Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

sterium gefunden hat: es erhub sich ein beispielloses Gelächter! Ich meinerseits
bekenne, daß ich vor Zorn hätte weinen mögen. In dieser furchtbaren Krisis
ein so haltloses Ministerium zur Leitung der unendlich gefährdeten deutschen
Angelegenheiten! Die einzelnen Mitglieder desselben erfuhren in allen Kreisen
eine unbarmherzige Kritik, überall wurde es ausgesprochen, daß die National¬
versammlung mit diesem Ministerium nicht zwei Tage gehen könne, welches
seinerseits offenbar die Bestimmung habe, die Nationalversammlung vollends
zu ruiniren. Trotzdem daß wir heute Feiertag haben, findet doch heute Nach¬
mittag Sitzung statt, um das Programm des Ministeriums zu hören. Ich
wage noch nicht zu bestimmen, was sonst die Sitzung alles bringen wird. Sehr
möglich, daß ich heute zum letzenmale die Paulskirche betrete. Die Entschei¬
dungen, lange aufgehalten, müssen nun Schlag auf Schlag folgen. Manche
äußerten gestern, daß die heutige Sitzung Wohl überhaupt die letzte sein und
der Belagerungszustand über Frankfurt verhängt werden würde. Gewiß ist,
daß schon jetzt Stadt und Umgegend von Truppen wimmeln. Auch heute rücken
wieder 1500 Preußen ein."

In demselben Briefe faßt N. die ganze Lage und seine Stellung zu ihr
folgendermaßen zusammen: "Die Hoffnungen auf eine friedliche und versöhnliche
Lösung der Verwicklungen sind nun fast gänzlich geschwunden. Die preußischen Ab¬
geordneten sind abberufen; wahrscheinlich erhalten die Abgeordneten aus Sachsen
eine gleichartige Weisung, nicht minder die aus Baiern und Hannover. Die
Nationalversammlung hat also jetzt über die Frage zu entscheide!,, ob sie sich
selbst den Todesstoß geben oder alle Mittel des Widerstandes aufbieten soll;
der einzelne hat sich zu entscheiden, ob er in eine bittere Notwendigkeit sich
fügen oder mit ans den Weg der Revolution gehen und seine Existenz zum
Opfer bringen will. Es ist leicht zu ermessen, was ich thun werde. Die
Aufgabe, welche die Nationalversammlung nach dem Abschlüsse des Verfnssungs-
werkes zu lösen hatte, Durchführung der Verfassung, ist seit dem Anfange des
April von uns mit allen noch möglichen Mitteln versucht worden, muß aber
jetzt, unchdcm es zwischen Frankfurt und Berlin zum offenen Brüche gekommen
ist, als unlösbar angesehen werden. Ich habe mich nun für die Erbkniscrver-
sassung niemals begeistern können und zu ihrer Durchführung mir deshalb nach
Kräften mitgewirkt, weil sie mir unter den einmal gegebenen Verhältnissen der
einzige Rettungsanker zu sein schien; nachdem ich aber die Unmöglichkeit der
Durchführung erkannt habe, werde ich durch nichts bewogen werden können, noch
ferner für das tote Götzenbild Opfer zu bringen, oder dazu beizutragen, das
deutsche Volk dafür in Bewegung zu setzen. Ich kaum dazu umsoweniger
geneigt sein, weil ich weiß, daß in Sachsen, daß namentlich auch in dem von
mir vertretenen Wahlbezirke die Zahl der aufrichtigen und eifrigen Verehrer
dieser Verfassung nur sehr gering ist, und also, selbst wenn ich mit voller Über¬
zeugung sür dieselbe wirken könnte, meine Ansicht nicht als Ausdruck der von


sterium gefunden hat: es erhub sich ein beispielloses Gelächter! Ich meinerseits
bekenne, daß ich vor Zorn hätte weinen mögen. In dieser furchtbaren Krisis
ein so haltloses Ministerium zur Leitung der unendlich gefährdeten deutschen
Angelegenheiten! Die einzelnen Mitglieder desselben erfuhren in allen Kreisen
eine unbarmherzige Kritik, überall wurde es ausgesprochen, daß die National¬
versammlung mit diesem Ministerium nicht zwei Tage gehen könne, welches
seinerseits offenbar die Bestimmung habe, die Nationalversammlung vollends
zu ruiniren. Trotzdem daß wir heute Feiertag haben, findet doch heute Nach¬
mittag Sitzung statt, um das Programm des Ministeriums zu hören. Ich
wage noch nicht zu bestimmen, was sonst die Sitzung alles bringen wird. Sehr
möglich, daß ich heute zum letzenmale die Paulskirche betrete. Die Entschei¬
dungen, lange aufgehalten, müssen nun Schlag auf Schlag folgen. Manche
äußerten gestern, daß die heutige Sitzung Wohl überhaupt die letzte sein und
der Belagerungszustand über Frankfurt verhängt werden würde. Gewiß ist,
daß schon jetzt Stadt und Umgegend von Truppen wimmeln. Auch heute rücken
wieder 1500 Preußen ein."

