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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Die musikalischen Jubiläen des Jahres 1335.

Zu den wichtigsten Symptomen einer infolge jener PassionSaufführung sich
bildenden Bachbewcguug gehören noch die im nächsten Jahrzehnt auftauchenden
Versuche mit einzelnen Sätzen der H-nroll-Messe (durch Schelble in Frankfurt,
Mendelssohn in Leipzig), auch die Aufnahme Bachscher Konzerte und größerer
Orchesterkompositioneu in das Repertoire des Leipziger Gewandhauses. Im
ganzen aber kann nicht geleugnet werden, daß auch diese zweite Bachbewcguug
über erfreuliche Anläufe nicht hinauskam. Als im Jahre 1850 der hundert
jährige Todestag Bachs dawar, verhielt sich die praktische Musikwelt zu diesen:
Ereignisse auffällig still. Wir finden in den Zeitungen kaum mehr als eine
kleine Gedenkfeier in Magdeburg und nachträglich eine Aufführung der H-inoll-
Mcsse durch die Drehßigsche Singakademie in Dresden. Die Literatur über
Bach erhielt aus Anlaß des hundertjährigen Todestages einen dankenswerten
Beitrag durch die Biographie von Hilgenfeldt. Seine Arbeit ist heute wissen¬
schaftlich überholt, aber mit Vorsicht darf man sie immer noch benutzen. Ihre
übersichtliche Anlage ermöglicht eine schnelle Orientirung.

Eine einzige That aber machte alle Unterlassungssünden, die man der
musikalischen Welt im Jubiläumsjahre 1850 vorwerfen konnte, wieder gut: die
Gründung der Bachgcsellschaft, welche am hundertjährigen Todestage des Mei¬
sters von Leipziger Musikern ausging, unter denen die Namen von R. Schu¬
mann und M. Hauptmann hervortreten. Das Ziel dieser Gesellschaft war, alle
Werke Johann Sebastian Bachs, welche durch sichere Überlieferung und kritische
Untersuchung als von ihm herrührend nachgewiesen sind, in einer Gesamtaus¬
gabe zu veröffentlichen. Die Mitglieder der Bachgescllschaft verpflichten sich
zu einem jährlichen Beitrage vou fünf Thalern präuumerando und erhalten
für diesen Beitrag jährlich ein Exemplar der veröffentlichten Kompositionen.
Zur Zeit liegen dreißig und etliche Jahresbände in würdigster Ausstattung vor;
bald wird die Arbeit der Bachgesellschaft vollendet sein. Durch sie hat die
wiedererstandene Kunst Bachs das feste Fundament erhalten, und ihr verdanken
wir es zuerst, daß wir heute die Frage: "Wie verhält sich unsre Zeit zu den
Werken Bachs?" in erfreulichem Sinne beantworten können. Dürfen wir auch
noch nicht behaupten, daß die Werke Bachs populär seien, so können wir
doch sagen: Bach ist populär. Wir haben uns in seinen Stil eingelebt, haben
uns geistig und technisch damit befreundet. Mvsewins in Breslau studirte vor
fünfzig Jahren mit seiner tüchtigen Singakademie an den Chorsätzen der Mat-
thäuspassivu acht Monate, zur Vorbereitung des Orchesters brauchte er zwei
Monate. Wieviel schneller geht es heute! Eben diese Matthäuspassion ist
dasjenige unter den Werten Bachs geworden, welches am stärksten vou der all¬
gemeinen Gunst getragen wird. Und nach Süden vordringend, kam sie im
Jahre 1862 auf der letzten Station, Wien, an. Das Werk fand nicht bloß
überall einen glänzenden Empfang, es setzte sich in den Herzen fest, und es ge¬
hört heute zu den wenigen Kunstwerken, die ein Stück, ein wesentliches Stück


Die musikalischen Jubiläen des Jahres 1335.

Zu den wichtigsten Symptomen einer infolge jener PassionSaufführung sich
bildenden Bachbewcguug gehören noch die im nächsten Jahrzehnt auftauchenden
Versuche mit einzelnen Sätzen der H-nroll-Messe (durch Schelble in Frankfurt,
Mendelssohn in Leipzig), auch die Aufnahme Bachscher Konzerte und größerer
Orchesterkompositioneu in das Repertoire des Leipziger Gewandhauses. Im
ganzen aber kann nicht geleugnet werden, daß auch diese zweite Bachbewcguug
über erfreuliche Anläufe nicht hinauskam. Als im Jahre 1850 der hundert
jährige Todestag Bachs dawar, verhielt sich die praktische Musikwelt zu diesen:
Ereignisse auffällig still. Wir finden in den Zeitungen kaum mehr als eine
kleine Gedenkfeier in Magdeburg und nachträglich eine Aufführung der H-inoll-
Mcsse durch die Drehßigsche Singakademie in Dresden. Die Literatur über
Bach erhielt aus Anlaß des hundertjährigen Todestages einen dankenswerten
Beitrag durch die Biographie von Hilgenfeldt. Seine Arbeit ist heute wissen¬
schaftlich überholt, aber mit Vorsicht darf man sie immer noch benutzen. Ihre
übersichtliche Anlage ermöglicht eine schnelle Orientirung.

