Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Herren Mörder.

auf den Genuß der VerÜbung dieses Verbrechens zu verzichten. Es ist ein¬
leuchtend, daß das für eine gewisse Handlung angedrohte Übel von dem zu
dieser Handlung Geneigter vor Begehung derselben erwogen wird und deshalb
für seinen Entschluß mitbestimmend ist; denn wenn auch die Übelthäter in der
Regel hoffen, unentdeckt zu bleiben, so müssen sie sich doch mit Notwendigkeit
den gegenteiligen Fall als möglich vorstellen und hiernach bei ihrer Ent¬
schließung mit in Erwägung ziehen, ob sie das im Falle der Entdeckung sie
treffende Übel höher anschlagen, als die ihnen durch Begehung des Verbrechens
erwachsende Lust. Ist dieses Übel ein kleines, so wird sich naturgemäß der
Betreffende leichter zur Übernahme der Gefahr entschließen, als wenn das
drohende Übel ein größeres ist. Bei den mit Überlegung ausgeführten Hand¬
lungen liegt die Nichtigkeit dieser Schlußfolgerung auf der Hand, sie trifft aber
auch bei den im Affekte verübten Handlungen zu. Bei den letztem wird sie
allerdings im Augenblicke der That dem Thäter nicht zum Bewußtsein kommen,
wohl aber in der ganzen übrigen, der That vorangehenden Zeit. Wenn der
Thäter sich stets sagen muß: "Diese schwere Strafe habe ich zu erwarten,
wenn ich mich zu dieser That hinreißen lasse," so wird er mit Notwendigkeit
dazu bewogen werden, seine Leidenschaft fortdauernd zu zügeln und keinen solchen
Grad erreichen zu lassen, daß er sich durch sie zu der betreffenden That hin¬
reißen läßt.

Es ist nicht zu bestreiten, daß die Einrichtungen unsers Strafprozesses
die Erkennung zu niederer Strafen begünstigen: es sind dies in erster Linie
die Zulassung der Laien, insbesondre der Geschworenen, zur Rechtsprechung,
der durch den selteneren Zusammentritt der Schwurgerichte notwendig herbei¬
geführte längere Zeitablauf zwischen der That und deren Aburteilung mit seinen
unvermeidlichen Folgen der Abschwächung der Erinnerung der Beteiligten, die
Möglichkeit der Verteidigung, durch Anträge zu gunsten des Angeschuldigten,
namentlich durch Vorführung von oft ganz unerheblichen Entlastnngszeugen,
den Thatbestand, besonders für die Geschworenen, zu verdunkeln, und die Zu¬
weisung der Frage nach mildernden Umständen, eines bloßen Strafzumessuugs-
grundes, zur Beantwortung an die nnr zur Entscheidung der Schuldfrage be¬
rufenen Geschworenen. Daß die Schöffen und die Geschworenen im allgemeinen
zu milder Beurteilung, insbesondre zur Bejahung der Frage nach mildernden
Umständen geneigt sind, kann nicht zur Bekräftigung der Ansicht verwendet
werden, daß eben aus dieser Thatsache die allgemeine, einer milderen Beurtei¬
lung sich zuneigende Rechtsanschauung sich ergebe; denn die Laien werden in
der Regel im Gefühle ihrer Unsicherheit und der für ihre Kenntnisse und Er¬
fahrung zu schweren Verantwortlichkeit lieber zu milde urteilen, um nicht eine
zu strenge Entscheidung auszusprechen, sie werden eben aus diesem Grunde,
weil sie die Verantwortung scheuen, in der Regel eher einen geständigen als
einen leugnenden Verbrecher gebührend verurteilen, und dadurch bewirken, daß
oft der schwerer Verschuldete besser wegkommt als der weniger Schuldige.


Die Herren Mörder.

