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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Iwan Turgenjew in seinen Briefen.

und das menschliche Herz, und außerdem wirklich große Schriftsteller. Ich bin
nur der Dichter einer Übergangsepoche und schreibe nur fiir Leute, die sich selbst
im Übergangsstadium befinden." An DruZinin schreibt er neidlos über den
aufstrebenden Leon Tolstoj: "Tolstoj wird immer gediegener, liebenswürdiger
und klarer. Ich freue mich von Herzen darüber. Sobald dieser junge Most
ausgegährt hat, wird ein der Götter würdiger Trank daraus werden."

Eine anziehende Selbftcharaktcristik des Dichters finden wir in einem Briefe
an Madame Miljutiu, deren Sohn von seinem Lehrer das merkwürdige Auf¬
satzthema erhalten hatte: "Turgenjews Weltanschauung, nach seinen Dichtungen."
Madame Miljutin fragte, halb im Scherz, bei Turgenjew an, ob er nicht selbst
über diesen Punkt etwas zu sagen Hütte, und Iwan Sergejewitsch schreibt darauf¬
hin: "Abschlägig oder humoristisch auf ihre Frage zu antworten, wäre nicht
gerade schwer. Offen gesagt, muß ich mich darüber wundern, daß solche Auf¬
gaben den Schülern eines russischen Gymnasiums gestellt werden. Doch ich
will Ihren Sohn nicht beleidigen und fasse daher in Kürze folgendes zusammen:
Ich bin vorwiegend Realist und interessire mich vor allem für die lebendige
Wahrheit der menschlichen Physiognomie. Gegen alle übernatürlichen Dinge
verhalte ich mich gleichgiltig, glaube weder an irgendein System noch an etwas
Absolutes, liebe die Freiheit über alles und bin, soweit ich das beurteilen kann,
fiir Poesie empfänglich. Alle wahren Interessen der Menschheit liegen mir am
Herzen, Slawvphilentum und Orthodoxie sind mir fremd."

Man hat Turgenjew, namentlich Vonseiten der deutschen Kritik, einen scharf
ausgeprägten Pessimismus nachgesagt. In der That herrscht in den meisten
seiner Dichtungen eine düstere Stimmung vor, die jene Ansicht zu bestätigen
scheint. Aber dieser scheinbare Pessimismus kommt teils auf Rechnung der
realistischen Kunstrichtung, welcher der Dichter huldigt, teils hat er in der national-
russischen Lebensauffassung, in welcher Turgenjews Geistesleben doch immer
wurzelt, seinen Grund. Aus den Briefen blickt uns fast überall, trotz lite¬
rarischer Ärgerlichkeiten, persönlicher Kränkungen und körperlicher Leiden, das
wohlwollende, mild lächelnde Antlitz des Mannes entgegen, der von der Welt
nicht mehr verlangt, als sie ihm bietet. "Ich zähle jetzt vierundsechzig Jahre,
sagt er kurz vor seinein Tode. Mit meinem Leben war ich zufrieden; jetzt
muß ich auch wissen, was mir ansteht." Bisweilen quälte ihn der Gedanke,
daß er seine Jugend schlecht benutzt habe. "Wenn ich an meine Jugend denke,
schreibt er als Greis an Grigorowitsch, dann habe ich jedesmal einen bittern
Nachgeschmack ans der Zunge. Es scheint mir immer, daß ich sie schlecht benutzt
habe. Aber vielleicht war ich eben so angelegt, daß ich sie nicht besser benutzen
konnte." Eine düstre Nirwana-Stimmung herrscht auch in einem Auszüge aus
seinem Tagebuch, den er seinem Freunde Polvnski mitteilt: "17. 3. 77. Mitter¬
nacht. Ich sitze wieder hinter meinem Schreibpult... in meiner Seele ists
finsterer als draußen in der finstern Nacht. Das Grab hat's eilig, mich zu


Iwan Turgenjew in seinen Briefen.

und das menschliche Herz, und außerdem wirklich große Schriftsteller. Ich bin
nur der Dichter einer Übergangsepoche und schreibe nur fiir Leute, die sich selbst
im Übergangsstadium befinden." An DruZinin schreibt er neidlos über den
aufstrebenden Leon Tolstoj: „Tolstoj wird immer gediegener, liebenswürdiger
und klarer. Ich freue mich von Herzen darüber. Sobald dieser junge Most
ausgegährt hat, wird ein der Götter würdiger Trank daraus werden."

Eine anziehende Selbftcharaktcristik des Dichters finden wir in einem Briefe
an Madame Miljutiu, deren Sohn von seinem Lehrer das merkwürdige Auf¬
satzthema erhalten hatte: „Turgenjews Weltanschauung, nach seinen Dichtungen."
Madame Miljutin fragte, halb im Scherz, bei Turgenjew an, ob er nicht selbst
über diesen Punkt etwas zu sagen Hütte, und Iwan Sergejewitsch schreibt darauf¬
hin: „Abschlägig oder humoristisch auf ihre Frage zu antworten, wäre nicht
gerade schwer. Offen gesagt, muß ich mich darüber wundern, daß solche Auf¬
gaben den Schülern eines russischen Gymnasiums gestellt werden. Doch ich
will Ihren Sohn nicht beleidigen und fasse daher in Kürze folgendes zusammen:
Ich bin vorwiegend Realist und interessire mich vor allem für die lebendige
Wahrheit der menschlichen Physiognomie. Gegen alle übernatürlichen Dinge
verhalte ich mich gleichgiltig, glaube weder an irgendein System noch an etwas
Absolutes, liebe die Freiheit über alles und bin, soweit ich das beurteilen kann,
fiir Poesie empfänglich. Alle wahren Interessen der Menschheit liegen mir am
Herzen, Slawvphilentum und Orthodoxie sind mir fremd."

