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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Iwan Turgenjew in seinen Briefen.

zurückzukehren. Paris, London, Baden, Berlin, Petersburg, Moskau -- das
sind die Stationen, die beständig auf seiner Lebensroute wiederkehren. Im
Auslande lebend, blieb er doch beständig mit der Heimat in regem Verkehr,
verfolgte mit größter Aufmerksamkeit alle politischen, sozialen und literarischen
Vorgänge in seinem Vaterlande und stand fast ununterbrochen mit seinen russi¬
schen Freunden in schriftlichen Meinungsaustausch. Dieses beständige Hin¬
undher mußte einen reichen Niederschlag von Korrespondenzen zur Folge haben,
zumal da Turgenjew nicht, wie mancher andre Große des Geistes, mit seinen
Briefen geizte. Die Herausgeber des vorliegenden, 664 Seiten starken Bandes
bemerken selbst im Vorwort, daß die von ihnen veröffentlichten -- an 65 ver-
schiedne Adressen gerichteten -- 488 Briefe aus Turgenjews Feder nur einen
Bruchteil seiner gesamten Korrespondenz bilden. Daß alles ohne Ausnahme in
diesem stattlichen Bande von hervorragendem Interesse sei, läßt sich nicht be¬
haupten. Geschäftskorrespondenzen, gemütlich breite Konversationsbriefe, Ge¬
legenheitsschreiben und Krankenberichte finden sich in ziemlicher Menge neben
wertvollen Material. Pikcmterien, die sonst mit Vorliebe in dein Briefwechsel
von Dichtern und Künstlern aufgesucht werden, fehlen fast ganz. Dagegen
finden wir manchen biographischen Zug von hohem Interesse, zahlreiche inter¬
essante Daten zur persönlichen Charakteristik Turgenjews, zur Beleuchtung seiner
schriftstellerischen Thätigkeit, seiner künstlerischen Ansichten und vor allem einen
wertvollen Schatz von Äußerungen über die merkwürdige Entwicklung, die Ru߬
land in den letzten drei Jahrzehnten durchgemacht und an der Turgenjew per¬
sönlich in so entschiedener Weise mitgearbeitet hat. Inhaltsreich sind nament¬
lich die Briefe an die russischen Romanciers Dostojewski und Graf Leon Tolstoj,
an den liberalen Exminifter Miljutin und seine Frau, an den genialen Satiriker
Saltykow - Schtschedrin und endlich an eine Frau F., die Beziehungen zu den
russischen Revolutionären hatte und mit Turgenjew über die Bestrebungen der¬
selben in Meinungsaustausch stand. Turgenjews Korrespondenz mit dem rus¬
sischen Lyriker Polonski tritt nicht so sehr dem Inhalt als dem Umfang nach
hervor; nicht weniger als 133 der veröffentlichten Briefe sind an Polonski und
weitere 60 an dessen Frau gerichtet. An sich ist dieser dreißig Jahre lang
fortgesetzte, rein freundschaftliche Briefwechsel, bei dem Turgenjew weit mehr gab
als er empfangen konnte, ein sprechender Beweis für das edle, sympathische
Gemüt des sarmatischen Poeten.

Turgenjew war, als er mit seinen "Skizzen aus dem Tagebuch eines
Jägers" den ersten durchschlagenden Erfolg davontrug, eine fertige Erscheinung,
ein Mann "im kräftigsten Alter." Schon diese Skizzen tragen den Charakter
künstlerischer Reife und objektiver Ruhe, der alle seine spätern Prosadichtungen
auszeichnet. Auch in seinem Innern hat es einmal gegährt; im Genre Pusch¬
kins und Lermontows hat er eine Anzahl von Gedichten, Balladen und Epen
verfaßt, die zwar nicht ohne poetischen Wert, aber doch immer nur Produkte


Iwan Turgenjew in seinen Briefen.

zurückzukehren. Paris, London, Baden, Berlin, Petersburg, Moskau — das
sind die Stationen, die beständig auf seiner Lebensroute wiederkehren. Im
Auslande lebend, blieb er doch beständig mit der Heimat in regem Verkehr,
verfolgte mit größter Aufmerksamkeit alle politischen, sozialen und literarischen
Vorgänge in seinem Vaterlande und stand fast ununterbrochen mit seinen russi¬
schen Freunden in schriftlichen Meinungsaustausch. Dieses beständige Hin¬
undher mußte einen reichen Niederschlag von Korrespondenzen zur Folge haben,
zumal da Turgenjew nicht, wie mancher andre Große des Geistes, mit seinen
Briefen geizte. Die Herausgeber des vorliegenden, 664 Seiten starken Bandes
bemerken selbst im Vorwort, daß die von ihnen veröffentlichten — an 65 ver-
schiedne Adressen gerichteten — 488 Briefe aus Turgenjews Feder nur einen
Bruchteil seiner gesamten Korrespondenz bilden. Daß alles ohne Ausnahme in
diesem stattlichen Bande von hervorragendem Interesse sei, läßt sich nicht be¬
haupten. Geschäftskorrespondenzen, gemütlich breite Konversationsbriefe, Ge¬
legenheitsschreiben und Krankenberichte finden sich in ziemlicher Menge neben
wertvollen Material. Pikcmterien, die sonst mit Vorliebe in dein Briefwechsel
von Dichtern und Künstlern aufgesucht werden, fehlen fast ganz. Dagegen
finden wir manchen biographischen Zug von hohem Interesse, zahlreiche inter¬
essante Daten zur persönlichen Charakteristik Turgenjews, zur Beleuchtung seiner
schriftstellerischen Thätigkeit, seiner künstlerischen Ansichten und vor allem einen
wertvollen Schatz von Äußerungen über die merkwürdige Entwicklung, die Ru߬
land in den letzten drei Jahrzehnten durchgemacht und an der Turgenjew per¬
sönlich in so entschiedener Weise mitgearbeitet hat. Inhaltsreich sind nament¬
lich die Briefe an die russischen Romanciers Dostojewski und Graf Leon Tolstoj,
an den liberalen Exminifter Miljutin und seine Frau, an den genialen Satiriker
Saltykow - Schtschedrin und endlich an eine Frau F., die Beziehungen zu den
russischen Revolutionären hatte und mit Turgenjew über die Bestrebungen der¬
selben in Meinungsaustausch stand. Turgenjews Korrespondenz mit dem rus¬
sischen Lyriker Polonski tritt nicht so sehr dem Inhalt als dem Umfang nach
hervor; nicht weniger als 133 der veröffentlichten Briefe sind an Polonski und
weitere 60 an dessen Frau gerichtet. An sich ist dieser dreißig Jahre lang
fortgesetzte, rein freundschaftliche Briefwechsel, bei dem Turgenjew weit mehr gab
als er empfangen konnte, ein sprechender Beweis für das edle, sympathische
Gemüt des sarmatischen Poeten.

