Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Die musikalischen Jubiläen des Jahres ^335.

unsers deutschen Kulturlebens mit zu bilden scheinen, Oratorien, die vor vierzig
Jahren die Passion zu überstrahlen schienen, stehen heute als gealterte Schön¬
heiten beiseite -- die Matthäuspassion bleibt jung, und jedes Jahr steht sie in
neuer Frische vor uns, eine Zierde der christlichen Kunst, ein Ruhmesmal
ihres Schöpfers, das von nun ab dem Wechsel der Zeiten trotzen wird!

Was Händel betrifft, so ist der Fortschritt, welchen unsre Zeit der früheren
gegenüber in der Pflege seiner Werke gemacht hat, weniger eklatant, aber
vorhanden ist er doch. Händel war zu keiner Zeit auch nur annähernd so ver¬
gessen und vernachlässigt, wie es Bach, wir dürfen sagen, ein ganzes Jahrhundert
hindurch gewesen ist. Wir pflegen die Einführung von Händels Oratorien in
das öffentliche Musikleben Deutschlands von den ersten vollständigen Ausfüh¬
rungen des "Messias" zu datiren, welche Johann Adam Hiller, angeregt durch
die bekannte Londoner (um ein Jahr verfrühte) Säkularfeier von Händels Ge¬
burtstag -- dein ersten nachweisbaren Musikfest im modernen Sinne -- vor
nun nahezu hundert Jahren in verschiednen Städten Deutschlands veranstaltete.
Doch finden sich bereits in den vorhergehende" Jahrzehnten auf den Pro¬
grammen der Liebhaberkonzerte (Berlin, Wien) Chöre von Händel verzeichnet.
In ihrer Stellung auf dem Repertoire haben die Händelschen Werke allerdings
fette und magere Jahre abwechseln sehen. Eine außerordentlich günstige Periode
war die vom Jnhre 1810 bis zur Mitte der zwanziger Jahre. In dieser kamen
ihnen das Entstehen der deutschen Musikfeste und der durch die Freiheitskriege
entsandte Aufschwung des geistigen Lebens in Deutschland sehr zu statten. Dann
folgte eine Periode, wo Händel hinter Friedrich Schneider, L. Spohr und
F. Mendelssohn zurückgestellt wurde. Heute ist diese Zeit der Verirrung wieder
überstanden. Händels Platz an der Spitze der Oratorienkomponisten wird von
niemand länger bestritten, und diese Anschauung kommt in der großen Zahl
von Aufführungen, die unsre Chorvereine jahraus jahrein mit Oratorien
Händels besetzen, zum praktischen Ausdruck. Noch entschiedener ist der Fort¬
schritt, welchen wir in der Ausfassung und Behandlung dieser Werke gemacht
haben: Verballhornungen, wie sie vor sechzig Jahren durch Mosel begangen
wurden, kann zur Zeit niemand mehr ungestraft versuchen, und während noch
bis in die letzten Jahrzehnte der "Samson," der "Judas Maccabäus" und alle
gangbaren Oratorien frischweg in die Rubrik "Kirchenmusik" gestellt wurden,
beginnt neuerdings diese unglaublich thörichte Anschauung einer bessere" histo¬
rischen und ästhetischen Würdigung Platz zu machen.

Wenn wir jedoch zwischen den Aufführungen Händelscher Werke in der
Gegenwart und in jener ersten Periode ihrer Blüte vom Jahre 1810 u. ff.
vergleichen, so kommen wir notwendig auf einen Punkt, der uns wieder an den
dritten Teil unsers Themas erinnert: "Was bleibt noch zu thun?"

In den Konzertverzeichnissen aus jener älteren Periode finden wir in Wien
"Jephta," "Salomon," in Berlin "Joseph," in Hamburg "Belsazar" -- in


Die musikalischen Jubiläen des Jahres ^335.

unsers deutschen Kulturlebens mit zu bilden scheinen, Oratorien, die vor vierzig
Jahren die Passion zu überstrahlen schienen, stehen heute als gealterte Schön¬
heiten beiseite — die Matthäuspassion bleibt jung, und jedes Jahr steht sie in
neuer Frische vor uns, eine Zierde der christlichen Kunst, ein Ruhmesmal
ihres Schöpfers, das von nun ab dem Wechsel der Zeiten trotzen wird!

