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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Um eine perle.

Zitadelle verbindet -- auch damals schon --, und der die große, von dem Flusse
Mincio gebildete Wasserfläche in den Logo ti Mezzo und den Logo superiore
sondert -- warum in den Staub?

Und das Wasser mit seiner blaugrünen Farbe, seinen zarten Wolkenspiege¬
lungen, seinem dem Atmen ähnlichen Heben und Sinken, seinem feuchten Schilf¬
dufte, seinen leise das Ufer umflüfternden Wellenstimmchen begann die Lebens¬
müde magnetisch anzulocken.

Sie setzte sich, unfern von den zwölf städtischen, den sogenannten Apostel¬
mühlen, auf einen der am Ufer liegenden Mühlsteine, und versenkte sich in die
Vorstellungen, die mit Sterben und Gestorbcnsein, so lange man noch mitten
im Leben steht, zusammenhängen. Das klare Wasser schien zu winken; fast
menschliche Züge nahm es an, und ihr war, als sanfte etwas so Beruhigendes
aus dem im Winde sanft wogenden Schilfe heraus, daß ihr die Brust vor
Sehnsucht nach diesem tiefen, weltentrückten Frieden schier zerspringen wollte.
Mein Erdendasein ist ja abgeschlossen, redete sie vor sich hin, ich habe ja mein
Liebstes verloren; darf ich, sollte ich ihm nicht in den Tod folgen? Alles, was
meine Seele nicht zur Ruhe kommen läßt, wird sich wie Schemen der Nacht
verflüchtigen, sobald mich der freundlich zu mir aufblickende See in seine
treue Hut genommen hat. -- In seine treue Hut? Es durchschauerte sie doch
eisig. Sie hatte als kleines Kind ein ertrunkenes Mädchen bis zur Unkennt¬
lichkeit entstellt aus dem Wasser ziehen sehen, mit erschreckender Deutlichkeit
tauchte das Bild vor ihr auf, und Grauen schüttelte sie bei dem Gedanken an
den entsetzlichen Anblick. Sie wandte sich vom Wasser weg. Nein, es ging
nicht, sie würde im Ertrinken um Hilfe schreien. Aber bleibt mir denn eine
Wahl? rief sie verzweifelnd aus, kann ich denn die Lüge des Widerrufs mit
dem Kruzifix in der Hand wiederholen? Und wenn meine Zunge die schmach¬
voll verleumderischen Worte wirklich sprach, könnten meine Augen dann je
wieder aufblicken? Müßte ich nicht meinen Vater, mich selbst, müßte ich nicht
Sonne und Mond, Himmel und Erde, Gott und seine Heiligen hassen, daß
etwas so Schmachvolles möglich war?

Sie erhob sich und schwankte lange ratlos und unter lauten Selbstge¬
sprächen in einiger Entfernung vom Ufer auf und ab. Wenn sie jene grauen¬
haften Prozeduren überlebte, konnte es kein Leben mehr sein, was sie lebte.
Wenn sie sich weigerte, sich ihnen zu unterwerfen, fiel das Haupt des Vaters
unter dem Beile des Scharfrichters. Wohlan, stöhnte sie endlich, ich will sterben,
mag werden was will. Sie wandte sich von neuem dem Wasser zu, strauchelte
aber und knickte in die Kniee. Eine Ohnmacht wollte sie befallen.

O ihr gütigen Heiligen, flehte sie gen Himmel, leiht mir nur wenigstens
hier euern Beistand, ich werde euch nie wieder lästig fallen! Ein Fläschchen, das
sie bei sich zu führen pflegte, suchte und fand sie an der Halskette, aber ihre
kraftlosen Finger vermochten nicht, es zu öffnen. Ach, seufzte sie, fast ihrer


Um eine perle.

Zitadelle verbindet — auch damals schon —, und der die große, von dem Flusse
Mincio gebildete Wasserfläche in den Logo ti Mezzo und den Logo superiore
sondert — warum in den Staub?

Und das Wasser mit seiner blaugrünen Farbe, seinen zarten Wolkenspiege¬
lungen, seinem dem Atmen ähnlichen Heben und Sinken, seinem feuchten Schilf¬
dufte, seinen leise das Ufer umflüfternden Wellenstimmchen begann die Lebens¬
müde magnetisch anzulocken.

Sie setzte sich, unfern von den zwölf städtischen, den sogenannten Apostel¬
mühlen, auf einen der am Ufer liegenden Mühlsteine, und versenkte sich in die
Vorstellungen, die mit Sterben und Gestorbcnsein, so lange man noch mitten
im Leben steht, zusammenhängen. Das klare Wasser schien zu winken; fast
menschliche Züge nahm es an, und ihr war, als sanfte etwas so Beruhigendes
aus dem im Winde sanft wogenden Schilfe heraus, daß ihr die Brust vor
Sehnsucht nach diesem tiefen, weltentrückten Frieden schier zerspringen wollte.
Mein Erdendasein ist ja abgeschlossen, redete sie vor sich hin, ich habe ja mein
Liebstes verloren; darf ich, sollte ich ihm nicht in den Tod folgen? Alles, was
meine Seele nicht zur Ruhe kommen läßt, wird sich wie Schemen der Nacht
verflüchtigen, sobald mich der freundlich zu mir aufblickende See in seine
treue Hut genommen hat. — In seine treue Hut? Es durchschauerte sie doch
eisig. Sie hatte als kleines Kind ein ertrunkenes Mädchen bis zur Unkennt¬
lichkeit entstellt aus dem Wasser ziehen sehen, mit erschreckender Deutlichkeit
tauchte das Bild vor ihr auf, und Grauen schüttelte sie bei dem Gedanken an
den entsetzlichen Anblick. Sie wandte sich vom Wasser weg. Nein, es ging
nicht, sie würde im Ertrinken um Hilfe schreien. Aber bleibt mir denn eine
Wahl? rief sie verzweifelnd aus, kann ich denn die Lüge des Widerrufs mit
dem Kruzifix in der Hand wiederholen? Und wenn meine Zunge die schmach¬
voll verleumderischen Worte wirklich sprach, könnten meine Augen dann je
wieder aufblicken? Müßte ich nicht meinen Vater, mich selbst, müßte ich nicht
Sonne und Mond, Himmel und Erde, Gott und seine Heiligen hassen, daß
etwas so Schmachvolles möglich war?

Sie erhob sich und schwankte lange ratlos und unter lauten Selbstge¬
sprächen in einiger Entfernung vom Ufer auf und ab. Wenn sie jene grauen¬
haften Prozeduren überlebte, konnte es kein Leben mehr sein, was sie lebte.
Wenn sie sich weigerte, sich ihnen zu unterwerfen, fiel das Haupt des Vaters
unter dem Beile des Scharfrichters. Wohlan, stöhnte sie endlich, ich will sterben,
mag werden was will. Sie wandte sich von neuem dem Wasser zu, strauchelte
aber und knickte in die Kniee. Eine Ohnmacht wollte sie befallen.

O ihr gütigen Heiligen, flehte sie gen Himmel, leiht mir nur wenigstens
hier euern Beistand, ich werde euch nie wieder lästig fallen! Ein Fläschchen, das
sie bei sich zu führen pflegte, suchte und fand sie an der Halskette, aber ihre
kraftlosen Finger vermochten nicht, es zu öffnen. Ach, seufzte sie, fast ihrer


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/434>, abgerufen am 22.07.2024.