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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Lin Veilchen auf der Wiese stand.

Gesang, was an den Leipziger Dichterkreis und die Anakreontiker sich an¬
schloß, selbst die zahlreichen musikalischen Erzeugnisse, zu denen der Göttinger
Dichterbund begeisterte, und als deren bedeutendste Schöpfer Andree, Schulz,
Reichardt dastehen, erscheinen uns heute wie ein großer grauer Nebel, aus
dem nur hie und da noch ein mattes Lichtchen zu uns herüberschimmert.
Erst an Goethes Lyrik entzündete sich die leuchtende Flamme der modernen
Liederkomposition, und welche Bedeutung Mozart auch als Liederkomponist
hätte erlangen -- können, wenn er Goethes Lieder gekannt hätte, wenn statt
des einen ein gütiger Zufall ihm deren mehr in die Hände gespielt hätte, das
zeigt sein "Veilchen." Wenn es immer als ein Beweis gelten kaun, daß ein
Komponist den höchsten und vollendetsten musikalischen Ausdruck für den Inhalt
einer Dichtung gefunden hat, wenn niemand sie ihm nachzukonipouircn wagt,
so ist Mozarts "Veilchen" in seiner Art das Höchste: außer Reichardt hat nie¬
mand den Mut gehabt, sich rin ihm zumessen; wohl aber hat Mozart -- und
das wird wenigen unsrer Leser bekannt sein -- von 1775 bis 1781 nicht weniger
als neun Vorgänger gehabt, die er durch seine Komposition ausgestochen hat --
zugleich ein Beispiel von der mächtigen, mit nichts früherem zu vergleichenden
Wirkung, die Goethes Lyrik auf die musikalische Produktion ihrer Zeit ausübte.
So wird eine kurze Geschichte des Liedes nicht bloß den Musikfreunden, sondern
auch den Goethefreundeu willkommen sein.

Was oft vergessen wird: Goethes "Veilchen" ist ursprünglich kein für sich
bestehendes Gedicht, so oft es auch -- später sogar von Goethe selbst -- als
solches abgedruckt worden ist, sondern es ist ein Bestandteil des Singspiels
"Erwin und Elmire" -- ein Bestandteil, nicht eine bloße Einlage, die auch
fehlen könnte.

"Erwin und Elmire" ist der poetische niederschlug und der Spiegel von
Goethes Verhältnis zu Elise Schönemauu (Lili) während des Winters 1774
auf 1775. Erwin ist Goethe, Elmire Lili, Elmires Mutter Olympia ist Lilis
Mutter, doch scheinen ihr fast mehr Züge von Goethes Mutter beigemischt zu sein,
Bernardo ist, wie schon der Name verrät, "Onkel Bernard" in Offenbach, der
Bruder von Lilis Mutter, der das Verhältnis Goethes zu Lili begünstigte und
beiden Liebenden ein freundlicher Vertrauter in ihren Herzensangelegenheiten war.

In der Szene nun zwischen Elmire und Bernardo, wo Elmire sich die bit¬
tersten Vorwürfe macht, daß sie Erwin gepeinigt, unglücklich gemacht, "durch
eitle leichtsinnige Launen ihm den tiefsten Verdruß in die Seele gegraben"
habe, steht das "Veilchen." Erwin gedenkt eines Vorgangs, den Goethe schwer¬
lich erfunden hat, sondern der, nach seiner ganzen Art, Erlebtes in seinen
Dichtungen zu verwerten, unzweifelhaft auf ein wirkliches Erlebnis hinweist:
"Wie er mir die zwey Pfirschen brachte, auf die er so lang ein wachsames
Auge gehabt hatte, die ein selbst geprovftes Bäumchen zum erstenmcchle trug.
Er brachte mir sie, mir klopfte das Herz, ich fühlte, was er mir zu geben


Lin Veilchen auf der Wiese stand.

Gesang, was an den Leipziger Dichterkreis und die Anakreontiker sich an¬
schloß, selbst die zahlreichen musikalischen Erzeugnisse, zu denen der Göttinger
Dichterbund begeisterte, und als deren bedeutendste Schöpfer Andree, Schulz,
Reichardt dastehen, erscheinen uns heute wie ein großer grauer Nebel, aus
dem nur hie und da noch ein mattes Lichtchen zu uns herüberschimmert.
Erst an Goethes Lyrik entzündete sich die leuchtende Flamme der modernen
Liederkomposition, und welche Bedeutung Mozart auch als Liederkomponist
hätte erlangen — können, wenn er Goethes Lieder gekannt hätte, wenn statt
des einen ein gütiger Zufall ihm deren mehr in die Hände gespielt hätte, das
zeigt sein „Veilchen." Wenn es immer als ein Beweis gelten kaun, daß ein
Komponist den höchsten und vollendetsten musikalischen Ausdruck für den Inhalt
einer Dichtung gefunden hat, wenn niemand sie ihm nachzukonipouircn wagt,
so ist Mozarts „Veilchen" in seiner Art das Höchste: außer Reichardt hat nie¬
mand den Mut gehabt, sich rin ihm zumessen; wohl aber hat Mozart — und
das wird wenigen unsrer Leser bekannt sein — von 1775 bis 1781 nicht weniger
als neun Vorgänger gehabt, die er durch seine Komposition ausgestochen hat —
zugleich ein Beispiel von der mächtigen, mit nichts früherem zu vergleichenden
Wirkung, die Goethes Lyrik auf die musikalische Produktion ihrer Zeit ausübte.
So wird eine kurze Geschichte des Liedes nicht bloß den Musikfreunden, sondern
auch den Goethefreundeu willkommen sein.

