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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Iwan Turgenjew in seinen Briefen.

zweiten Grades waren. Turgenjew selbst war für diese "Jugendsünden," wie
er sie nannte, durchaus nicht eingenommen und protestirte entschieden gegen
ihre Aufnahme in die Gesamtausgabe seiner Werke. Er erkannte das Eigen¬
artige seiner Muse sehr genau. "Es ist mir nicht angenehm, schreibt er 1875
an seinen russischen Biographen Wengervw, daß Sie in Ihrem Essay über
mich meinen Versen soviel Beachtung schenken. Meine Abneigung gegen die¬
selben erklärt sich schon durch das alte Dichterwort:


. . . osM poi)t>>s
Avr al, non Iwminss . . .

Wie die russische Literatur den Prosaiker Turgenjew gegenwärtig kennt, ist er
eine harmonisch abgeschlossene, in seinem ganzen Wesen gleichartige Erscheinung.
Das subjektive Element, das zumeist in poetischen Jugendwerken hervortritt und
der Neugier des Lesers wie der Forschung des Biographen willkommene An¬
haltepunkte giebt, fehlt bei Turgenjew. Er hatte, als er seine Feder der no¬
vellistischen Dichtung widmete, mit seinem eignen Ich und dessen Wallungen
abgeschlossen. Sein ruhiger, vornehmer Charakter bewahrte ihn vor Übereilungen
und Verwicklungen, die bei dem hochgehenden Wellenschlage der russischen Sturm¬
und Drangperiode hätten verhängnisvoll werden können. So konnte er mit Muße
seinem künstlerischen Schaffen leben, zumal da er der gemeinen Sorgen des
Daseins überhoben war und im häuslichen Kreise feinfühliger, künstlerisch ge¬
bildeter Menschen das Glück seines Herzens gefunden hatte.

Turgenjews Zusammenleben mit der Familie Viardot ist für sich ein Stück
Poesie, das, des Hergebrachten spottend, in seiner Art fast einzig dasteht. Der
junge Poet lernte Frau Viardot-Garcia im Jahre 1846 kennen, als sie, da¬
mals vierundzwanzig Jahre alt, auf einer Tournee durch die europäische" Haupt¬
städte das kunstliebende Publikum durch ihre herrliche Stimme entzückte. Diese
Bekanntschaft war für Turgenjews Zukunft entscheidend. Durch den doppelten
Zauber von Kunst und Frauenschönheit ward der junge Sarmate mit unlös¬
lichen Banden an die westeuropäische Kultur gefesselt. Er hatte einen Hafen
gefunden, in dem er ruhig vor Anker liegen konnte, nährend wilde Stürme
über seine Heimat hinbrausten und so manchen Gleichstrebenden auf Klippen
trieben.

Verschiedne Mitteilungen in den "Briefen" beleuchten Turgenjews Be¬
ziehungen zur Familie Viardot. Im Jahre 1856, nachdem er nach mehrjäh¬
rigem Aufenthalt in Rußland sich wieder gen Westen gewandt hat, spricht er
gegen den Grafen Leon Tolstoj von der Wiederanknüpfung "alter, unzerrei߬
barer Beziehungen" zu einer Pariser Familie. Madame Viardot war damals
Mitglied des ^IMtro l^riauö in Paris und ihr Haus der Mittelpunkt einer
Gruppe von Verehrern klassischer Musik. Auch erteilte sie Gesangunterricht an
aufstrebende Talente und komponirte Romanzen, Opern und Operetten. Tur-


Iwan Turgenjew in seinen Briefen.

zweiten Grades waren. Turgenjew selbst war für diese „Jugendsünden," wie
er sie nannte, durchaus nicht eingenommen und protestirte entschieden gegen
ihre Aufnahme in die Gesamtausgabe seiner Werke. Er erkannte das Eigen¬
artige seiner Muse sehr genau. „Es ist mir nicht angenehm, schreibt er 1875
an seinen russischen Biographen Wengervw, daß Sie in Ihrem Essay über
mich meinen Versen soviel Beachtung schenken. Meine Abneigung gegen die¬
selben erklärt sich schon durch das alte Dichterwort:


. . . osM poi)t>>s
Avr al, non Iwminss . . .

Wie die russische Literatur den Prosaiker Turgenjew gegenwärtig kennt, ist er
eine harmonisch abgeschlossene, in seinem ganzen Wesen gleichartige Erscheinung.
Das subjektive Element, das zumeist in poetischen Jugendwerken hervortritt und
der Neugier des Lesers wie der Forschung des Biographen willkommene An¬
haltepunkte giebt, fehlt bei Turgenjew. Er hatte, als er seine Feder der no¬
vellistischen Dichtung widmete, mit seinem eignen Ich und dessen Wallungen
abgeschlossen. Sein ruhiger, vornehmer Charakter bewahrte ihn vor Übereilungen
und Verwicklungen, die bei dem hochgehenden Wellenschlage der russischen Sturm¬
und Drangperiode hätten verhängnisvoll werden können. So konnte er mit Muße
seinem künstlerischen Schaffen leben, zumal da er der gemeinen Sorgen des
Daseins überhoben war und im häuslichen Kreise feinfühliger, künstlerisch ge¬
bildeter Menschen das Glück seines Herzens gefunden hatte.