Was Händel betrifft, so ist der Fortschritt, welchen unsre Zeit der früheren
gegenüber in der Pflege seiner Werke gemacht hat, weniger eklatant, aber
vorhanden ist er doch. Händel war zu keiner Zeit auch nur annähernd so ver¬
gessen und vernachlässigt, wie es Bach, wir dürfen sagen, ein ganzes Jahrhundert
hindurch gewesen ist. Wir pflegen die Einführung von Händels Oratorien in
das öffentliche Musikleben Deutschlands von den ersten vollständigen Ausfüh¬
rungen des „Messias" zu datiren, welche Johann Adam Hiller, angeregt durch
die bekannte Londoner (um ein Jahr verfrühte) Säkularfeier von Händels Ge¬
burtstag — dein ersten nachweisbaren Musikfest im modernen Sinne — vor
nun nahezu hundert Jahren in verschiednen Städten Deutschlands veranstaltete.
Doch finden sich bereits in den vorhergehende» Jahrzehnten auf den Pro¬
grammen der Liebhaberkonzerte (Berlin, Wien) Chöre von Händel verzeichnet.
In ihrer Stellung auf dem Repertoire haben die Händelschen Werke allerdings
fette und magere Jahre abwechseln sehen. Eine außerordentlich günstige Periode
war die vom Jnhre 1810 bis zur Mitte der zwanziger Jahre. In dieser kamen
ihnen das Entstehen der deutschen Musikfeste und der durch die Freiheitskriege
entsandte Aufschwung des geistigen Lebens in Deutschland sehr zu statten. Dann
folgte eine Periode, wo Händel hinter Friedrich Schneider, L. Spohr und
F. Mendelssohn zurückgestellt wurde. Heute ist diese Zeit der Verirrung wieder
überstanden. Händels Platz an der Spitze der Oratorienkomponisten wird von
niemand länger bestritten, und diese Anschauung kommt in der großen Zahl
von Aufführungen, die unsre Chorvereine jahraus jahrein mit Oratorien
Händels besetzen, zum praktischen Ausdruck. Noch entschiedener ist der Fort¬
schritt, welchen wir in der Ausfassung und Behandlung dieser Werke gemacht
haben: Verballhornungen, wie sie vor sechzig Jahren durch Mosel begangen
wurden, kann zur Zeit niemand mehr ungestraft versuchen, und während noch
bis in die letzten Jahrzehnte der „Samson," der „Judas Maccabäus" und alle
gangbaren Oratorien frischweg in die Rubrik „Kirchenmusik" gestellt wurden,
beginnt neuerdings diese unglaublich thörichte Anschauung einer bessere» histo¬
rischen und ästhetischen Würdigung Platz zu machen.

Wenn wir jedoch zwischen den Aufführungen Händelscher Werke in der
Gegenwart und in jener ersten Periode ihrer Blüte vom Jahre 1810 u. ff.
vergleichen, so kommen wir notwendig auf einen Punkt, der uns wieder an den
dritten Teil unsers Themas erinnert: „Was bleibt noch zu thun?"

