr Unglück bekannt.
Ach Richter, ja lieber Richter, richte scharf und mach' geschwind I
Denn ich will ja gern sterben, daß ich komm' zu meinem Kind.
Ihr Schwestern und lieben Brüder, die ihr alle um mich weint,
Trocknet ab eure Thränen, die ihr alle um mich weint!
Ach Joseph, ja lieber Joseph, die Lina ist nun tot,
Gott sei gnädig der teuren Seele, die in Ewigkeit ruht.

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[0620] Das sächsische Sibirien. heitskriegc oder den dänischen Feldzug von 1864 zurück. Die Mehrzahl der Lieder ist der Liebe mit ihren Freuden und Leiden gewidmet. Das erste Sehnen im Herzen des kaum Erwachsenen: Und ist das Bürschlein noch so klein, So will es schon geliebet sein, die Unruhe und glühende Sehnsucht des Verliebten, das volle Glück einer er¬ wiederten, der Kummer einer einseitigen, der tiefe Schmerz der betrogenen Liebe, frohes Wiedersehen oder bittere Enttäuschung nach lauger Trennung, Scheiden und Meiden sür immer: Ich wollt', ich lag und schlief Viel tausend Klaftern tief Im Schoß der kühlen Erden, Weil du mein nicht kannst werden, Und nichts zu hoffen hab, Als nur das kühle Grab — das sind die Klänge, welche diese Lieder durchziehen. Finden sich bereits unter oieser Gattung hie und da Variationen bekannter Volkslieder, so begegnen uns unter den nun folgenden Balladen - freilich in mehr oder weniger abweichender Fassung — manche alte Bekannte ans des Knaben Wunderhorn, ans Uhlcmds Volksliedern und andern Sammlungen; so das Lied vom GastwirtSsohn, der nach langer Wanderschaft, nnr von der Schwester erkannt, im Vaterhause ein¬ kehrt und nachts von seiner eignen Mutter erschlagen wird, von Schön Ulrich, der als zwölftes Opfer seiner Lust Trautendelein ermordet und dafür aufs Rad geflochten wird, Die Judentochter, Verrat und Rache, Schröder Handel, Trau¬ rige Hochzeit und viele andre. Die meisten dieser Balladen haben die tiefernste Geschichte von genossenen Liebesglttck und dein namenlosen Elend und dem Tode der in ihrer Schmach Verlassenen zum Inhalt. Dahin gehört das fol¬ gende Lied von Joseph und Lina: Ach Joseph, ja lieber Joseph, was hast du gedacht, Daß du die schöne Lina in das Unglück gebracht? Ach Joseph, ja lieber Joseph, mit der Lina ist's nun ans; Denn sie wird ja nun geführt zum Richtplcch hinaus. Der Richter kam gegangen, ein Schwert in seiner Hand, Und machte der schönen Lina ihr Unglück bekannt. Ach Richter, ja lieber Richter, richte scharf und mach' geschwind I Denn ich will ja gern sterben, daß ich komm' zu meinem Kind. Ihr Schwestern und lieben Brüder, die ihr alle um mich weint, Trocknet ab eure Thränen, die ihr alle um mich weint! Ach Joseph, ja lieber Joseph, die Lina ist nun tot, Gott sei gnädig der teuren Seele, die in Ewigkeit ruht.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/620>, abgerufen am 22.07.2024.