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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Die Herren Mörder.

Obgleich also der gerügte Übelstand zum Teile mit dem von unsrer Gesetz¬
gebung angenommenen System der Beteiligung von Laien an der Rechtsprechung
zusammenhängt und ihm gründlich nur durch eine Änderung der Gesetzgebung
in dieser Richtung abgeholfen werden könnte, so ist doch eine Besserung auch
unter den bestehenden Verhältnissen schon dadurch zu erreichen, daß die Bernfs-
richter in ihren Urteilen sich strenger an den gesetzgeberischen Willen halten und
dadurch zu ihrem Teile dazu mitwirken, auch die Laien, soweit diese zum Recht¬
sprecher berufen sind, zu einer den bestehenden Gesetzen entsprechenden Urteils¬
thätigkeit anzuhalten. Aus diesen Gründen verdient die in der obenangeführten
Karrschen Broschüre enthaltene Warnung auch unsre volle Beachtung. Karr
macht darauf aufmerksam, daß es dieselbe Schule, dieselbe Partei, dieselbe Ko-
terie ist, die für Mörder und Brandstifter in die Schranken tritt, welche sich
bemühte, Robespierre, Danton, Fouqier-Tinville, Carrier, Marat u. s. w. wieder
zu Ehren zu bringen, für Schutzheilige und Vorbilder zu erklären, die Schreckens¬
herrschaft zuerst zu entschuldigen, dann zu rechtfertigen und endlich zu verherr¬
lichen, die permanente Guillotine, die Massenmorde in Lyon und Nantes zu
preisen. Er weist darauf hin, daß das Gift der durch diese Partei verbreiteten
absurden Thesen die Geister, insbesondre diejenigen der Geschworenen, in einer
Weise angesteckt hat, daß die ungeheuerlichste, beklagenswerteste Anarchie heut¬
zutage in der Rechtspflege herrscht, die größte Geißel, welche eine Nation treffen
kann. Die Advokaten sprechen, was ihnen verboten ist, gegen das Gesetz, an¬
statt dessen Anwendung zu diskutiren; Staatsanwalt und Vorsitzender lassen
sie ungestört gewähren; den Geschworenen wird verwirrender Weise die Frage
gestellt: "Ist der Angeklagte schuldig, den oder jenen getötet, vergiftet zu haben?"
statt der einfachen Frage: "Hat der Angeklagte den oder jenen getötet oder ver¬
giftet?" Der Verteidiger rührt sie durch sein vor ihnen aufgeführtes Jahr¬
marktsmelodrama, die Geschworenen finden infolge dessen den Angeklagten nicht
so schuldig, als mau ihn macht, und so lesen wir alle Tage in den Zeitungen:
"Der Mörder, überwältigt von unwiderleglicher Zeugenaussagen, bekannte sein
Verbrechen, aber dank der Beredsamkeit des berühmten Meisters Soundso haben
ihn die Geschworenen für nichtschnldig erklärt oder mildernde Umstände zu seinen
gunsten zugelassen." Dies führt notwendig und logisch zu dem Schluß: Wenn
die Advokaten so mächtig und die Geschworenen so schwach sind, so muß man
die Advokaten oder die Geschworenen beseitigen, und vielleicht beide.

Frau Hugues hatte nicht nur gestanden, sondern ausdrücklich bestätigt, daß sie
den Agenten Morin getötet habe, und zwar mit Vorbedacht und Überlegung, und
daß sie keine Rene fühle. Sie hatte ihn getötet, weil sie sich durch ihn für
verleumdet hielt und weil die Justiz in der Bestrafung dieses ihres Gegners
nach ihrer Ansicht nicht rasch genug vorging. Ob Morin in der That derjenige
war, von welchem die Verleumdungen der Frau Hugues herrührten, ist garnicht
erwiesen -- er selbst hat dies noch auf seinem Totenbette bestritten --, gleich-


Die Herren Mörder.

