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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Iwan Turgenjew in seinen Briefen.

in der That den armen Teufel, der mit seinem Herrn in arge Zwistigkeiten
geraten war, für 800 Rubel. Er gab ihm ohne weiteres den Freibrief, Stepan
aber, der sich als ausgezeichneter Koch erwies, bat ihn, den Freibrief in seineu
Schreibtisch zu legen und ihn in Dienste zu nehmen. Seither blieb Stepan
Turgenjews Koch, so oft dieser in Petersburg verweilte. Verließ er die Haupt¬
stadt, so nahm Stepan eine Stellung "auf tägliche Kündigung" in einem der
vornehmen Klubhäuser Petersburgs an, wo man seine Kunst sehr hoch schätzte.
Sobald jedoch Turgenjew in Petersburg ankam, war Stepan sogleich wieder
zur Stelle, um seine Dienste anzubieten. Einmal schrieb Turgenjew an seine
Freunde, Stepan sollte eine dauernde Stellung im englischen Klub, die ihm
offerirt wurde, annehmen, da er voraussichtlich nicht so bald nach Nußland
kommen würde. "Und wenn er trotzdem unverhofft ankommt, versetzte Stepan,
was dann? Nein nein, er allein soll mein Herr bleiben, ich will seinen Dienst
mit keinem andern vertauschen. Nagt er doch, wenn er den Newski-Prospekt
entlang geht, um eiuen ganzen Kopf über alle andern hinweg."

Überall tritt uns aus den berichteten Zügen Turgenjews Charakter von
der liebenswürdigsten Seite entgegen. Diese Liebenswürdigkeit erhielt durch die
imponirende Ruhe, die im ganzen Wesen des Dichters lag, eine gewisse Weihe.
Es ist viel von Goethes Art in Turgenjews Natur -- dieser wie jener der
Künstler durch und durch, der Unparteiische, der Olympier. Ihre dichterischen
Individualitäten freilich erscheine!: auf den ersten Blick sehr verschiedenartig, und
ohne Zweifel ist der Deutsche an produktiver Kraft höher zu schätzen. Aber
der reife Goethe und der reife Turgenjew haben in ihrem Wesen soviel Ver¬
wandtes, als die Verschiedenheit der Nationalität nur irgend zuläßt. Jeden¬
falls hat der sarmatische Stamm kaum eine zweite so harmonische Erscheinung
hervorgebracht wie Turgenjew.

In feiner Jugend war Turgenjew, wie Goethe, Enthusiast. "Als ich noch
jung war, schreibt er an deu Grafen Leon Tolstvj, wirkten auf mich nur enthu¬
siastische Naturen." Aber die Klärung seines geistigen Wesens ging schnell
von statten, überraschend schnell für einen Russen der uikolaitischeu Zeit. Manche
interessante Äußerung thut Turgenjew selber in den "Briefen" über seine geistige
Individualität. "Das Streben nach Parteilosigkeit und ganzer Wahrheit, schreibt
er an den Schriftsteller DruÄuiu, ist eine von den wenigen guten Eigenschaften,
die mir die Natur verliehen hat und für die ich ihr aufrichtig Dank weiß."
Von seiner Bescheidenheit zeugt eine Stelle aus einem Brief an deu genialen,
um etwa zehn Jahre jüngern Leon Tolstvj, den Turgenjew als Dichter weit
über sich selber stellte. "Meine Dichtungen, schreibt er an den jünger" Freund,
haben vielleicht einen gewissen Einfluß auf Sie geübt, so lange Ihr eignes
Talent noch nicht selbständig zum Durchbruch gekommen war. Jetzt können
Sie von mir nichts mehr lernen -- Sie müssen jetzt meine Manier, meine
Fehler und Unvollkommenheiten kritisch sondiren. Studiren Sie den Menschen


Iwan Turgenjew in seinen Briefen.

in der That den armen Teufel, der mit seinem Herrn in arge Zwistigkeiten
geraten war, für 800 Rubel. Er gab ihm ohne weiteres den Freibrief, Stepan
aber, der sich als ausgezeichneter Koch erwies, bat ihn, den Freibrief in seineu
Schreibtisch zu legen und ihn in Dienste zu nehmen. Seither blieb Stepan
Turgenjews Koch, so oft dieser in Petersburg verweilte. Verließ er die Haupt¬
stadt, so nahm Stepan eine Stellung „auf tägliche Kündigung" in einem der
vornehmen Klubhäuser Petersburgs an, wo man seine Kunst sehr hoch schätzte.
Sobald jedoch Turgenjew in Petersburg ankam, war Stepan sogleich wieder
zur Stelle, um seine Dienste anzubieten. Einmal schrieb Turgenjew an seine
Freunde, Stepan sollte eine dauernde Stellung im englischen Klub, die ihm
offerirt wurde, annehmen, da er voraussichtlich nicht so bald nach Nußland
kommen würde. „Und wenn er trotzdem unverhofft ankommt, versetzte Stepan,
was dann? Nein nein, er allein soll mein Herr bleiben, ich will seinen Dienst
mit keinem andern vertauschen. Nagt er doch, wenn er den Newski-Prospekt
entlang geht, um eiuen ganzen Kopf über alle andern hinweg."