In den Konzertverzeichnissen aus jener älteren Periode finden wir in Wien
„Jephta," „Salomon," in Berlin „Joseph," in Hamburg „Belsazar" — in


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0208" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/195597"/>
          <fw type="header" place="top"> Die musikalischen Jubiläen des Jahres ^335.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_712" prev="#ID_711"> unsers deutschen Kulturlebens mit zu bilden scheinen, Oratorien, die vor vierzig<lb/>
Jahren die Passion zu überstrahlen schienen, stehen heute als gealterte Schön¬<lb/>
heiten beiseite &#x2014; die Matthäuspassion bleibt jung, und jedes Jahr steht sie in<lb/>
neuer Frische vor uns, eine Zierde der christlichen Kunst, ein Ruhmesmal<lb/>
ihres Schöpfers, das von nun ab dem Wechsel der Zeiten trotzen wird!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_713"> Was Händel betrifft, so ist der Fortschritt, welchen unsre Zeit der früheren<lb/>
gegenüber in der Pflege seiner Werke gemacht hat, weniger eklatant, aber<lb/>
vorhanden ist er doch. Händel war zu keiner Zeit auch nur annähernd so ver¬<lb/>
gessen und vernachlässigt, wie es Bach, wir dürfen sagen, ein ganzes Jahrhundert<lb/>
hindurch gewesen ist. Wir pflegen die Einführung von Händels Oratorien in<lb/>
das öffentliche Musikleben Deutschlands von den ersten vollständigen Ausfüh¬<lb/>
rungen des &#x201E;Messias" zu datiren, welche Johann Adam Hiller, angeregt durch<lb/>
die bekannte Londoner (um ein Jahr verfrühte) Säkularfeier von Händels Ge¬<lb/>
burtstag &#x2014; dein ersten nachweisbaren Musikfest im modernen Sinne &#x2014; vor<lb/>
nun nahezu hundert Jahren in verschiednen Städten Deutschlands veranstaltete.<lb/>
Doch finden sich bereits in den vorhergehende» Jahrzehnten auf den Pro¬<lb/>
grammen der Liebhaberkonzerte (Berlin, Wien) Chöre von Händel verzeichnet.<lb/>
In ihrer Stellung auf dem Repertoire haben die Händelschen Werke allerdings<lb/>
fette und magere Jahre abwechseln sehen. Eine außerordentlich günstige Periode<lb/>
war die vom Jnhre 1810 bis zur Mitte der zwanziger Jahre. In dieser kamen<lb/>
ihnen das Entstehen der deutschen Musikfeste und der durch die Freiheitskriege<lb/>
entsandte Aufschwung des geistigen Lebens in Deutschland sehr zu statten. Dann<lb/>
folgte eine Periode, wo Händel hinter Friedrich Schneider, L. Spohr und<lb/>
F. Mendelssohn zurückgestellt wurde. Heute ist diese Zeit der Verirrung wieder<lb/>
überstanden. Händels Platz an der Spitze der Oratorienkomponisten wird von<lb/>
niemand länger bestritten, und diese Anschauung kommt in der großen Zahl<lb/>
von Aufführungen, die unsre Chorvereine jahraus jahrein mit Oratorien<lb/>
Händels besetzen, zum praktischen Ausdruck. Noch entschiedener ist der Fort¬<lb/>
schritt, welchen wir in der Ausfassung und Behandlung dieser Werke gemacht<lb/>
haben: Verballhornungen, wie sie vor sechzig Jahren durch Mosel begangen<lb/>
wurden, kann zur Zeit niemand mehr ungestraft versuchen, und während noch<lb/>
bis in die letzten Jahrzehnte der &#x201E;Samson," der &#x201E;Judas Maccabäus" und alle<lb/>
gangbaren Oratorien frischweg in die Rubrik &#x201E;Kirchenmusik" gestellt wurden,<lb/>
beginnt neuerdings diese unglaublich thörichte Anschauung einer bessere» histo¬<lb/>
rischen und ästhetischen Würdigung Platz zu machen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_714"> Wenn wir jedoch zwischen den Aufführungen Händelscher Werke in der<lb/>
Gegenwart und in jener ersten Periode ihrer Blüte vom Jahre 1810 u. ff.<lb/>
vergleichen, so kommen wir notwendig auf einen Punkt, der uns wieder an den<lb/>