In demselben Briefe faßt N. die ganze Lage und seine Stellung zu ihr
folgendermaßen zusammen: „Die Hoffnungen auf eine friedliche und versöhnliche
Lösung der Verwicklungen sind nun fast gänzlich geschwunden. Die preußischen Ab¬
geordneten sind abberufen; wahrscheinlich erhalten die Abgeordneten aus Sachsen
eine gleichartige Weisung, nicht minder die aus Baiern und Hannover. Die
Nationalversammlung hat also jetzt über die Frage zu entscheide!,, ob sie sich
selbst den Todesstoß geben oder alle Mittel des Widerstandes aufbieten soll;
der einzelne hat sich zu entscheiden, ob er in eine bittere Notwendigkeit sich
fügen oder mit ans den Weg der Revolution gehen und seine Existenz zum
Opfer bringen will. Es ist leicht zu ermessen, was ich thun werde. Die
Aufgabe, welche die Nationalversammlung nach dem Abschlüsse des Verfnssungs-
werkes zu lösen hatte, Durchführung der Verfassung, ist seit dem Anfange des
April von uns mit allen noch möglichen Mitteln versucht worden, muß aber
jetzt, unchdcm es zwischen Frankfurt und Berlin zum offenen Brüche gekommen
ist, als unlösbar angesehen werden. Ich habe mich nun für die Erbkniscrver-
sassung niemals begeistern können und zu ihrer Durchführung mir deshalb nach
Kräften mitgewirkt, weil sie mir unter den einmal gegebenen Verhältnissen der
einzige Rettungsanker zu sein schien; nachdem ich aber die Unmöglichkeit der
Durchführung erkannt habe, werde ich durch nichts bewogen werden können, noch
ferner für das tote Götzenbild Opfer zu bringen, oder dazu beizutragen, das
deutsche Volk dafür in Bewegung zu setzen. Ich kaum dazu umsoweniger
geneigt sein, weil ich weiß, daß in Sachsen, daß namentlich auch in dem von
mir vertretenen Wahlbezirke die Zahl der aufrichtigen und eifrigen Verehrer
dieser Verfassung nur sehr gering ist, und also, selbst wenn ich mit voller Über¬
zeugung sür dieselbe wirken könnte, meine Ansicht nicht als Ausdruck der von