Was oft vergessen wird: Goethes „Veilchen" ist ursprünglich kein für sich
bestehendes Gedicht, so oft es auch — später sogar von Goethe selbst — als
solches abgedruckt worden ist, sondern es ist ein Bestandteil des Singspiels
„Erwin und Elmire" — ein Bestandteil, nicht eine bloße Einlage, die auch
fehlen könnte.

„Erwin und Elmire" ist der poetische niederschlug und der Spiegel von
Goethes Verhältnis zu Elise Schönemauu (Lili) während des Winters 1774
auf 1775. Erwin ist Goethe, Elmire Lili, Elmires Mutter Olympia ist Lilis
Mutter, doch scheinen ihr fast mehr Züge von Goethes Mutter beigemischt zu sein,
Bernardo ist, wie schon der Name verrät, „Onkel Bernard" in Offenbach, der
Bruder von Lilis Mutter, der das Verhältnis Goethes zu Lili begünstigte und
beiden Liebenden ein freundlicher Vertrauter in ihren Herzensangelegenheiten war.

In der Szene nun zwischen Elmire und Bernardo, wo Elmire sich die bit¬
tersten Vorwürfe macht, daß sie Erwin gepeinigt, unglücklich gemacht, „durch
eitle leichtsinnige Launen ihm den tiefsten Verdruß in die Seele gegraben"
habe, steht das „Veilchen." Erwin gedenkt eines Vorgangs, den Goethe schwer¬
lich erfunden hat, sondern der, nach seiner ganzen Art, Erlebtes in seinen
Dichtungen zu verwerten, unzweifelhaft auf ein wirkliches Erlebnis hinweist:
„Wie er mir die zwey Pfirschen brachte, auf die er so lang ein wachsames
Auge gehabt hatte, die ein selbst geprovftes Bäumchen zum erstenmcchle trug.
Er brachte mir sie, mir klopfte das Herz, ich fühlte, was er mir zu geben


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[0529] Lin Veilchen auf der Wiese stand. Gesang, was an den Leipziger Dichterkreis und die Anakreontiker sich an¬ schloß, selbst die zahlreichen musikalischen Erzeugnisse, zu denen der Göttinger Dichterbund begeisterte, und als deren bedeutendste Schöpfer Andree, Schulz, Reichardt dastehen, erscheinen uns heute wie ein großer grauer Nebel, aus dem nur hie und da noch ein mattes Lichtchen zu uns herüberschimmert. Erst an Goethes Lyrik entzündete sich die leuchtende Flamme der modernen Liederkomposition, und welche Bedeutung Mozart auch als Liederkomponist hätte erlangen — können, wenn er Goethes Lieder gekannt hätte, wenn statt des einen ein gütiger Zufall ihm deren mehr in die Hände gespielt hätte, das zeigt sein „Veilchen." Wenn es immer als ein Beweis gelten kaun, daß ein Komponist den höchsten und vollendetsten musikalischen Ausdruck für den Inhalt einer Dichtung gefunden hat, wenn niemand sie ihm nachzukonipouircn wagt, so ist Mozarts „Veilchen" in seiner Art das Höchste: außer Reichardt hat nie¬ mand den Mut gehabt, sich rin ihm zumessen; wohl aber hat Mozart — und das wird wenigen unsrer Leser bekannt sein — von 1775 bis 1781 nicht weniger als neun Vorgänger gehabt, die er durch seine Komposition ausgestochen hat — zugleich ein Beispiel von der mächtigen, mit nichts früherem zu vergleichenden Wirkung, die Goethes Lyrik auf die musikalische Produktion ihrer Zeit ausübte. So wird eine kurze Geschichte des Liedes nicht bloß den Musikfreunden, sondern auch den Goethefreundeu willkommen sein. Was oft vergessen wird: Goethes „Veilchen" ist ursprünglich kein für sich bestehendes Gedicht, so oft es auch — später sogar von Goethe selbst — als solches abgedruckt worden ist, sondern es ist ein Bestandteil des Singspiels „Erwin und Elmire" — ein Bestandteil, nicht eine bloße Einlage, die auch fehlen könnte. „Erwin und Elmire" ist der poetische niederschlug und der Spiegel von Goethes Verhältnis zu Elise Schönemauu (Lili) während des Winters 1774 auf 1775. Erwin ist Goethe, Elmire Lili, Elmires Mutter Olympia ist Lilis Mutter, doch scheinen ihr fast mehr Züge von Goethes Mutter beigemischt zu sein, Bernardo ist, wie schon der Name verrät, „Onkel Bernard" in Offenbach, der Bruder von Lilis Mutter, der das Verhältnis Goethes zu Lili begünstigte und beiden Liebenden ein freundlicher Vertrauter in ihren Herzensangelegenheiten war. In der Szene nun zwischen Elmire und Bernardo, wo Elmire sich die bit¬ tersten Vorwürfe macht, daß sie Erwin gepeinigt, unglücklich gemacht, „durch eitle leichtsinnige Launen ihm den tiefsten Verdruß in die Seele gegraben" habe, steht das „Veilchen." Erwin gedenkt eines Vorgangs, den Goethe schwer¬ lich erfunden hat, sondern der, nach seiner ganzen Art, Erlebtes in seinen Dichtungen zu verwerten, unzweifelhaft auf ein wirkliches Erlebnis hinweist: „Wie er mir die zwey Pfirschen brachte, auf die er so lang ein wachsames Auge gehabt hatte, die ein selbst geprovftes Bäumchen zum erstenmcchle trug. Er brachte mir sie, mir klopfte das Herz, ich fühlte, was er mir zu geben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/529>, abgerufen am 07.01.2025.