Eine einzige That aber machte alle Unterlassungssünden, die man der
musikalischen Welt im Jubiläumsjahre 1850 vorwerfen konnte, wieder gut: die
Gründung der Bachgcsellschaft, welche am hundertjährigen Todestage des Mei¬
sters von Leipziger Musikern ausging, unter denen die Namen von R. Schu¬
mann und M. Hauptmann hervortreten. Das Ziel dieser Gesellschaft war, alle
Werke Johann Sebastian Bachs, welche durch sichere Überlieferung und kritische
Untersuchung als von ihm herrührend nachgewiesen sind, in einer Gesamtaus¬
gabe zu veröffentlichen. Die Mitglieder der Bachgescllschaft verpflichten sich
zu einem jährlichen Beitrage vou fünf Thalern präuumerando und erhalten
für diesen Beitrag jährlich ein Exemplar der veröffentlichten Kompositionen.
Zur Zeit liegen dreißig und etliche Jahresbände in würdigster Ausstattung vor;
bald wird die Arbeit der Bachgesellschaft vollendet sein. Durch sie hat die
wiedererstandene Kunst Bachs das feste Fundament erhalten, und ihr verdanken
wir es zuerst, daß wir heute die Frage: „Wie verhält sich unsre Zeit zu den
Werken Bachs?" in erfreulichem Sinne beantworten können. Dürfen wir auch
noch nicht behaupten, daß die Werke Bachs populär seien, so können wir
doch sagen: Bach ist populär. Wir haben uns in seinen Stil eingelebt, haben
uns geistig und technisch damit befreundet. Mvsewins in Breslau studirte vor
fünfzig Jahren mit seiner tüchtigen Singakademie an den Chorsätzen der Mat-
thäuspassivu acht Monate, zur Vorbereitung des Orchesters brauchte er zwei
Monate. Wieviel schneller geht es heute! Eben diese Matthäuspassion ist
dasjenige unter den Werten Bachs geworden, welches am stärksten vou der all¬
gemeinen Gunst getragen wird. Und nach Süden vordringend, kam sie im
Jahre 1862 auf der letzten Station, Wien, an. Das Werk fand nicht bloß
überall einen glänzenden Empfang, es setzte sich in den Herzen fest, und es ge¬
hört heute zu den wenigen Kunstwerken, die ein Stück, ein wesentliches Stück


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[0207] Die musikalischen Jubiläen des Jahres 1335. Zu den wichtigsten Symptomen einer infolge jener PassionSaufführung sich bildenden Bachbewcguug gehören noch die im nächsten Jahrzehnt auftauchenden Versuche mit einzelnen Sätzen der H-nroll-Messe (durch Schelble in Frankfurt, Mendelssohn in Leipzig), auch die Aufnahme Bachscher Konzerte und größerer Orchesterkompositioneu in das Repertoire des Leipziger Gewandhauses. Im ganzen aber kann nicht geleugnet werden, daß auch diese zweite Bachbewcguug über erfreuliche Anläufe nicht hinauskam. Als im Jahre 1850 der hundert jährige Todestag Bachs dawar, verhielt sich die praktische Musikwelt zu diesen: Ereignisse auffällig still. Wir finden in den Zeitungen kaum mehr als eine kleine Gedenkfeier in Magdeburg und nachträglich eine Aufführung der H-inoll- Mcsse durch die Drehßigsche Singakademie in Dresden. Die Literatur über Bach erhielt aus Anlaß des hundertjährigen Todestages einen dankenswerten Beitrag durch die Biographie von Hilgenfeldt. Seine Arbeit ist heute wissen¬ schaftlich überholt, aber mit Vorsicht darf man sie immer noch benutzen. Ihre übersichtliche Anlage ermöglicht eine schnelle Orientirung. Eine einzige That aber machte alle Unterlassungssünden, die man der musikalischen Welt im Jubiläumsjahre 1850 vorwerfen konnte, wieder gut: die Gründung der Bachgcsellschaft, welche am hundertjährigen Todestage des Mei¬ sters von Leipziger Musikern ausging, unter denen die Namen von R. Schu¬ mann und M. Hauptmann hervortreten. Das Ziel dieser Gesellschaft war, alle Werke Johann Sebastian Bachs, welche durch sichere Überlieferung und kritische Untersuchung als von ihm herrührend nachgewiesen sind, in einer Gesamtaus¬ gabe zu veröffentlichen. Die Mitglieder der Bachgescllschaft verpflichten sich zu einem jährlichen Beitrage vou fünf Thalern präuumerando und erhalten für diesen Beitrag jährlich ein Exemplar der veröffentlichten Kompositionen. Zur Zeit liegen dreißig und etliche Jahresbände in würdigster Ausstattung vor; bald wird die Arbeit der Bachgesellschaft vollendet sein. Durch sie hat die wiedererstandene Kunst Bachs das feste Fundament erhalten, und ihr verdanken wir es zuerst, daß wir heute die Frage: „Wie verhält sich unsre Zeit zu den Werken Bachs?" in erfreulichem Sinne beantworten können. Dürfen wir auch noch nicht behaupten, daß die Werke Bachs populär seien, so können wir doch sagen: Bach ist populär. Wir haben uns in seinen Stil eingelebt, haben uns geistig und technisch damit befreundet. Mvsewins in Breslau studirte vor fünfzig Jahren mit seiner tüchtigen Singakademie an den Chorsätzen der Mat- thäuspassivu acht Monate, zur Vorbereitung des Orchesters brauchte er zwei Monate. Wieviel schneller geht es heute! Eben diese Matthäuspassion ist dasjenige unter den Werten Bachs geworden, welches am stärksten vou der all¬ gemeinen Gunst getragen wird. Und nach Süden vordringend, kam sie im Jahre 1862 auf der letzten Station, Wien, an. Das Werk fand nicht bloß überall einen glänzenden Empfang, es setzte sich in den Herzen fest, und es ge¬ hört heute zu den wenigen Kunstwerken, die ein Stück, ein wesentliches Stück

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/207>, abgerufen am 22.07.2024.