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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Moriz Carriere über die Poesie.

fühl in ihrer Verflechtung und Verschmelzung, sein Gedankenreich erbaut sich
aus beiden und wird durch beide Versinnlicht. Der Doppelgegensatz von Außen-
und Innenwelt, von Anschauung und Gefühl, jenes ein metaphysischer, dies ein
psychologischer Gegensatz, findet in der Poesie seine Versöhnung. Der Natur
der Sache gemäß hat sich Carriere hier besonders mit Lessing auseinanderzu¬
setzen, der im "Laokoon" die Grenze zwischen Poesie und bildender Kunst ge¬
zogen hat. Das Verhältnis der Poesie zur Musik dagegen hat Carriere hier
wohl zu kurz behandelt: daß gerade hier ein neuer Lessing die durch Wagner
verwischten Grenzen ziehen müßte, ist ein Gedanke, der schon mehrfach als De¬
siderat ausgesprochen worden ist. Ist nun, wie Carriere in der oben mit¬
geteilten Konstruktion annimmt, die Poesie die höhere Einheit von bildender
Kunst und Musik, so müssen auch ihre Darstellungsmittel nach jenen beiden
Seiten hin sich differenziren, und das ist auch der Fall; die "Bildlichkeit der
Rede" ist das eine, das plastische Darstellungsmittel der Poesie; der Vers ist
das andre, das musikalische. Bildlichkeit der Rede einerseits und rhythmische
Form (im weitesten Sinne) andrerseits sind aber eben die beiden Mittel, welche
zusammenwirken müssen, um erst ein poetisches Kunstwerk zu schaffe". Diese
interessante Konstruktion erhält noch eine anderweitige Bestätigung. Das Ma¬
terial der Poesie ist die Sprache: in der Bildung der Sprache kommen nun
ebenfalls die beiden Elemente des Plastisch-Bildlichen und des Musikalischen
zur Geltung; daher eben ist es erklärlich, daß alle Sprachen in den ersten
Perioden ihrer Entwicklung so poetisch sind, und daß es als die Aufgabe
des Dichters bezeichnet werden kann, die an sich poetische Muttersprache der
Völker wieder zu sprechen, und ein Gedicht ist von diesem Standpunkt aus
betrachtet eben eine Rückkehr zur anschaulich-musikalischen Ausdrucksweise des
Urmenschen von der in beiderlei Hinsicht abgeschliffenen Sprache der spätern
Zeit, welche nicht mehr Bilder durch Gesang, sondern Begriffe durch Geräusche
ausdrückt: daher eben auch die Poesie der "Jugendbrunnen," aus dem der
Mann Kraft schöpft, daher eben der Dichter ein -- "ewiges Kind." Mit
Recht nennt daher eben auch andrerseits Bunsen die Prägung der Worte "das
ursprüngliche Gedicht der Menschheit." In einem herrlichen Gedichte wird be¬
kanntlich der letzte Mensch und der letzte Dichter identifizirt; man könnte ebenso
poetisch darstellen, wie mit dem ersten Menschen auch der erste Dichter in die
Welt gekommen ist. Auf geistvolle Weise stellt in Übereinstimmung damit Richard
Wagner der Poesie die Aufgabe, das verlorene Wurzclbewußtscin wieder zu
erwerben, das im Worte liegende Sinnbild neu zu beleben.

Nachdem Carriere in dem Kapitel über die poetischen Darstellungsmittel
alle Arten der Bildersprache einerseits und der Versifikativn andrerseits von
den einfachsten bis zu den gekünsteltsten ausführlich, immer ebenso geistreich als
durch Beispiele anschaulich erläuternd, besprochen hat, geht er zur Gliederung
der Poesie in ihren drei Hauptarten über. Die Gliederung dieser drei Haupt-


Moriz Carriere über die Poesie.

fühl in ihrer Verflechtung und Verschmelzung, sein Gedankenreich erbaut sich
aus beiden und wird durch beide Versinnlicht. Der Doppelgegensatz von Außen-
und Innenwelt, von Anschauung und Gefühl, jenes ein metaphysischer, dies ein
psychologischer Gegensatz, findet in der Poesie seine Versöhnung. Der Natur
der Sache gemäß hat sich Carriere hier besonders mit Lessing auseinanderzu¬
setzen, der im „Laokoon" die Grenze zwischen Poesie und bildender Kunst ge¬
zogen hat. Das Verhältnis der Poesie zur Musik dagegen hat Carriere hier
wohl zu kurz behandelt: daß gerade hier ein neuer Lessing die durch Wagner
verwischten Grenzen ziehen müßte, ist ein Gedanke, der schon mehrfach als De¬
siderat ausgesprochen worden ist. Ist nun, wie Carriere in der oben mit¬
geteilten Konstruktion annimmt, die Poesie die höhere Einheit von bildender
Kunst und Musik, so müssen auch ihre Darstellungsmittel nach jenen beiden
Seiten hin sich differenziren, und das ist auch der Fall; die „Bildlichkeit der
Rede" ist das eine, das plastische Darstellungsmittel der Poesie; der Vers ist
das andre, das musikalische. Bildlichkeit der Rede einerseits und rhythmische
Form (im weitesten Sinne) andrerseits sind aber eben die beiden Mittel, welche
zusammenwirken müssen, um erst ein poetisches Kunstwerk zu schaffe». Diese
interessante Konstruktion erhält noch eine anderweitige Bestätigung. Das Ma¬
terial der Poesie ist die Sprache: in der Bildung der Sprache kommen nun
ebenfalls die beiden Elemente des Plastisch-Bildlichen und des Musikalischen
zur Geltung; daher eben ist es erklärlich, daß alle Sprachen in den ersten
Perioden ihrer Entwicklung so poetisch sind, und daß es als die Aufgabe
des Dichters bezeichnet werden kann, die an sich poetische Muttersprache der
Völker wieder zu sprechen, und ein Gedicht ist von diesem Standpunkt aus
betrachtet eben eine Rückkehr zur anschaulich-musikalischen Ausdrucksweise des
Urmenschen von der in beiderlei Hinsicht abgeschliffenen Sprache der spätern
Zeit, welche nicht mehr Bilder durch Gesang, sondern Begriffe durch Geräusche
ausdrückt: daher eben auch die Poesie der „Jugendbrunnen," aus dem der
Mann Kraft schöpft, daher eben der Dichter ein — „ewiges Kind." Mit
Recht nennt daher eben auch andrerseits Bunsen die Prägung der Worte „das
ursprüngliche Gedicht der Menschheit." In einem herrlichen Gedichte wird be¬
kanntlich der letzte Mensch und der letzte Dichter identifizirt; man könnte ebenso
poetisch darstellen, wie mit dem ersten Menschen auch der erste Dichter in die
Welt gekommen ist. Auf geistvolle Weise stellt in Übereinstimmung damit Richard
Wagner der Poesie die Aufgabe, das verlorene Wurzclbewußtscin wieder zu
erwerben, das im Worte liegende Sinnbild neu zu beleben.