auf den Genuß der VerÜbung dieses Verbrechens zu verzichten. Es ist ein¬
leuchtend, daß das für eine gewisse Handlung angedrohte Übel von dem zu
dieser Handlung Geneigter vor Begehung derselben erwogen wird und deshalb
für seinen Entschluß mitbestimmend ist; denn wenn auch die Übelthäter in der
Regel hoffen, unentdeckt zu bleiben, so müssen sie sich doch mit Notwendigkeit
den gegenteiligen Fall als möglich vorstellen und hiernach bei ihrer Ent¬
schließung mit in Erwägung ziehen, ob sie das im Falle der Entdeckung sie
treffende Übel höher anschlagen, als die ihnen durch Begehung des Verbrechens
erwachsende Lust. Ist dieses Übel ein kleines, so wird sich naturgemäß der
Betreffende leichter zur Übernahme der Gefahr entschließen, als wenn das
drohende Übel ein größeres ist. Bei den mit Überlegung ausgeführten Hand¬
lungen liegt die Nichtigkeit dieser Schlußfolgerung auf der Hand, sie trifft aber
auch bei den im Affekte verübten Handlungen zu. Bei den letztem wird sie
allerdings im Augenblicke der That dem Thäter nicht zum Bewußtsein kommen,
wohl aber in der ganzen übrigen, der That vorangehenden Zeit. Wenn der
Thäter sich stets sagen muß: „Diese schwere Strafe habe ich zu erwarten,
wenn ich mich zu dieser That hinreißen lasse," so wird er mit Notwendigkeit
dazu bewogen werden, seine Leidenschaft fortdauernd zu zügeln und keinen solchen
Grad erreichen zu lassen, daß er sich durch sie zu der betreffenden That hin¬
reißen läßt.

Es ist nicht zu bestreiten, daß die Einrichtungen unsers Strafprozesses
die Erkennung zu niederer Strafen begünstigen: es sind dies in erster Linie
die Zulassung der Laien, insbesondre der Geschworenen, zur Rechtsprechung,
der durch den selteneren Zusammentritt der Schwurgerichte notwendig herbei¬
geführte längere Zeitablauf zwischen der That und deren Aburteilung mit seinen
unvermeidlichen Folgen der Abschwächung der Erinnerung der Beteiligten, die
Möglichkeit der Verteidigung, durch Anträge zu gunsten des Angeschuldigten,
namentlich durch Vorführung von oft ganz unerheblichen Entlastnngszeugen,
den Thatbestand, besonders für die Geschworenen, zu verdunkeln, und die Zu¬
weisung der Frage nach mildernden Umständen, eines bloßen Strafzumessuugs-
grundes, zur Beantwortung an die nnr zur Entscheidung der Schuldfrage be¬
rufenen Geschworenen. Daß die Schöffen und die Geschworenen im allgemeinen
zu milder Beurteilung, insbesondre zur Bejahung der Frage nach mildernden
Umständen geneigt sind, kann nicht zur Bekräftigung der Ansicht verwendet
werden, daß eben aus dieser Thatsache die allgemeine, einer milderen Beurtei¬
lung sich zuneigende Rechtsanschauung sich ergebe; denn die Laien werden in
der Regel im Gefühle ihrer Unsicherheit und der für ihre Kenntnisse und Er¬
fahrung zu schweren Verantwortlichkeit lieber zu milde urteilen, um nicht eine
zu strenge Entscheidung auszusprechen, sie werden eben aus diesem Grunde,
weil sie die Verantwortung scheuen, in der Regel eher einen geständigen als
einen leugnenden Verbrecher gebührend verurteilen, und dadurch bewirken, daß
oft der schwerer Verschuldete besser wegkommt als der weniger Schuldige.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0338" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/195727"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Herren Mörder.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1180" prev="#ID_1179"> auf den Genuß der VerÜbung dieses Verbrechens zu verzichten. Es ist ein¬<lb/>