dritten Teil unsers Themas erinnert: &#x201E;Was bleibt noch zu thun?"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_715" next="#ID_716"> In den Konzertverzeichnissen aus jener älteren Periode finden wir in Wien<lb/>
&#x201E;Jephta," &#x201E;Salomon," in Berlin &#x201E;Joseph," in Hamburg &#x201E;Belsazar" &#x2014; in</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0208] Die musikalischen Jubiläen des Jahres ^335. unsers deutschen Kulturlebens mit zu bilden scheinen, Oratorien, die vor vierzig Jahren die Passion zu überstrahlen schienen, stehen heute als gealterte Schön¬ heiten beiseite — die Matthäuspassion bleibt jung, und jedes Jahr steht sie in neuer Frische vor uns, eine Zierde der christlichen Kunst, ein Ruhmesmal ihres Schöpfers, das von nun ab dem Wechsel der Zeiten trotzen wird! Was Händel betrifft, so ist der Fortschritt, welchen unsre Zeit der früheren gegenüber in der Pflege seiner Werke gemacht hat, weniger eklatant, aber vorhanden ist er doch. Händel war zu keiner Zeit auch nur annähernd so ver¬ gessen und vernachlässigt, wie es Bach, wir dürfen sagen, ein ganzes Jahrhundert hindurch gewesen ist. Wir pflegen die Einführung von Händels Oratorien in das öffentliche Musikleben Deutschlands von den ersten vollständigen Ausfüh¬ rungen des „Messias" zu datiren, welche Johann Adam Hiller, angeregt durch die bekannte Londoner (um ein Jahr verfrühte) Säkularfeier von Händels Ge¬ burtstag — dein ersten nachweisbaren Musikfest im modernen Sinne — vor nun nahezu hundert Jahren in verschiednen Städten Deutschlands veranstaltete. Doch finden sich bereits in den vorhergehende» Jahrzehnten auf den Pro¬ grammen der Liebhaberkonzerte (Berlin, Wien) Chöre von Händel verzeichnet. In ihrer Stellung auf dem Repertoire haben die Händelschen Werke allerdings fette und magere Jahre abwechseln sehen. Eine außerordentlich günstige Periode war die vom Jnhre 1810 bis zur Mitte der zwanziger Jahre. In dieser kamen ihnen das Entstehen der deutschen Musikfeste und der durch die Freiheitskriege entsandte Aufschwung des geistigen Lebens in Deutschland sehr zu statten. Dann folgte eine Periode, wo Händel hinter Friedrich Schneider, L. Spohr und F. Mendelssohn zurückgestellt wurde. Heute ist diese Zeit der Verirrung wieder überstanden. Händels Platz an der Spitze der Oratorienkomponisten wird von niemand länger bestritten, und diese Anschauung kommt in der großen Zahl von Aufführungen, die unsre Chorvereine jahraus jahrein mit Oratorien Händels besetzen, zum praktischen Ausdruck. Noch entschiedener ist der Fort¬ schritt, welchen wir in der Ausfassung und Behandlung dieser Werke gemacht haben: Verballhornungen, wie sie vor sechzig Jahren durch Mosel begangen wurden, kann zur Zeit niemand mehr ungestraft versuchen, und während noch bis in die letzten Jahrzehnte der „Samson," der „Judas Maccabäus" und alle gangbaren Oratorien frischweg in die Rubrik „Kirchenmusik" gestellt wurden, beginnt neuerdings diese unglaublich thörichte Anschauung einer bessere» histo¬ rischen und ästhetischen Würdigung Platz zu machen. Wenn wir jedoch zwischen den Aufführungen Händelscher Werke in der Gegenwart und in jener ersten Periode ihrer Blüte vom Jahre 1810 u. ff. vergleichen, so kommen wir notwendig auf einen Punkt, der uns wieder an den dritten Teil unsers Themas erinnert: „Was bleibt noch zu thun?" In den Konzertverzeichnissen aus jener älteren Periode finden wir in Wien „Jephta," „Salomon," in Berlin „Joseph," in Hamburg „Belsazar" — in

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/208
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/208>, abgerufen am 22.07.2024.