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0306" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/195695"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1069" prev="#ID_1068"> sterium gefunden hat: es erhub sich ein beispielloses Gelächter! Ich meinerseits<lb/>
bekenne, daß ich vor Zorn hätte weinen mögen. In dieser furchtbaren Krisis<lb/>
ein so haltloses Ministerium zur Leitung der unendlich gefährdeten deutschen<lb/>
Angelegenheiten! Die einzelnen Mitglieder desselben erfuhren in allen Kreisen<lb/>
eine unbarmherzige Kritik, überall wurde es ausgesprochen, daß die National¬<lb/>
versammlung mit diesem Ministerium nicht zwei Tage gehen könne, welches<lb/>
seinerseits offenbar die Bestimmung habe, die Nationalversammlung vollends<lb/>
zu ruiniren. Trotzdem daß wir heute Feiertag haben, findet doch heute Nach¬<lb/>
mittag Sitzung statt, um das Programm des Ministeriums zu hören. Ich<lb/>
wage noch nicht zu bestimmen, was sonst die Sitzung alles bringen wird. Sehr<lb/>
möglich, daß ich heute zum letzenmale die Paulskirche betrete. Die Entschei¬<lb/>
dungen, lange aufgehalten, müssen nun Schlag auf Schlag folgen. Manche<lb/>
äußerten gestern, daß die heutige Sitzung Wohl überhaupt die letzte sein und<lb/>
der Belagerungszustand über Frankfurt verhängt werden würde. Gewiß ist,<lb/>
daß schon jetzt Stadt und Umgegend von Truppen wimmeln. Auch heute rücken<lb/>
wieder 1500 Preußen ein."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1070" next="#ID_1071"> In demselben Briefe faßt N. die ganze Lage und seine Stellung zu ihr<lb/>
folgendermaßen zusammen: &#x201E;Die Hoffnungen auf eine friedliche und versöhnliche<lb/>
Lösung der Verwicklungen sind nun fast gänzlich geschwunden. Die preußischen Ab¬<lb/>
geordneten sind abberufen; wahrscheinlich erhalten die Abgeordneten aus Sachsen<lb/>
eine gleichartige Weisung, nicht minder die aus Baiern und Hannover. Die<lb/>
Nationalversammlung hat also jetzt über die Frage zu entscheide!,, ob sie sich<lb/>
selbst den Todesstoß geben oder alle Mittel des Widerstandes aufbieten soll;<lb/>
der einzelne hat sich zu entscheiden, ob er in eine bittere Notwendigkeit sich<lb/>
fügen oder mit ans den Weg der Revolution gehen und seine Existenz zum<lb/>
Opfer bringen will. Es ist leicht zu ermessen, was ich thun werde. Die<lb/>
Aufgabe, welche die Nationalversammlung nach dem Abschlüsse des Verfnssungs-<lb/>
werkes zu lösen hatte, Durchführung der Verfassung, ist seit dem Anfange des<lb/>
April von uns mit allen noch möglichen Mitteln versucht worden, muß aber<lb/>
jetzt, unchdcm es zwischen Frankfurt und Berlin zum offenen Brüche gekommen<lb/>
ist, als unlösbar angesehen werden. Ich habe mich nun für die Erbkniscrver-<lb/>
sassung niemals begeistern können und zu ihrer Durchführung mir deshalb nach<lb/>
Kräften mitgewirkt, weil sie mir unter den einmal gegebenen Verhältnissen der<lb/>
einzige Rettungsanker zu sein schien; nachdem ich aber die Unmöglichkeit der<lb/>
Durchführung erkannt habe, werde ich durch nichts bewogen werden können, noch<lb/>
ferner für das tote Götzenbild Opfer zu bringen, oder dazu beizutragen, das<lb/>
deutsche Volk dafür in Bewegung zu setzen. Ich kaum dazu umsoweniger<lb/>
geneigt sein, weil ich weiß, daß in Sachsen, daß namentlich auch in dem von<lb/>
mir vertretenen Wahlbezirke die Zahl der aufrichtigen und eifrigen Verehrer<lb/>
dieser Verfassung nur sehr gering ist, und also, selbst wenn ich mit voller Über¬<lb/>
zeugung sür dieselbe wirken könnte, meine Ansicht nicht als Ausdruck der von</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0306] sterium gefunden hat: es erhub sich ein beispielloses Gelächter! Ich meinerseits bekenne, daß ich vor Zorn hätte weinen mögen. In dieser furchtbaren Krisis ein so haltloses Ministerium zur Leitung der unendlich gefährdeten deutschen Angelegenheiten! Die einzelnen Mitglieder desselben erfuhren in allen Kreisen eine unbarmherzige Kritik, überall wurde es ausgesprochen, daß die National¬ versammlung mit diesem Ministerium nicht zwei Tage gehen könne, welches seinerseits offenbar die Bestimmung habe, die Nationalversammlung vollends zu ruiniren. Trotzdem daß wir heute Feiertag haben, findet doch heute Nach¬ mittag Sitzung statt, um das Programm des Ministeriums zu hören. Ich wage noch nicht zu bestimmen, was sonst die Sitzung alles bringen wird. Sehr möglich, daß ich heute zum letzenmale die Paulskirche betrete. Die Entschei¬ dungen, lange aufgehalten, müssen nun Schlag auf Schlag folgen. Manche äußerten gestern, daß die heutige Sitzung Wohl überhaupt die letzte sein und der Belagerungszustand über Frankfurt verhängt werden würde. Gewiß ist, daß schon jetzt Stadt und Umgegend von Truppen wimmeln. Auch heute rücken wieder 1500 Preußen ein." In demselben Briefe faßt N. die ganze Lage und seine Stellung zu ihr folgendermaßen zusammen: „Die Hoffnungen auf eine friedliche und versöhnliche Lösung der Verwicklungen sind nun fast gänzlich geschwunden. Die preußischen Ab¬ geordneten sind abberufen; wahrscheinlich erhalten die Abgeordneten aus Sachsen eine gleichartige Weisung, nicht minder die aus Baiern und Hannover. Die Nationalversammlung hat also jetzt über die Frage zu entscheide!,, ob sie sich selbst den Todesstoß geben oder alle Mittel des Widerstandes aufbieten soll; der einzelne hat sich zu entscheiden, ob er in eine bittere Notwendigkeit sich fügen oder mit ans den Weg der Revolution gehen und seine Existenz zum Opfer bringen will. Es ist leicht zu ermessen, was ich thun werde. Die Aufgabe, welche die Nationalversammlung nach dem Abschlüsse des Verfnssungs- werkes zu lösen hatte, Durchführung der Verfassung, ist seit dem Anfange des April von uns mit allen noch möglichen Mitteln versucht worden, muß aber jetzt, unchdcm es zwischen Frankfurt und Berlin zum offenen Brüche gekommen ist, als unlösbar angesehen werden. Ich habe mich nun für die Erbkniscrver- sassung niemals begeistern können und zu ihrer Durchführung mir deshalb nach Kräften mitgewirkt, weil sie mir unter den einmal gegebenen Verhältnissen der einzige Rettungsanker zu sein schien; nachdem ich aber die Unmöglichkeit der Durchführung erkannt habe, werde ich durch nichts bewogen werden können, noch ferner für das tote Götzenbild Opfer zu bringen, oder dazu beizutragen, das deutsche Volk dafür in Bewegung zu setzen. Ich kaum dazu umsoweniger geneigt sein, weil ich weiß, daß in Sachsen, daß namentlich auch in dem von mir vertretenen Wahlbezirke die Zahl der aufrichtigen und eifrigen Verehrer dieser Verfassung nur sehr gering ist, und also, selbst wenn ich mit voller Über¬ zeugung sür dieselbe wirken könnte, meine Ansicht nicht als Ausdruck der von

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/306
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/306>, abgerufen am 22.07.2024.