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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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aus Erz gegossen, mitunter grau wie Eisen und schneidig wie das Schwert,
aber mit der geheimnisvollen Zugkraft des Magnets begabt." Ausführlich und
sinnig wird Schillers Plan eines Epos über Friedrich den Großen besprochen.
Dann gehts zum Roman, dessen Gesetz darin besteht, daß bildsame Naturen in
stetiger Entfaltung dargestellt werden. Mit Worten Scheffels und Spielhagens
wird der nationale und der kosmopolitische Roman dargestellt; es folgt die
Novelle, das Märchen u. s. w. Mit der "epischen Gedankendichtung" (z. B.
Lucretius' Os rerrmr n^tura,, Dantes viviusi omrrväiü.) wird der Abschnitt über
das Epos geschlossen. Es kommt die Lyrik und ihre Subjektivität; denn darin
besteht der Unterschied beider, daß der Epiker hinter seinem Werk verschwindet,
während der Lyriker selbst in den Mittelpunkt tritt. Das Haupt der Epiker
ist Homer, das der Lyriker Goethe. "Wenn einmal die Dichter aller Nationen
zum Wettkampf in die Halle der Weltliteratur eintreten, dann wird niemand
die Palme des Epos dem Vater Homer versagen, dann wird Dionysos den
Epheu des dramatischen Sieges dem Briten Shakespeare reichen, aber der
Rosen- und Lorbcrkranz des Lyrikers wird Goethes Haupt schmücken."

Dem Drama ist innerhalb der Gesamtdarstellung von Epos, Lyrik und
Drama wiederum der ungleich größere Teil gewidmet -- naturgemäß, weil nach
Carrieres Ansicht das Drama der Gipfel der Poesie ist: "Für die Betrachtung
der Kunst bildet das Schauspiel den Schlußstein, indem es auf einer Durch¬
dringung und Verschmelzung der epischen und lyrischen Elemente beruht und
auch historisch immer erst dann zur Ausbildung kommt, wenn diese bereits ent¬
faltet waren." Der freie, freigewordene Mensch ist die Voraussetzung des
Dramas; in diesem Sinne lehrt Geibel:


Die belebende Seele des Dramas
Bleibt das Menschcngcmiit im Kampf mit sich selbst und dem Weltlauf,
Wenn zur Rechten sich ihm zur Linken die Pfade verwirren,
Während der Stunde Gebot mit Gewalt fortdrängt zur Entscheidung.

Das "Gesetz der Motivirung" ist das Grundgesetz des Dramas, woraus
unmittelbar hervorgeht, daß nicht die antike Schicksalstragödie, sondern die mo¬
derne Freiheitstragödic das Vollendetere ist. Eine ausführliche Besprechung
erhält natürlich das mißverstandene "Gesetz der drei Einheiten," der Einheit
von Raum, Zeit und Handlung, an deren Stelle die Einheit der Weltlage, die
Stetigkeit der Zeitentwicklung und die organische Einheitlichkeit der differenten
Handlungen tritt. Insbesondre gegenüber der ganz falsch verstandenen Forde¬
rung der "Einheit der Zeit" wird auf die Stetigkeit der innern Entwicklung hin¬
gewiesen und auf die Notwendigkeit, "hinter den engeren dramatischen Vorder¬
grund eine größere Zeittiefe einzutragen; und wie durch die Perspektive der
Raum, so erweitert sich die Zeit im Hintergründe nach den Erfordernissen der
Handlung." Dann werden die acht Momente, welche Freytag im Drama unter¬
scheidet, kritisch besprochen. Sodann folgt die Darstellung der dramatischen


aus Erz gegossen, mitunter grau wie Eisen und schneidig wie das Schwert,
aber mit der geheimnisvollen Zugkraft des Magnets begabt." Ausführlich und
sinnig wird Schillers Plan eines Epos über Friedrich den Großen besprochen.
Dann gehts zum Roman, dessen Gesetz darin besteht, daß bildsame Naturen in
stetiger Entfaltung dargestellt werden. Mit Worten Scheffels und Spielhagens
wird der nationale und der kosmopolitische Roman dargestellt; es folgt die
Novelle, das Märchen u. s. w. Mit der „epischen Gedankendichtung" (z. B.
Lucretius' Os rerrmr n^tura,, Dantes viviusi omrrväiü.) wird der Abschnitt über
das Epos geschlossen. Es kommt die Lyrik und ihre Subjektivität; denn darin
besteht der Unterschied beider, daß der Epiker hinter seinem Werk verschwindet,
während der Lyriker selbst in den Mittelpunkt tritt. Das Haupt der Epiker
ist Homer, das der Lyriker Goethe. „Wenn einmal die Dichter aller Nationen
zum Wettkampf in die Halle der Weltliteratur eintreten, dann wird niemand
die Palme des Epos dem Vater Homer versagen, dann wird Dionysos den
Epheu des dramatischen Sieges dem Briten Shakespeare reichen, aber der
Rosen- und Lorbcrkranz des Lyrikers wird Goethes Haupt schmücken."

Dem Drama ist innerhalb der Gesamtdarstellung von Epos, Lyrik und
Drama wiederum der ungleich größere Teil gewidmet — naturgemäß, weil nach
Carrieres Ansicht das Drama der Gipfel der Poesie ist: „Für die Betrachtung
der Kunst bildet das Schauspiel den Schlußstein, indem es auf einer Durch¬
dringung und Verschmelzung der epischen und lyrischen Elemente beruht und
auch historisch immer erst dann zur Ausbildung kommt, wenn diese bereits ent¬
faltet waren." Der freie, freigewordene Mensch ist die Voraussetzung des
Dramas; in diesem Sinne lehrt Geibel:


Die belebende Seele des Dramas
Bleibt das Menschcngcmiit im Kampf mit sich selbst und dem Weltlauf,
Wenn zur Rechten sich ihm zur Linken die Pfade verwirren,
Während der Stunde Gebot mit Gewalt fortdrängt zur Entscheidung.

Das „Gesetz der Motivirung" ist das Grundgesetz des Dramas, woraus
unmittelbar hervorgeht, daß nicht die antike Schicksalstragödie, sondern die mo¬
derne Freiheitstragödic das Vollendetere ist. Eine ausführliche Besprechung
erhält natürlich das mißverstandene „Gesetz der drei Einheiten," der Einheit
von Raum, Zeit und Handlung, an deren Stelle die Einheit der Weltlage, die
Stetigkeit der Zeitentwicklung und die organische Einheitlichkeit der differenten
Handlungen tritt. Insbesondre gegenüber der ganz falsch verstandenen Forde¬
rung der „Einheit der Zeit" wird auf die Stetigkeit der innern Entwicklung hin¬
gewiesen und auf die Notwendigkeit, „hinter den engeren dramatischen Vorder¬
grund eine größere Zeittiefe einzutragen; und wie durch die Perspektive der
Raum, so erweitert sich die Zeit im Hintergründe nach den Erfordernissen der
Handlung." Dann werden die acht Momente, welche Freytag im Drama unter¬
scheidet, kritisch besprochen. Sodann folgt die Darstellung der dramatischen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/149>, abgerufen am 23.07.2024.