Nachdem Carriere in dem Kapitel über die poetischen Darstellungsmittel
alle Arten der Bildersprache einerseits und der Versifikativn andrerseits von
den einfachsten bis zu den gekünsteltsten ausführlich, immer ebenso geistreich als
durch Beispiele anschaulich erläuternd, besprochen hat, geht er zur Gliederung
der Poesie in ihren drei Hauptarten über. Die Gliederung dieser drei Haupt-


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[0147] Moriz Carriere über die Poesie. fühl in ihrer Verflechtung und Verschmelzung, sein Gedankenreich erbaut sich aus beiden und wird durch beide Versinnlicht. Der Doppelgegensatz von Außen- und Innenwelt, von Anschauung und Gefühl, jenes ein metaphysischer, dies ein psychologischer Gegensatz, findet in der Poesie seine Versöhnung. Der Natur der Sache gemäß hat sich Carriere hier besonders mit Lessing auseinanderzu¬ setzen, der im „Laokoon" die Grenze zwischen Poesie und bildender Kunst ge¬ zogen hat. Das Verhältnis der Poesie zur Musik dagegen hat Carriere hier wohl zu kurz behandelt: daß gerade hier ein neuer Lessing die durch Wagner verwischten Grenzen ziehen müßte, ist ein Gedanke, der schon mehrfach als De¬ siderat ausgesprochen worden ist. Ist nun, wie Carriere in der oben mit¬ geteilten Konstruktion annimmt, die Poesie die höhere Einheit von bildender Kunst und Musik, so müssen auch ihre Darstellungsmittel nach jenen beiden Seiten hin sich differenziren, und das ist auch der Fall; die „Bildlichkeit der Rede" ist das eine, das plastische Darstellungsmittel der Poesie; der Vers ist das andre, das musikalische. Bildlichkeit der Rede einerseits und rhythmische Form (im weitesten Sinne) andrerseits sind aber eben die beiden Mittel, welche zusammenwirken müssen, um erst ein poetisches Kunstwerk zu schaffe». Diese interessante Konstruktion erhält noch eine anderweitige Bestätigung. Das Ma¬ terial der Poesie ist die Sprache: in der Bildung der Sprache kommen nun ebenfalls die beiden Elemente des Plastisch-Bildlichen und des Musikalischen zur Geltung; daher eben ist es erklärlich, daß alle Sprachen in den ersten Perioden ihrer Entwicklung so poetisch sind, und daß es als die Aufgabe des Dichters bezeichnet werden kann, die an sich poetische Muttersprache der Völker wieder zu sprechen, und ein Gedicht ist von diesem Standpunkt aus betrachtet eben eine Rückkehr zur anschaulich-musikalischen Ausdrucksweise des Urmenschen von der in beiderlei Hinsicht abgeschliffenen Sprache der spätern Zeit, welche nicht mehr Bilder durch Gesang, sondern Begriffe durch Geräusche ausdrückt: daher eben auch die Poesie der „Jugendbrunnen," aus dem der Mann Kraft schöpft, daher eben der Dichter ein — „ewiges Kind." Mit Recht nennt daher eben auch andrerseits Bunsen die Prägung der Worte „das ursprüngliche Gedicht der Menschheit." In einem herrlichen Gedichte wird be¬ kanntlich der letzte Mensch und der letzte Dichter identifizirt; man könnte ebenso poetisch darstellen, wie mit dem ersten Menschen auch der erste Dichter in die Welt gekommen ist. Auf geistvolle Weise stellt in Übereinstimmung damit Richard Wagner der Poesie die Aufgabe, das verlorene Wurzclbewußtscin wieder zu erwerben, das im Worte liegende Sinnbild neu zu beleben. Nachdem Carriere in dem Kapitel über die poetischen Darstellungsmittel alle Arten der Bildersprache einerseits und der Versifikativn andrerseits von den einfachsten bis zu den gekünsteltsten ausführlich, immer ebenso geistreich als durch Beispiele anschaulich erläuternd, besprochen hat, geht er zur Gliederung der Poesie in ihren drei Hauptarten über. Die Gliederung dieser drei Haupt-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/147>, abgerufen am 22.07.2024.