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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Preußen thöricht prvvozirt," aber schon flößen ihr die heroischen Thaten der
Armee von Metz so tiefes Interesse ein, daß sie anfängt, an Siege und Er¬
folge Bazaines zu glaube". Ju ihrer nächsten Nähe sieht sie nach wie vor die
hilflose Unordnung, welche mit dem guten Willen der Soldaten nichts anzu¬
fangen weiß, und die Hospitäler, welche nur für die Verwundeten bestimmt sein
sollten, mit Kranken füllt, die den Feind nicht von fern gesehen haben. Am
18, August berichtet sie an Madame Adam in Paris: "Hier ist man wie vor
den Kopf geschlagen. Es ist nicht der mindeste Zug vorhanden, sich einzu¬
reihen. Die furchtbare Unordnung, welche herrscht, gebiert Mißtrauen, man
fürchtet sich nicht, sich zu schlagen, man fürchtet, für nichts verbraucht zu
werden, vor Hunger oder Krankheit zu sterben, in dem schauerlichen Durchein¬
ander, von welchem mau Zeuge ist. In Bourges und Chateauroux sind seit
vierzehn Tagen Truppen aufgehäuft, welche im Freien schlafen und betteln;
ohne die Teilnahme der Einwohner, welche die Soldaten unterstützen, würden sie
noch viel schlimmer dran sein als im Felde." Und mitten in dieser Einsicht
hat sie die höhere, daß die Zeit zum Sturze einer Negierung und zur Begrün¬
dung einer neuen übel gewählt sei: "Kann man eine Negierung herstellen,
wenn der Feind vor den Thoren ist?"

Doch alle diese Einsichten zerstäuben, als Paris am 4, September die
Kaiserin-Regentin vertreibt und die Republik errichtet. Die Niederlage von
sedem verschwindet fast vor der Genugthuung, daß die Hauptstadt eine Revo¬
lution gemacht hat. Jauchzend schreibt George Sand am 5. September an
Edmvnd Plauchut: "Welch großes Ereignis, welch schöner Tag inmitten der
Niederlagen! Ich hoffte nicht auf diesen Sieg der Freiheit ohne Widerstand.
Paris ist ausgestanden wie ein Manu, Hätte es dies vor zwei Jahren gethan!
Wir würden nicht soviele Brave verloren haben. Aber es ist gethan -- es lebe
Paris!" Man sieht, wie berauschend der bloße Name der Republik selbst auf
die klare, geistvolle Frau wirkte, die im Grunde recht wohl wußte, daß die
Republikaner in Frankreich in einer verschwindenden Minderzahl waren, Sie
erwartete trotz alledem Wunder vom 1, September, dem ttonvornvinont ac
clvfvnLö nutiunals, und geuau genommen war die willige Unterordnung
ganz Frankreichs unter diese Pariser Regenten von eigner Mache schon einem
Wunder gleichzuachten. Aber es bleibt bemerkenswert, wie mächtig die Tra¬
dition vom 1793 war, wenn selbst eine so klare und wahre Natur wie George
Sand des Glaubens lebte, daß die Verkündigung der Republik die "Wieder-
eroberung des Vaterlandes" zur unmittelbaren Folge haben werde, Sie "hoffte"
bloß, daß die neue Republik lebensfähig sein werde, aber sie sah nichtsdesto¬
weniger für einen Augenblick eine völlige Wendung der Dinge voraus und
zweifelte selbst, ob unter diesen Umständen die Deutschen eine Belagerung von
Paris wagen würden. Allerdings genügten wenige Tage, um sie vom Boden
der Illusion auf deu der Wahrheit zurückzuversetzen. Bereits am 15. sey-


Preußen thöricht prvvozirt," aber schon flößen ihr die heroischen Thaten der
Armee von Metz so tiefes Interesse ein, daß sie anfängt, an Siege und Er¬
folge Bazaines zu glaube». Ju ihrer nächsten Nähe sieht sie nach wie vor die
hilflose Unordnung, welche mit dem guten Willen der Soldaten nichts anzu¬
fangen weiß, und die Hospitäler, welche nur für die Verwundeten bestimmt sein
sollten, mit Kranken füllt, die den Feind nicht von fern gesehen haben. Am
18, August berichtet sie an Madame Adam in Paris: „Hier ist man wie vor
den Kopf geschlagen. Es ist nicht der mindeste Zug vorhanden, sich einzu¬
reihen. Die furchtbare Unordnung, welche herrscht, gebiert Mißtrauen, man
fürchtet sich nicht, sich zu schlagen, man fürchtet, für nichts verbraucht zu
werden, vor Hunger oder Krankheit zu sterben, in dem schauerlichen Durchein¬
ander, von welchem mau Zeuge ist. In Bourges und Chateauroux sind seit
vierzehn Tagen Truppen aufgehäuft, welche im Freien schlafen und betteln;
ohne die Teilnahme der Einwohner, welche die Soldaten unterstützen, würden sie
noch viel schlimmer dran sein als im Felde." Und mitten in dieser Einsicht
hat sie die höhere, daß die Zeit zum Sturze einer Negierung und zur Begrün¬
dung einer neuen übel gewählt sei: „Kann man eine Negierung herstellen,
wenn der Feind vor den Thoren ist?"

Doch alle diese Einsichten zerstäuben, als Paris am 4, September die
Kaiserin-Regentin vertreibt und die Republik errichtet. Die Niederlage von
sedem verschwindet fast vor der Genugthuung, daß die Hauptstadt eine Revo¬
lution gemacht hat. Jauchzend schreibt George Sand am 5. September an
Edmvnd Plauchut: „Welch großes Ereignis, welch schöner Tag inmitten der
Niederlagen! Ich hoffte nicht auf diesen Sieg der Freiheit ohne Widerstand.
Paris ist ausgestanden wie ein Manu, Hätte es dies vor zwei Jahren gethan!
Wir würden nicht soviele Brave verloren haben. Aber es ist gethan — es lebe
Paris!" Man sieht, wie berauschend der bloße Name der Republik selbst auf
die klare, geistvolle Frau wirkte, die im Grunde recht wohl wußte, daß die
Republikaner in Frankreich in einer verschwindenden Minderzahl waren, Sie
erwartete trotz alledem Wunder vom 1, September, dem ttonvornvinont ac
clvfvnLö nutiunals, und geuau genommen war die willige Unterordnung
ganz Frankreichs unter diese Pariser Regenten von eigner Mache schon einem
Wunder gleichzuachten. Aber es bleibt bemerkenswert, wie mächtig die Tra¬
dition vom 1793 war, wenn selbst eine so klare und wahre Natur wie George
Sand des Glaubens lebte, daß die Verkündigung der Republik die „Wieder-
eroberung des Vaterlandes" zur unmittelbaren Folge haben werde, Sie „hoffte"
bloß, daß die neue Republik lebensfähig sein werde, aber sie sah nichtsdesto¬
weniger für einen Augenblick eine völlige Wendung der Dinge voraus und
zweifelte selbst, ob unter diesen Umständen die Deutschen eine Belagerung von
Paris wagen würden. Allerdings genügten wenige Tage, um sie vom Boden
der Illusion auf deu der Wahrheit zurückzuversetzen. Bereits am 15. sey-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/256>, abgerufen am 22.07.2024.