leuchtend, daß das für eine gewisse Handlung angedrohte Übel von dem zu<lb/>
dieser Handlung Geneigter vor Begehung derselben erwogen wird und deshalb<lb/>
für seinen Entschluß mitbestimmend ist; denn wenn auch die Übelthäter in der<lb/>
Regel hoffen, unentdeckt zu bleiben, so müssen sie sich doch mit Notwendigkeit<lb/>
den gegenteiligen Fall als möglich vorstellen und hiernach bei ihrer Ent¬<lb/>
schließung mit in Erwägung ziehen, ob sie das im Falle der Entdeckung sie<lb/>
treffende Übel höher anschlagen, als die ihnen durch Begehung des Verbrechens<lb/>
erwachsende Lust. Ist dieses Übel ein kleines, so wird sich naturgemäß der<lb/>
Betreffende leichter zur Übernahme der Gefahr entschließen, als wenn das<lb/>
drohende Übel ein größeres ist. Bei den mit Überlegung ausgeführten Hand¬<lb/>
lungen liegt die Nichtigkeit dieser Schlußfolgerung auf der Hand, sie trifft aber<lb/>
auch bei den im Affekte verübten Handlungen zu. Bei den letztem wird sie<lb/>
allerdings im Augenblicke der That dem Thäter nicht zum Bewußtsein kommen,<lb/>
wohl aber in der ganzen übrigen, der That vorangehenden Zeit. Wenn der<lb/>
Thäter sich stets sagen muß: &#x201E;Diese schwere Strafe habe ich zu erwarten,<lb/>
wenn ich mich zu dieser That hinreißen lasse," so wird er mit Notwendigkeit<lb/>
dazu bewogen werden, seine Leidenschaft fortdauernd zu zügeln und keinen solchen<lb/>
Grad erreichen zu lassen, daß er sich durch sie zu der betreffenden That hin¬<lb/>
reißen läßt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1181"> Es ist nicht zu bestreiten, daß die Einrichtungen unsers Strafprozesses<lb/>
die Erkennung zu niederer Strafen begünstigen: es sind dies in erster Linie<lb/>
die Zulassung der Laien, insbesondre der Geschworenen, zur Rechtsprechung,<lb/>
der durch den selteneren Zusammentritt der Schwurgerichte notwendig herbei¬<lb/>
geführte längere Zeitablauf zwischen der That und deren Aburteilung mit seinen<lb/>
unvermeidlichen Folgen der Abschwächung der Erinnerung der Beteiligten, die<lb/>
Möglichkeit der Verteidigung, durch Anträge zu gunsten des Angeschuldigten,<lb/>
namentlich durch Vorführung von oft ganz unerheblichen Entlastnngszeugen,<lb/>
den Thatbestand, besonders für die Geschworenen, zu verdunkeln, und die Zu¬<lb/>
weisung der Frage nach mildernden Umständen, eines bloßen Strafzumessuugs-<lb/>
grundes, zur Beantwortung an die nnr zur Entscheidung der Schuldfrage be¬<lb/>
rufenen Geschworenen. Daß die Schöffen und die Geschworenen im allgemeinen<lb/>
zu milder Beurteilung, insbesondre zur Bejahung der Frage nach mildernden<lb/>
Umständen geneigt sind, kann nicht zur Bekräftigung der Ansicht verwendet<lb/>
werden, daß eben aus dieser Thatsache die allgemeine, einer milderen Beurtei¬<lb/>
lung sich zuneigende Rechtsanschauung sich ergebe; denn die Laien werden in<lb/>
der Regel im Gefühle ihrer Unsicherheit und der für ihre Kenntnisse und Er¬<lb/>
fahrung zu schweren Verantwortlichkeit lieber zu milde urteilen, um nicht eine<lb/>
zu strenge Entscheidung auszusprechen, sie werden eben aus diesem Grunde,<lb/>
weil sie die Verantwortung scheuen, in der Regel eher einen geständigen als<lb/>
einen leugnenden Verbrecher gebührend verurteilen, und dadurch bewirken, daß<lb/>
