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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Die Freunde Englands.

aufleben. An seine Stelle ist allenthalben der aufrichtige Wunsch getreten,
Deutschland möge mit Nußland immer auf dem Fuße guter Nachbarschaft ver¬
bleiben. Möglich ist, daß es bei einer längern Dauer des Krieges -- der uns
jetzt beiläufig wenig Wahrscheinlichkeit hat -- manchen europäischen Mächten
schwerfallen würde, neutral zu bleiben. Wieviele dann aber ihre Neutralität
zu gunsten Englands aufgeben würden, ist nicht leicht zu sagen. Grund dazu
hätte keine. In ganz Europa wünscht man dringend Lokalisirung des Krieges,
nnr in England will man ihm, wie es scheint, eine Ausdehnung auch auf euro¬
päisches Gebiet geben, und droht, sich an den Protest der Türken, welche
der britischen Flotte die Meerengen nicht öffnen wollen, nicht zu kehren.
Diese Taktik ist nicht dazu angethan, die mitteleuropäischen Mächte günstig für
England zu stimmen, und auch Frankreich will nicht, daß aus dem Konflikt
zwischen England und Rußland im fernen Afghanistan ein Kampf werde, der
europäisches Gebiet berührt. Es ist weit davon entfernt, die Thorheit zu
wiederholen, die der Kaiser Napoleon 1854 beging, als er die Hauptlast über¬
nahm und England den Löwenanteil an der Beute überlassen mußte. Es hat
in Ägypten und bei allen Unternehmungen seiner Kolonialpolitik zur Genüge
erfahren, was es mit der Freundschaft der Nachbarn überm Kanal für eine
Bewandtnis hat. Frankreich hat in Konstantinopel ganz ebenso wie Deutschland
und das mit ihm verbündete Österreich-Ungarn dringend abgeraten, sich zu einem
Bruche der Neutralität, wie er in einem Durchlasse der englischen Kriegsschiffe
nach dein Schwarzen Meere liegen würde, bestimmen zu lassen, und während
wir diese Zeilen schreiben, hält der Sultan noch daran fest, daß die Meerengen
sowohl der englischen als der russischen Flotte verschlossen bleiben sollen. Viel¬
leicht schließt sie ein goldner Schlüssel auf, mit dem bei türkischen Staats¬
männern viel möglich ist. Indes wäre das mit so bedenklichem Risiko ver¬
bunden, daß kaum daran zu glauben ist. Die Pforte würde sich, wenn sie
durch Öffnung ihrer beiden Meerthore den Krieg nach russischem Gebiete und
nach Europa überhaupt vordringen ließe, einerseits zur Gegnerin Rußlands
machen, andrerseits die Garantien verwirken, die ihr die Verträge von 1878
gegen dessen dann etwa erfolgenden Angriff gewähren. Allein schützen könnte
sie sich nicht, der Beistand Englands wäre nicht viel wert. Man könnte auf
seiten der Mächte, die zur Währung des europäischen Friedens verbündet sind,
sagen: dieser Wächter desselben am Marmara-Meere hat sich nicht bewährt,
treffen wir eine andre Einrichtung, die unsern Zwecken zu dienen verspricht,
verständigen wir uns mit Nußland, und es könnte dies der Anfang vom Ende
der Türkenherrschaft in Europa werden. Wir meinen daher, daß die Engländer
auch in Stambul geringe oder gar keine Aussicht auf Freundschaftsdienste hätten,
wenn sie es in ihrem Streite mit Nußland auf einen Krieg ankommen lassen
wollten. Womit könnten sie dieselben aufwiegen? Mit Versprechungen, die,
gegen die früher geäußerten Ansichten Gladstones über die Balkanstämme ge-


Die Freunde Englands.

