Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.Die musikalischen Jubiläen des Jahres j ggg. Sinnma: die Auswahl erstreckte sich über einen größeren Kreis. Heute ist die Die musikalischen Jubiläen des Jahres j ggg. Sinnma: die Auswahl erstreckte sich über einen größeren Kreis. Heute ist die <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0209" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/195598"/> <fw type="header" place="top"> Die musikalischen Jubiläen des Jahres j ggg.</fw><lb/> <p xml:id="ID_716" prev="#ID_715"> Sinnma: die Auswahl erstreckte sich über einen größeren Kreis. Heute ist die<lb/> Pflege Händelscher Werke auf den engen Zirkel von ungefähr sechs sogenannten<lb/> Hauptwerken eingeschränkt: „Messias," „Samson," „Judas Maccabäus," „Is¬<lb/> rael," „Alexandersfest," „Josua," zu welchem neuerdings noch ein kleiner Anhang,<lb/> gebildet aus „Acis und Gcilatea" und „Herakles," hinzugetreten ist. Wenn aus¬<lb/> nahmsweise ein Versuch mit andern Werken gemacht wird, wie mit „Theodore,"<lb/> oder „Saul," so hat man dies als ein besondres Ereignis zu betrachten, und<lb/> die öffentliche Kritik verfehlt selten, sich bei dieser Gelegenheit arge Blößen zu<lb/> geben. Noch jüngst lasen wir in einem Festbericht aus Halle den doch mittler¬<lb/> weile ziemlich bekannt gewordenen „Herakles" als ein Werk von absonderlicher<lb/> Schwierigkeit bezeichnet. Dieses bedauernswerte Verhältnis ist umsoweniger in<lb/> Ordnung, als wir durch die Leistungen der deutschen Händelgesellschaft schon<lb/> seit langer Zeit in der Lage sind, fast alle Oratorien des großen Meisters sehr<lb/> bequem zu erreiche«. Die Gründe, aus deuen man an dem kleinen Kreise fest¬<lb/> hält, sind vorgeblich ästhetischer Natur; in Wahrheit beruhen sie auf Bequem¬<lb/> lichkeit und auf Unselbständigkeit der dirigirenden Musiker. Das genannte halbe<lb/> Dutzend der Händelschen Favoritoratorien ist zur Aufführung fix und fertig<lb/> bearbeitet; wer über diese hinausgeht, ladet sich die Mühe einer Einrichtung<lb/> des Accompagnements auf, einer Arbeit, zu welcher die meisten Musiker auf<lb/> dem Wege ihrer Studien nicht einmal die nötige Übung und Anleitung erhalten<lb/> haben. Freilich ist das beschränkte Festhalten an einem kleinen erprobten Vorrat,<lb/> welches wir in dem Verhältnis der öffentlichen Mnsikpflege zu den Händelschen<lb/> Oratorien beobachten, keine vereinzelte Erscheinung. Wir finden genau dasselbe,<lb/> wenn wir die Repertoires unsrer Opernbühnen durchgehen, wir können es in<lb/> allen Branchen des öffentlichen Musizirens verfolgen: immer wieder dieselben<lb/> beiden Ouvertüren von Cherubini, dieselben Symphonien von Mozart und Haydn,<lb/> dieselben Lieder von Schubert und Schumann! Es liegt hier ein Mangel in<lb/> der Ausbildung der Musiker zu gründe: sie lernen viel zu wenig von dem<lb/> Schatze ihrer Kunst kennen und erwerben nicht allgemein und nicht hinreichend<lb/> genug die Fähigkeit selbständig zu studiren. Wir haben auf unsern Konserva¬<lb/> torien überall Vorlesungen über Geschichte der Musik. Aber diese Vorlesungen<lb/> schweben zum größten Teile in der Luft. Die Bibliotheken dieser Institute<lb/> sind mangelhaft: es fehlt für die Studirenden nicht bloß Verpflichtung und<lb/> Zwang, die abgehandelten Werke, die Stile und Epochen praktisch und durch<lb/> privates Studium kennen zu lernen, sondern auch die bequeme Gelegenheit, und<lb/> die jungen Herren thun daher das Vernünftigste, was sie thun können, wenn<lb/> sie diese Vorlesungen „schwarzen." Ein junger Philologe kennt jedes Werk<lb/> des Sophokles und der führenden Dichter und Schriftsteller der Antike — aber<lb/> dafür, daß ein junger Musiker, der sein Konservatorium verlassen hat, uns die<lb/> Zahl und die Tonarten der Händelschen Oouesrti Arossi angeben kann, möchten<lb/> wir keine Garantie übernehmen.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0209]
Die musikalischen Jubiläen des Jahres j ggg.