Turgenjew war, als er mit seinen „Skizzen aus dem Tagebuch eines
Jägers" den ersten durchschlagenden Erfolg davontrug, eine fertige Erscheinung,
ein Mann „im kräftigsten Alter." Schon diese Skizzen tragen den Charakter
künstlerischer Reife und objektiver Ruhe, der alle seine spätern Prosadichtungen
auszeichnet. Auch in seinem Innern hat es einmal gegährt; im Genre Pusch¬
kins und Lermontows hat er eine Anzahl von Gedichten, Balladen und Epen
verfaßt, die zwar nicht ohne poetischen Wert, aber doch immer nur Produkte


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[0353] Iwan Turgenjew in seinen Briefen. zurückzukehren. Paris, London, Baden, Berlin, Petersburg, Moskau — das sind die Stationen, die beständig auf seiner Lebensroute wiederkehren. Im Auslande lebend, blieb er doch beständig mit der Heimat in regem Verkehr, verfolgte mit größter Aufmerksamkeit alle politischen, sozialen und literarischen Vorgänge in seinem Vaterlande und stand fast ununterbrochen mit seinen russi¬ schen Freunden in schriftlichen Meinungsaustausch. Dieses beständige Hin¬ undher mußte einen reichen Niederschlag von Korrespondenzen zur Folge haben, zumal da Turgenjew nicht, wie mancher andre Große des Geistes, mit seinen Briefen geizte. Die Herausgeber des vorliegenden, 664 Seiten starken Bandes bemerken selbst im Vorwort, daß die von ihnen veröffentlichten — an 65 ver- schiedne Adressen gerichteten — 488 Briefe aus Turgenjews Feder nur einen Bruchteil seiner gesamten Korrespondenz bilden. Daß alles ohne Ausnahme in diesem stattlichen Bande von hervorragendem Interesse sei, läßt sich nicht be¬ haupten. Geschäftskorrespondenzen, gemütlich breite Konversationsbriefe, Ge¬ legenheitsschreiben und Krankenberichte finden sich in ziemlicher Menge neben wertvollen Material. Pikcmterien, die sonst mit Vorliebe in dein Briefwechsel von Dichtern und Künstlern aufgesucht werden, fehlen fast ganz. Dagegen finden wir manchen biographischen Zug von hohem Interesse, zahlreiche inter¬ essante Daten zur persönlichen Charakteristik Turgenjews, zur Beleuchtung seiner schriftstellerischen Thätigkeit, seiner künstlerischen Ansichten und vor allem einen wertvollen Schatz von Äußerungen über die merkwürdige Entwicklung, die Ru߬ land in den letzten drei Jahrzehnten durchgemacht und an der Turgenjew per¬ sönlich in so entschiedener Weise mitgearbeitet hat. Inhaltsreich sind nament¬ lich die Briefe an die russischen Romanciers Dostojewski und Graf Leon Tolstoj, an den liberalen Exminifter Miljutin und seine Frau, an den genialen Satiriker Saltykow - Schtschedrin und endlich an eine Frau F., die Beziehungen zu den russischen Revolutionären hatte und mit Turgenjew über die Bestrebungen der¬ selben in Meinungsaustausch stand. Turgenjews Korrespondenz mit dem rus¬ sischen Lyriker Polonski tritt nicht so sehr dem Inhalt als dem Umfang nach hervor; nicht weniger als 133 der veröffentlichten Briefe sind an Polonski und weitere 60 an dessen Frau gerichtet. An sich ist dieser dreißig Jahre lang fortgesetzte, rein freundschaftliche Briefwechsel, bei dem Turgenjew weit mehr gab als er empfangen konnte, ein sprechender Beweis für das edle, sympathische Gemüt des sarmatischen Poeten. Turgenjew war, als er mit seinen „Skizzen aus dem Tagebuch eines Jägers" den ersten durchschlagenden Erfolg davontrug, eine fertige Erscheinung, ein Mann „im kräftigsten Alter." Schon diese Skizzen tragen den Charakter künstlerischer Reife und objektiver Ruhe, der alle seine spätern Prosadichtungen auszeichnet. Auch in seinem Innern hat es einmal gegährt; im Genre Pusch¬ kins und Lermontows hat er eine Anzahl von Gedichten, Balladen und Epen verfaßt, die zwar nicht ohne poetischen Wert, aber doch immer nur Produkte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/353>, abgerufen am 25.08.2024.