aufleben. An seine Stelle ist allenthalben der aufrichtige Wunsch getreten,
Deutschland möge mit Nußland immer auf dem Fuße guter Nachbarschaft ver¬
bleiben. Möglich ist, daß es bei einer längern Dauer des Krieges — der uns
jetzt beiläufig wenig Wahrscheinlichkeit hat — manchen europäischen Mächten
schwerfallen würde, neutral zu bleiben. Wieviele dann aber ihre Neutralität
zu gunsten Englands aufgeben würden, ist nicht leicht zu sagen. Grund dazu
hätte keine. In ganz Europa wünscht man dringend Lokalisirung des Krieges,
nnr in England will man ihm, wie es scheint, eine Ausdehnung auch auf euro¬
päisches Gebiet geben, und droht, sich an den Protest der Türken, welche
der britischen Flotte die Meerengen nicht öffnen wollen, nicht zu kehren.
Diese Taktik ist nicht dazu angethan, die mitteleuropäischen Mächte günstig für
England zu stimmen, und auch Frankreich will nicht, daß aus dem Konflikt
zwischen England und Rußland im fernen Afghanistan ein Kampf werde, der
europäisches Gebiet berührt. Es ist weit davon entfernt, die Thorheit zu
wiederholen, die der Kaiser Napoleon 1854 beging, als er die Hauptlast über¬
nahm und England den Löwenanteil an der Beute überlassen mußte. Es hat
in Ägypten und bei allen Unternehmungen seiner Kolonialpolitik zur Genüge
erfahren, was es mit der Freundschaft der Nachbarn überm Kanal für eine
Bewandtnis hat. Frankreich hat in Konstantinopel ganz ebenso wie Deutschland
und das mit ihm verbündete Österreich-Ungarn dringend abgeraten, sich zu einem
Bruche der Neutralität, wie er in einem Durchlasse der englischen Kriegsschiffe
nach dein Schwarzen Meere liegen würde, bestimmen zu lassen, und während
wir diese Zeilen schreiben, hält der Sultan noch daran fest, daß die Meerengen
sowohl der englischen als der russischen Flotte verschlossen bleiben sollen. Viel¬
leicht schließt sie ein goldner Schlüssel auf, mit dem bei türkischen Staats¬
männern viel möglich ist. Indes wäre das mit so bedenklichem Risiko ver¬
bunden, daß kaum daran zu glauben ist. Die Pforte würde sich, wenn sie
durch Öffnung ihrer beiden Meerthore den Krieg nach russischem Gebiete und
nach Europa überhaupt vordringen ließe, einerseits zur Gegnerin Rußlands
machen, andrerseits die Garantien verwirken, die ihr die Verträge von 1878
gegen dessen dann etwa erfolgenden Angriff gewähren. Allein schützen könnte
sie sich nicht, der Beistand Englands wäre nicht viel wert. Man könnte auf
seiten der Mächte, die zur Währung des europäischen Friedens verbündet sind,
sagen: dieser Wächter desselben am Marmara-Meere hat sich nicht bewährt,
treffen wir eine andre Einrichtung, die unsern Zwecken zu dienen verspricht,
verständigen wir uns mit Nußland, und es könnte dies der Anfang vom Ende
der Türkenherrschaft in Europa werden. Wir meinen daher, daß die Engländer
auch in Stambul geringe oder gar keine Aussicht auf Freundschaftsdienste hätten,
wenn sie es in ihrem Streite mit Nußland auf einen Krieg ankommen lassen
wollten. Womit könnten sie dieselben aufwiegen? Mit Versprechungen, die,
gegen die früher geäußerten Ansichten Gladstones über die Balkanstämme ge-


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[0284] Die Freunde Englands. aufleben. An seine Stelle ist allenthalben der aufrichtige Wunsch getreten, Deutschland möge mit Nußland immer auf dem Fuße guter Nachbarschaft ver¬ bleiben. Möglich ist, daß es bei einer längern Dauer des Krieges — der uns jetzt beiläufig wenig Wahrscheinlichkeit hat — manchen europäischen Mächten schwerfallen würde, neutral zu bleiben. Wieviele dann aber ihre Neutralität zu gunsten Englands aufgeben würden, ist nicht leicht zu sagen. Grund dazu hätte keine. In ganz Europa wünscht man dringend Lokalisirung des Krieges, nnr in England will man ihm, wie es scheint, eine Ausdehnung auch auf euro¬ päisches Gebiet geben, und droht, sich an den Protest der Türken, welche der britischen Flotte die Meerengen nicht öffnen wollen, nicht zu kehren. Diese Taktik ist nicht dazu angethan, die mitteleuropäischen Mächte günstig für England zu stimmen, und auch Frankreich will nicht, daß aus dem Konflikt zwischen England und Rußland im fernen Afghanistan ein Kampf werde, der europäisches Gebiet berührt. Es ist weit davon entfernt, die Thorheit zu wiederholen, die der Kaiser Napoleon 1854 beging, als er die Hauptlast über¬ nahm und England den Löwenanteil an der Beute überlassen mußte. Es hat in Ägypten und bei allen Unternehmungen seiner Kolonialpolitik zur Genüge erfahren, was es mit der Freundschaft der Nachbarn überm Kanal für eine Bewandtnis hat. Frankreich hat in Konstantinopel ganz ebenso wie Deutschland und das mit ihm verbündete Österreich-Ungarn dringend abgeraten, sich zu einem Bruche der Neutralität, wie er in einem Durchlasse der englischen Kriegsschiffe nach dein Schwarzen Meere liegen würde, bestimmen zu lassen, und während wir diese Zeilen schreiben, hält der Sultan noch daran fest, daß die Meerengen sowohl der englischen als der russischen Flotte verschlossen bleiben sollen. Viel¬ leicht schließt sie ein goldner Schlüssel auf, mit dem bei türkischen Staats¬ männern viel möglich ist. Indes wäre das mit so bedenklichem Risiko ver¬ bunden, daß kaum daran zu glauben ist. Die Pforte würde sich, wenn sie durch Öffnung ihrer beiden Meerthore den Krieg nach russischem Gebiete und nach Europa überhaupt vordringen ließe, einerseits zur Gegnerin Rußlands machen, andrerseits die Garantien verwirken, die ihr die Verträge von 1878 gegen dessen dann etwa erfolgenden Angriff gewähren. Allein schützen könnte sie sich nicht, der Beistand Englands wäre nicht viel wert. Man könnte auf seiten der Mächte, die zur Währung des europäischen Friedens verbündet sind, sagen: dieser Wächter desselben am Marmara-Meere hat sich nicht bewährt, treffen wir eine andre Einrichtung, die unsern Zwecken zu dienen verspricht, verständigen wir uns mit Nußland, und es könnte dies der Anfang vom Ende der Türkenherrschaft in Europa werden. Wir meinen daher, daß die Engländer auch in Stambul geringe oder gar keine Aussicht auf Freundschaftsdienste hätten, wenn sie es in ihrem Streite mit Nußland auf einen Krieg ankommen lassen wollten. Womit könnten sie dieselben aufwiegen? Mit Versprechungen, die, gegen die früher geäußerten Ansichten Gladstones über die Balkanstämme ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/284>, abgerufen am 22.07.2024.