Turgenjews Zusammenleben mit der Familie Viardot ist für sich ein Stück
Poesie, das, des Hergebrachten spottend, in seiner Art fast einzig dasteht. Der
junge Poet lernte Frau Viardot-Garcia im Jahre 1846 kennen, als sie, da¬
mals vierundzwanzig Jahre alt, auf einer Tournee durch die europäische» Haupt¬
städte das kunstliebende Publikum durch ihre herrliche Stimme entzückte. Diese
Bekanntschaft war für Turgenjews Zukunft entscheidend. Durch den doppelten
Zauber von Kunst und Frauenschönheit ward der junge Sarmate mit unlös¬
lichen Banden an die westeuropäische Kultur gefesselt. Er hatte einen Hafen
gefunden, in dem er ruhig vor Anker liegen konnte, nährend wilde Stürme
über seine Heimat hinbrausten und so manchen Gleichstrebenden auf Klippen
trieben.

Verschiedne Mitteilungen in den „Briefen" beleuchten Turgenjews Be¬
ziehungen zur Familie Viardot. Im Jahre 1856, nachdem er nach mehrjäh¬
rigem Aufenthalt in Rußland sich wieder gen Westen gewandt hat, spricht er
gegen den Grafen Leon Tolstoj von der Wiederanknüpfung „alter, unzerrei߬
barer Beziehungen" zu einer Pariser Familie. Madame Viardot war damals
Mitglied des ^IMtro l^riauö in Paris und ihr Haus der Mittelpunkt einer
Gruppe von Verehrern klassischer Musik. Auch erteilte sie Gesangunterricht an
aufstrebende Talente und komponirte Romanzen, Opern und Operetten. Tur-


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[0354] Iwan Turgenjew in seinen Briefen. zweiten Grades waren. Turgenjew selbst war für diese „Jugendsünden," wie er sie nannte, durchaus nicht eingenommen und protestirte entschieden gegen ihre Aufnahme in die Gesamtausgabe seiner Werke. Er erkannte das Eigen¬ artige seiner Muse sehr genau. „Es ist mir nicht angenehm, schreibt er 1875 an seinen russischen Biographen Wengervw, daß Sie in Ihrem Essay über mich meinen Versen soviel Beachtung schenken. Meine Abneigung gegen die¬ selben erklärt sich schon durch das alte Dichterwort: . . . osM poi)t>>s Avr al, non Iwminss . . . Wie die russische Literatur den Prosaiker Turgenjew gegenwärtig kennt, ist er eine harmonisch abgeschlossene, in seinem ganzen Wesen gleichartige Erscheinung. Das subjektive Element, das zumeist in poetischen Jugendwerken hervortritt und der Neugier des Lesers wie der Forschung des Biographen willkommene An¬ haltepunkte giebt, fehlt bei Turgenjew. Er hatte, als er seine Feder der no¬ vellistischen Dichtung widmete, mit seinem eignen Ich und dessen Wallungen abgeschlossen. Sein ruhiger, vornehmer Charakter bewahrte ihn vor Übereilungen und Verwicklungen, die bei dem hochgehenden Wellenschlage der russischen Sturm¬ und Drangperiode hätten verhängnisvoll werden können. So konnte er mit Muße seinem künstlerischen Schaffen leben, zumal da er der gemeinen Sorgen des Daseins überhoben war und im häuslichen Kreise feinfühliger, künstlerisch ge¬ bildeter Menschen das Glück seines Herzens gefunden hatte. Turgenjews Zusammenleben mit der Familie Viardot ist für sich ein Stück Poesie, das, des Hergebrachten spottend, in seiner Art fast einzig dasteht. Der junge Poet lernte Frau Viardot-Garcia im Jahre 1846 kennen, als sie, da¬ mals vierundzwanzig Jahre alt, auf einer Tournee durch die europäische» Haupt¬ städte das kunstliebende Publikum durch ihre herrliche Stimme entzückte. Diese Bekanntschaft war für Turgenjews Zukunft entscheidend. Durch den doppelten Zauber von Kunst und Frauenschönheit ward der junge Sarmate mit unlös¬ lichen Banden an die westeuropäische Kultur gefesselt. Er hatte einen Hafen gefunden, in dem er ruhig vor Anker liegen konnte, nährend wilde Stürme über seine Heimat hinbrausten und so manchen Gleichstrebenden auf Klippen trieben. Verschiedne Mitteilungen in den „Briefen" beleuchten Turgenjews Be¬ ziehungen zur Familie Viardot. Im Jahre 1856, nachdem er nach mehrjäh¬ rigem Aufenthalt in Rußland sich wieder gen Westen gewandt hat, spricht er gegen den Grafen Leon Tolstoj von der Wiederanknüpfung „alter, unzerrei߬ barer Beziehungen" zu einer Pariser Familie. Madame Viardot war damals Mitglied des ^IMtro l^riauö in Paris und ihr Haus der Mittelpunkt einer Gruppe von Verehrern klassischer Musik. Auch erteilte sie Gesangunterricht an aufstrebende Talente und komponirte Romanzen, Opern und Operetten. Tur-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/354>, abgerufen am 22.07.2024.