Man hat Turgenjew, namentlich Vonseiten der deutschen Kritik, einen scharf
ausgeprägten Pessimismus nachgesagt. In der That herrscht in den meisten
seiner Dichtungen eine düstere Stimmung vor, die jene Ansicht zu bestätigen
scheint. Aber dieser scheinbare Pessimismus kommt teils auf Rechnung der
realistischen Kunstrichtung, welcher der Dichter huldigt, teils hat er in der national-
russischen Lebensauffassung, in welcher Turgenjews Geistesleben doch immer
wurzelt, seinen Grund. Aus den Briefen blickt uns fast überall, trotz lite¬
rarischer Ärgerlichkeiten, persönlicher Kränkungen und körperlicher Leiden, das
wohlwollende, mild lächelnde Antlitz des Mannes entgegen, der von der Welt
nicht mehr verlangt, als sie ihm bietet. „Ich zähle jetzt vierundsechzig Jahre,
sagt er kurz vor seinein Tode. Mit meinem Leben war ich zufrieden; jetzt
muß ich auch wissen, was mir ansteht." Bisweilen quälte ihn der Gedanke,
daß er seine Jugend schlecht benutzt habe. „Wenn ich an meine Jugend denke,
schreibt er als Greis an Grigorowitsch, dann habe ich jedesmal einen bittern
Nachgeschmack ans der Zunge. Es scheint mir immer, daß ich sie schlecht benutzt
habe. Aber vielleicht war ich eben so angelegt, daß ich sie nicht besser benutzen
konnte." Eine düstre Nirwana-Stimmung herrscht auch in einem Auszüge aus
seinem Tagebuch, den er seinem Freunde Polvnski mitteilt: „17. 3. 77. Mitter¬
nacht. Ich sitze wieder hinter meinem Schreibpult... in meiner Seele ists
finsterer als draußen in der finstern Nacht. Das Grab hat's eilig, mich zu


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[0365] Iwan Turgenjew in seinen Briefen. und das menschliche Herz, und außerdem wirklich große Schriftsteller. Ich bin nur der Dichter einer Übergangsepoche und schreibe nur fiir Leute, die sich selbst im Übergangsstadium befinden." An DruZinin schreibt er neidlos über den aufstrebenden Leon Tolstoj: „Tolstoj wird immer gediegener, liebenswürdiger und klarer. Ich freue mich von Herzen darüber. Sobald dieser junge Most ausgegährt hat, wird ein der Götter würdiger Trank daraus werden." Eine anziehende Selbftcharaktcristik des Dichters finden wir in einem Briefe an Madame Miljutiu, deren Sohn von seinem Lehrer das merkwürdige Auf¬ satzthema erhalten hatte: „Turgenjews Weltanschauung, nach seinen Dichtungen." Madame Miljutin fragte, halb im Scherz, bei Turgenjew an, ob er nicht selbst über diesen Punkt etwas zu sagen Hütte, und Iwan Sergejewitsch schreibt darauf¬ hin: „Abschlägig oder humoristisch auf ihre Frage zu antworten, wäre nicht gerade schwer. Offen gesagt, muß ich mich darüber wundern, daß solche Auf¬ gaben den Schülern eines russischen Gymnasiums gestellt werden. Doch ich will Ihren Sohn nicht beleidigen und fasse daher in Kürze folgendes zusammen: Ich bin vorwiegend Realist und interessire mich vor allem für die lebendige Wahrheit der menschlichen Physiognomie. Gegen alle übernatürlichen Dinge verhalte ich mich gleichgiltig, glaube weder an irgendein System noch an etwas Absolutes, liebe die Freiheit über alles und bin, soweit ich das beurteilen kann, fiir Poesie empfänglich. Alle wahren Interessen der Menschheit liegen mir am Herzen, Slawvphilentum und Orthodoxie sind mir fremd." Man hat Turgenjew, namentlich Vonseiten der deutschen Kritik, einen scharf ausgeprägten Pessimismus nachgesagt. In der That herrscht in den meisten seiner Dichtungen eine düstere Stimmung vor, die jene Ansicht zu bestätigen scheint. Aber dieser scheinbare Pessimismus kommt teils auf Rechnung der realistischen Kunstrichtung, welcher der Dichter huldigt, teils hat er in der national- russischen Lebensauffassung, in welcher Turgenjews Geistesleben doch immer wurzelt, seinen Grund. Aus den Briefen blickt uns fast überall, trotz lite¬ rarischer Ärgerlichkeiten, persönlicher Kränkungen und körperlicher Leiden, das wohlwollende, mild lächelnde Antlitz des Mannes entgegen, der von der Welt nicht mehr verlangt, als sie ihm bietet. „Ich zähle jetzt vierundsechzig Jahre, sagt er kurz vor seinein Tode. Mit meinem Leben war ich zufrieden; jetzt muß ich auch wissen, was mir ansteht." Bisweilen quälte ihn der Gedanke, daß er seine Jugend schlecht benutzt habe. „Wenn ich an meine Jugend denke, schreibt er als Greis an Grigorowitsch, dann habe ich jedesmal einen bittern Nachgeschmack ans der Zunge. Es scheint mir immer, daß ich sie schlecht benutzt habe. Aber vielleicht war ich eben so angelegt, daß ich sie nicht besser benutzen konnte." Eine düstre Nirwana-Stimmung herrscht auch in einem Auszüge aus seinem Tagebuch, den er seinem Freunde Polvnski mitteilt: „17. 3. 77. Mitter¬ nacht. Ich sitze wieder hinter meinem Schreibpult... in meiner Seele ists finsterer als draußen in der finstern Nacht. Das Grab hat's eilig, mich zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/365>, abgerufen am 07.01.2025.