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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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arten hängt nun naturgemäß aufs engste mit dem frühern Schema zusammen:
in der Gliederung der Poesie selbst wiederholt sich jene Dreiteilung der
Künste in bildende Kunst. Musik und Poesie selbst wieder. Das Epos,
die erste Kunstart, ist die plastische Poesie, welche die Ereignisse der Außenwelt
anschaulich schildert. (Die Gestalten des Epikers nennt Hegel daher "Skulptur¬
bilder der Vorstellung".) Die zweite Kunstart, die Lyrik, ist die musikalische
Poesie, welche die Bewegungen der Innenwelt bewegend und beweglich hinaus¬
singt. ("Das Wesen des Liedes ist Gesang, nicht Gemälde," ist eines der
lichtbringenden Worte Herders.) Das Drama ist die poetische Kunstform im
höchsten und eigentlichsten Sinne: es stellt dar die Wechselwirkung von Außen-
und Innenwelt im Handeln des selbstbewußten denkenden Menschen. Der Ent¬
wicklung der Gesetze, Arten und Erscheinungen dieser drei Hanptkunstgattuugen ist
nun die größere Hälfte des Werkes gewidmet; von der Fülle und dem Reichtum,
ich möchte fast sagen dem Überreichtum dieses Teiles läßt sich schwerlich in
der Kürze ein Auszug geben. Nur mit flüchtigen Strichen seien einige Haupt¬
gedanken gekennzeichnet. Beim "Wesen und Gesetz des Epos" wird besonders
auf das Gesetz der Stetigkeit, Vollständigkeit und Einheit der epischen Dar¬
stellung hingewiesen, und dabei giebt Carriere überall an entscheidenden Stellen
uicht nur eine Fülle treffender Beispiele, sondern er erinnert auch fleißig an
einschlagende theoretische Ausführungen, z. B. bei Schiller und Goethe, oder bei
andern hervorragenden Ästhetikern, wobei jedoch Herbart und seine Schule zu
kurz gekommen ist; gerade bei Herbart finden sich z. B. über das Epos ganz
vortreffliche Bemerkungen. Es wird dann gezeigt, inwiefern das Epos als
die "Morgenröte der Kultur" bezeichnet werden könne; das wird nicht nur in
üblicher Weise an Homer und dem Nibelungenlied gezeigt, sondern auch an
dem in den Thvntäfelchm von Ninive entdeckten semitischen Bolkscpos, an
Firdusi, den Schack bei uns eingebürgert hat, am finnischen Epos Kalcwala,
dessen allmähliche Entstehung in der neuern Zeit sich ja ganz genau verfolgen
läßt. Der Vergleichung des indischen, persischen, griechischen und germanischen
Epos (diese hat auch W. Jordan zusammengestellt) ist ein großer Abschnitt
eingeräumt, der für das Verständnis des Werdens und Wesens der epischen
Gedichte grundlegende Einsichten enthält. Die neuesten Nnschaunngcn über
den Zusammenhang von Mythus und Geschichte und ihr Jneinanderspielen im
Epos finden dabei sorgsame Würdigung; ein interessantes Beispiel davon haben wir
ja selbst in diesen Tagen erlebt, als Bismarck die Geschichte Deutschlands durch
den düstern Mythus vou Baldur, Loki und Hödur deutete. Daran mag
einmal eine epische Verherrlichung unsrer großen Zeit anknüpfen; der Unter¬
schied, den Carriere sehr treffend zwischen den epischen Gestalten der griechischen
und der deutschen Poesie macht, würde auch sur diesen Fall -- und wie
schlagend -- gelten: "Die griechischen Gestalten sind lichthelle Marmvrgebilde,
auf deren Stirn die ewige Götterjugend lächelnd thront; die deutscheu sind wie


arten hängt nun naturgemäß aufs engste mit dem frühern Schema zusammen:
in der Gliederung der Poesie selbst wiederholt sich jene Dreiteilung der
Künste in bildende Kunst. Musik und Poesie selbst wieder. Das Epos,
die erste Kunstart, ist die plastische Poesie, welche die Ereignisse der Außenwelt
anschaulich schildert. (Die Gestalten des Epikers nennt Hegel daher „Skulptur¬
bilder der Vorstellung".) Die zweite Kunstart, die Lyrik, ist die musikalische
Poesie, welche die Bewegungen der Innenwelt bewegend und beweglich hinaus¬
singt. („Das Wesen des Liedes ist Gesang, nicht Gemälde," ist eines der
lichtbringenden Worte Herders.) Das Drama ist die poetische Kunstform im
höchsten und eigentlichsten Sinne: es stellt dar die Wechselwirkung von Außen-
und Innenwelt im Handeln des selbstbewußten denkenden Menschen. Der Ent¬
wicklung der Gesetze, Arten und Erscheinungen dieser drei Hanptkunstgattuugen ist
nun die größere Hälfte des Werkes gewidmet; von der Fülle und dem Reichtum,
ich möchte fast sagen dem Überreichtum dieses Teiles läßt sich schwerlich in
der Kürze ein Auszug geben. Nur mit flüchtigen Strichen seien einige Haupt¬
gedanken gekennzeichnet. Beim „Wesen und Gesetz des Epos" wird besonders
auf das Gesetz der Stetigkeit, Vollständigkeit und Einheit der epischen Dar¬
stellung hingewiesen, und dabei giebt Carriere überall an entscheidenden Stellen
uicht nur eine Fülle treffender Beispiele, sondern er erinnert auch fleißig an
einschlagende theoretische Ausführungen, z. B. bei Schiller und Goethe, oder bei
andern hervorragenden Ästhetikern, wobei jedoch Herbart und seine Schule zu
kurz gekommen ist; gerade bei Herbart finden sich z. B. über das Epos ganz
vortreffliche Bemerkungen. Es wird dann gezeigt, inwiefern das Epos als
die „Morgenröte der Kultur" bezeichnet werden könne; das wird nicht nur in
üblicher Weise an Homer und dem Nibelungenlied gezeigt, sondern auch an
dem in den Thvntäfelchm von Ninive entdeckten semitischen Bolkscpos, an
Firdusi, den Schack bei uns eingebürgert hat, am finnischen Epos Kalcwala,
dessen allmähliche Entstehung in der neuern Zeit sich ja ganz genau verfolgen
läßt. Der Vergleichung des indischen, persischen, griechischen und germanischen
Epos (diese hat auch W. Jordan zusammengestellt) ist ein großer Abschnitt
eingeräumt, der für das Verständnis des Werdens und Wesens der epischen
Gedichte grundlegende Einsichten enthält. Die neuesten Nnschaunngcn über
den Zusammenhang von Mythus und Geschichte und ihr Jneinanderspielen im
Epos finden dabei sorgsame Würdigung; ein interessantes Beispiel davon haben wir
ja selbst in diesen Tagen erlebt, als Bismarck die Geschichte Deutschlands durch
den düstern Mythus vou Baldur, Loki und Hödur deutete. Daran mag
einmal eine epische Verherrlichung unsrer großen Zeit anknüpfen; der Unter¬
schied, den Carriere sehr treffend zwischen den epischen Gestalten der griechischen
und der deutschen Poesie macht, würde auch sur diesen Fall — und wie
schlagend — gelten: „Die griechischen Gestalten sind lichthelle Marmvrgebilde,
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/148>, abgerufen am 22.07.2024.