Obgleich also der gerügte Übelstand zum Teile mit dem von unsrer Gesetz¬
gebung angenommenen System der Beteiligung von Laien an der Rechtsprechung
zusammenhängt und ihm gründlich nur durch eine Änderung der Gesetzgebung
in dieser Richtung abgeholfen werden könnte, so ist doch eine Besserung auch
unter den bestehenden Verhältnissen schon dadurch zu erreichen, daß die Bernfs-
richter in ihren Urteilen sich strenger an den gesetzgeberischen Willen halten und
dadurch zu ihrem Teile dazu mitwirken, auch die Laien, soweit diese zum Recht¬
sprecher berufen sind, zu einer den bestehenden Gesetzen entsprechenden Urteils¬
thätigkeit anzuhalten. Aus diesen Gründen verdient die in der obenangeführten
Karrschen Broschüre enthaltene Warnung auch unsre volle Beachtung. Karr
macht darauf aufmerksam, daß es dieselbe Schule, dieselbe Partei, dieselbe Ko-
terie ist, die für Mörder und Brandstifter in die Schranken tritt, welche sich
bemühte, Robespierre, Danton, Fouqier-Tinville, Carrier, Marat u. s. w. wieder
zu Ehren zu bringen, für Schutzheilige und Vorbilder zu erklären, die Schreckens¬
herrschaft zuerst zu entschuldigen, dann zu rechtfertigen und endlich zu verherr¬
lichen, die permanente Guillotine, die Massenmorde in Lyon und Nantes zu
preisen. Er weist darauf hin, daß das Gift der durch diese Partei verbreiteten
absurden Thesen die Geister, insbesondre diejenigen der Geschworenen, in einer
Weise angesteckt hat, daß die ungeheuerlichste, beklagenswerteste Anarchie heut¬
zutage in der Rechtspflege herrscht, die größte Geißel, welche eine Nation treffen
kann. Die Advokaten sprechen, was ihnen verboten ist, gegen das Gesetz, an¬
statt dessen Anwendung zu diskutiren; Staatsanwalt und Vorsitzender lassen
sie ungestört gewähren; den Geschworenen wird verwirrender Weise die Frage
gestellt: „Ist der Angeklagte schuldig, den oder jenen getötet, vergiftet zu haben?"
statt der einfachen Frage: „Hat der Angeklagte den oder jenen getötet oder ver¬
giftet?" Der Verteidiger rührt sie durch sein vor ihnen aufgeführtes Jahr¬
marktsmelodrama, die Geschworenen finden infolge dessen den Angeklagten nicht
so schuldig, als mau ihn macht, und so lesen wir alle Tage in den Zeitungen:
„Der Mörder, überwältigt von unwiderleglicher Zeugenaussagen, bekannte sein
Verbrechen, aber dank der Beredsamkeit des berühmten Meisters Soundso haben
ihn die Geschworenen für nichtschnldig erklärt oder mildernde Umstände zu seinen
gunsten zugelassen." Dies führt notwendig und logisch zu dem Schluß: Wenn
die Advokaten so mächtig und die Geschworenen so schwach sind, so muß man
die Advokaten oder die Geschworenen beseitigen, und vielleicht beide.

Frau Hugues hatte nicht nur gestanden, sondern ausdrücklich bestätigt, daß sie
den Agenten Morin getötet habe, und zwar mit Vorbedacht und Überlegung, und
daß sie keine Rene fühle. Sie hatte ihn getötet, weil sie sich durch ihn für
verleumdet hielt und weil die Justiz in der Bestrafung dieses ihres Gegners
nach ihrer Ansicht nicht rasch genug vorging. Ob Morin in der That derjenige
war, von welchem die Verleumdungen der Frau Hugues herrührten, ist garnicht
erwiesen — er selbst hat dies noch auf seinem Totenbette bestritten —, gleich-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/339>, abgerufen am 22.07.2024.