Überall tritt uns aus den berichteten Zügen Turgenjews Charakter von
der liebenswürdigsten Seite entgegen. Diese Liebenswürdigkeit erhielt durch die
imponirende Ruhe, die im ganzen Wesen des Dichters lag, eine gewisse Weihe.
Es ist viel von Goethes Art in Turgenjews Natur — dieser wie jener der
Künstler durch und durch, der Unparteiische, der Olympier. Ihre dichterischen
Individualitäten freilich erscheine!: auf den ersten Blick sehr verschiedenartig, und
ohne Zweifel ist der Deutsche an produktiver Kraft höher zu schätzen. Aber
der reife Goethe und der reife Turgenjew haben in ihrem Wesen soviel Ver¬
wandtes, als die Verschiedenheit der Nationalität nur irgend zuläßt. Jeden¬
falls hat der sarmatische Stamm kaum eine zweite so harmonische Erscheinung
hervorgebracht wie Turgenjew.

In feiner Jugend war Turgenjew, wie Goethe, Enthusiast. „Als ich noch
jung war, schreibt er an deu Grafen Leon Tolstvj, wirkten auf mich nur enthu¬
siastische Naturen." Aber die Klärung seines geistigen Wesens ging schnell
von statten, überraschend schnell für einen Russen der uikolaitischeu Zeit. Manche
interessante Äußerung thut Turgenjew selber in den „Briefen" über seine geistige
Individualität. „Das Streben nach Parteilosigkeit und ganzer Wahrheit, schreibt
er an den Schriftsteller DruÄuiu, ist eine von den wenigen guten Eigenschaften,
die mir die Natur verliehen hat und für die ich ihr aufrichtig Dank weiß."
Von seiner Bescheidenheit zeugt eine Stelle aus einem Brief an deu genialen,
um etwa zehn Jahre jüngern Leon Tolstvj, den Turgenjew als Dichter weit
über sich selber stellte. „Meine Dichtungen, schreibt er an den jünger» Freund,
haben vielleicht einen gewissen Einfluß auf Sie geübt, so lange Ihr eignes
Talent noch nicht selbständig zum Durchbruch gekommen war. Jetzt können
Sie von mir nichts mehr lernen — Sie müssen jetzt meine Manier, meine
Fehler und Unvollkommenheiten kritisch sondiren. Studiren Sie den Menschen


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[0364] Iwan Turgenjew in seinen Briefen. in der That den armen Teufel, der mit seinem Herrn in arge Zwistigkeiten geraten war, für 800 Rubel. Er gab ihm ohne weiteres den Freibrief, Stepan aber, der sich als ausgezeichneter Koch erwies, bat ihn, den Freibrief in seineu Schreibtisch zu legen und ihn in Dienste zu nehmen. Seither blieb Stepan Turgenjews Koch, so oft dieser in Petersburg verweilte. Verließ er die Haupt¬ stadt, so nahm Stepan eine Stellung „auf tägliche Kündigung" in einem der vornehmen Klubhäuser Petersburgs an, wo man seine Kunst sehr hoch schätzte. Sobald jedoch Turgenjew in Petersburg ankam, war Stepan sogleich wieder zur Stelle, um seine Dienste anzubieten. Einmal schrieb Turgenjew an seine Freunde, Stepan sollte eine dauernde Stellung im englischen Klub, die ihm offerirt wurde, annehmen, da er voraussichtlich nicht so bald nach Nußland kommen würde. „Und wenn er trotzdem unverhofft ankommt, versetzte Stepan, was dann? Nein nein, er allein soll mein Herr bleiben, ich will seinen Dienst mit keinem andern vertauschen. Nagt er doch, wenn er den Newski-Prospekt entlang geht, um eiuen ganzen Kopf über alle andern hinweg." Überall tritt uns aus den berichteten Zügen Turgenjews Charakter von der liebenswürdigsten Seite entgegen. Diese Liebenswürdigkeit erhielt durch die imponirende Ruhe, die im ganzen Wesen des Dichters lag, eine gewisse Weihe. Es ist viel von Goethes Art in Turgenjews Natur — dieser wie jener der Künstler durch und durch, der Unparteiische, der Olympier. Ihre dichterischen Individualitäten freilich erscheine!: auf den ersten Blick sehr verschiedenartig, und ohne Zweifel ist der Deutsche an produktiver Kraft höher zu schätzen. Aber der reife Goethe und der reife Turgenjew haben in ihrem Wesen soviel Ver¬ wandtes, als die Verschiedenheit der Nationalität nur irgend zuläßt. Jeden¬ falls hat der sarmatische Stamm kaum eine zweite so harmonische Erscheinung hervorgebracht wie Turgenjew. In feiner Jugend war Turgenjew, wie Goethe, Enthusiast. „Als ich noch jung war, schreibt er an deu Grafen Leon Tolstvj, wirkten auf mich nur enthu¬ siastische Naturen." Aber die Klärung seines geistigen Wesens ging schnell von statten, überraschend schnell für einen Russen der uikolaitischeu Zeit. Manche interessante Äußerung thut Turgenjew selber in den „Briefen" über seine geistige Individualität. „Das Streben nach Parteilosigkeit und ganzer Wahrheit, schreibt er an den Schriftsteller DruÄuiu, ist eine von den wenigen guten Eigenschaften, die mir die Natur verliehen hat und für die ich ihr aufrichtig Dank weiß." Von seiner Bescheidenheit zeugt eine Stelle aus einem Brief an deu genialen, um etwa zehn Jahre jüngern Leon Tolstvj, den Turgenjew als Dichter weit über sich selber stellte. „Meine Dichtungen, schreibt er an den jünger» Freund, haben vielleicht einen gewissen Einfluß auf Sie geübt, so lange Ihr eignes Talent noch nicht selbständig zum Durchbruch gekommen war. Jetzt können Sie von mir nichts mehr lernen — Sie müssen jetzt meine Manier, meine Fehler und Unvollkommenheiten kritisch sondiren. Studiren Sie den Menschen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/364>, abgerufen am 22.07.2024.