Sinnma: die Auswahl erstreckte sich über einen größeren Kreis. Heute ist die
Pflege Händelscher Werke auf den engen Zirkel von ungefähr sechs sogenannten
Hauptwerken eingeschränkt: „Messias," „Samson," „Judas Maccabäus," „Is¬
rael," „Alexandersfest," „Josua," zu welchem neuerdings noch ein kleiner Anhang,
gebildet aus „Acis und Gcilatea" und „Herakles," hinzugetreten ist. Wenn aus¬
nahmsweise ein Versuch mit andern Werken gemacht wird, wie mit „Theodore,"
oder „Saul," so hat man dies als ein besondres Ereignis zu betrachten, und
die öffentliche Kritik verfehlt selten, sich bei dieser Gelegenheit arge Blößen zu
geben. Noch jüngst lasen wir in einem Festbericht aus Halle den doch mittler¬
weile ziemlich bekannt gewordenen „Herakles" als ein Werk von absonderlicher
Schwierigkeit bezeichnet. Dieses bedauernswerte Verhältnis ist umsoweniger in
Ordnung, als wir durch die Leistungen der deutschen Händelgesellschaft schon
seit langer Zeit in der Lage sind, fast alle Oratorien des großen Meisters sehr
bequem zu erreiche«. Die Gründe, aus deuen man an dem kleinen Kreise fest¬
hält, sind vorgeblich ästhetischer Natur; in Wahrheit beruhen sie auf Bequem¬
lichkeit und auf Unselbständigkeit der dirigirenden Musiker. Das genannte halbe
Dutzend der Händelschen Favoritoratorien ist zur Aufführung fix und fertig
bearbeitet; wer über diese hinausgeht, ladet sich die Mühe einer Einrichtung
des Accompagnements auf, einer Arbeit, zu welcher die meisten Musiker auf
dem Wege ihrer Studien nicht einmal die nötige Übung und Anleitung erhalten
haben. Freilich ist das beschränkte Festhalten an einem kleinen erprobten Vorrat,
welches wir in dem Verhältnis der öffentlichen Mnsikpflege zu den Händelschen
Oratorien beobachten, keine vereinzelte Erscheinung. Wir finden genau dasselbe,
wenn wir die Repertoires unsrer Opernbühnen durchgehen, wir können es in
allen Branchen des öffentlichen Musizirens verfolgen: immer wieder dieselben
beiden Ouvertüren von Cherubini, dieselben Symphonien von Mozart und Haydn,
dieselben Lieder von Schubert und Schumann! Es liegt hier ein Mangel in
der Ausbildung der Musiker zu gründe: sie lernen viel zu wenig von dem
Schatze ihrer Kunst kennen und erwerben nicht allgemein und nicht hinreichend
genug die Fähigkeit selbständig zu studiren. Wir haben auf unsern Konserva¬
torien überall Vorlesungen über Geschichte der Musik. Aber diese Vorlesungen
schweben zum größten Teile in der Luft. Die Bibliotheken dieser Institute
sind mangelhaft: es fehlt für die Studirenden nicht bloß Verpflichtung und
Zwang, die abgehandelten Werke, die Stile und Epochen praktisch und durch
privates Studium kennen zu lernen, sondern auch die bequeme Gelegenheit, und
die jungen Herren thun daher das Vernünftigste, was sie thun können, wenn
sie diese Vorlesungen „schwarzen." Ein junger Philologe kennt jedes Werk
des Sophokles und der führenden Dichter und Schriftsteller der Antike — aber
dafür, daß ein junger Musiker, der sein Konservatorium verlassen hat, uns die
Zahl und die Tonarten der Händelschen Oouesrti Arossi angeben kann, möchten
wir keine Garantie übernehmen.
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