oft der schwerer Verschuldete besser wegkommt als der weniger Schuldige.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0338] Die Herren Mörder. auf den Genuß der VerÜbung dieses Verbrechens zu verzichten. Es ist ein¬ leuchtend, daß das für eine gewisse Handlung angedrohte Übel von dem zu dieser Handlung Geneigter vor Begehung derselben erwogen wird und deshalb für seinen Entschluß mitbestimmend ist; denn wenn auch die Übelthäter in der Regel hoffen, unentdeckt zu bleiben, so müssen sie sich doch mit Notwendigkeit den gegenteiligen Fall als möglich vorstellen und hiernach bei ihrer Ent¬ schließung mit in Erwägung ziehen, ob sie das im Falle der Entdeckung sie treffende Übel höher anschlagen, als die ihnen durch Begehung des Verbrechens erwachsende Lust. Ist dieses Übel ein kleines, so wird sich naturgemäß der Betreffende leichter zur Übernahme der Gefahr entschließen, als wenn das drohende Übel ein größeres ist. Bei den mit Überlegung ausgeführten Hand¬ lungen liegt die Nichtigkeit dieser Schlußfolgerung auf der Hand, sie trifft aber auch bei den im Affekte verübten Handlungen zu. Bei den letztem wird sie allerdings im Augenblicke der That dem Thäter nicht zum Bewußtsein kommen, wohl aber in der ganzen übrigen, der That vorangehenden Zeit. Wenn der Thäter sich stets sagen muß: „Diese schwere Strafe habe ich zu erwarten, wenn ich mich zu dieser That hinreißen lasse," so wird er mit Notwendigkeit dazu bewogen werden, seine Leidenschaft fortdauernd zu zügeln und keinen solchen Grad erreichen zu lassen, daß er sich durch sie zu der betreffenden That hin¬ reißen läßt. Es ist nicht zu bestreiten, daß die Einrichtungen unsers Strafprozesses die Erkennung zu niederer Strafen begünstigen: es sind dies in erster Linie die Zulassung der Laien, insbesondre der Geschworenen, zur Rechtsprechung, der durch den selteneren Zusammentritt der Schwurgerichte notwendig herbei¬ geführte längere Zeitablauf zwischen der That und deren Aburteilung mit seinen unvermeidlichen Folgen der Abschwächung der Erinnerung der Beteiligten, die Möglichkeit der Verteidigung, durch Anträge zu gunsten des Angeschuldigten, namentlich durch Vorführung von oft ganz unerheblichen Entlastnngszeugen, den Thatbestand, besonders für die Geschworenen, zu verdunkeln, und die Zu¬ weisung der Frage nach mildernden Umständen, eines bloßen Strafzumessuugs- grundes, zur Beantwortung an die nnr zur Entscheidung der Schuldfrage be¬ rufenen Geschworenen. Daß die Schöffen und die Geschworenen im allgemeinen zu milder Beurteilung, insbesondre zur Bejahung der Frage nach mildernden Umständen geneigt sind, kann nicht zur Bekräftigung der Ansicht verwendet werden, daß eben aus dieser Thatsache die allgemeine, einer milderen Beurtei¬ lung sich zuneigende Rechtsanschauung sich ergebe; denn die Laien werden in der Regel im Gefühle ihrer Unsicherheit und der für ihre Kenntnisse und Er¬ fahrung zu schweren Verantwortlichkeit lieber zu milde urteilen, um nicht eine zu strenge Entscheidung auszusprechen, sie werden eben aus diesem Grunde, weil sie die Verantwortung scheuen, in der Regel eher einen geständigen als einen leugnenden Verbrecher gebührend verurteilen, und dadurch bewirken, daß oft der schwerer Verschuldete besser wegkommt als der weniger Schuldige.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/338
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/338>, abgerufen am 22.07.2024.