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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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dasselbe Thema berühren.*) Da ist lebendiges Nationalgefühl! Wohl selten
hat des Verfassers Eigenart sich so glücklich bethätigt, wie in der Arbeit "Nord
und Süd in der deutschen Kultur." Wir wissen ja, wie scharf und fein er die
Charakterzüge in den deutschen Volksstämmen beobachtet und den Beziehungen
zwischen ihnen und dem heimatliche:: Boden nachgeht. Hier nun finden seine
derartigen Studien praktische Verwendung bei den: Nachweise des Anteils,
welchen die verschiednen Gegenden an der Gestaltung der deutschen Geschichte
genommen haben, einander ablösend, bekämpfend, ergänzend oder ersetzend. Das
ganze Reich in verschiednen Richtungen durchmessend, läßt Riehl überall die
Mensche:: in ihrer Besonderheit und geschichtlichen Bedeutung auf dem Hinter¬
grunde ihrer Landschaften und Städte scharf umrissen aufstehen und zeigt, daß
in der Menge stark ausgeprägter Vvlksindividualitütcn, so schwer sie oft dem
armen Deutschland das Leben gemacht haben, doch auch wieder das Geheimnis
seiner unerschöpflichen Lebenskraft liegt. So oft sich ein Stamm aufgebraucht
zu habe:: scheint, tritt ein andrer jugendfrisch an seinen Platz, die "Knlturachse"
verschiebt sich, der Schwerpunkt verrückt sich aller paar Jahrhunderte, der tiefste
Fall, die ärgste Zerrissenheit birgt in sich bereits den Keim neuer Erstarkung.

"Der Fremde wundert sich, daß Deutschland vor lauter Übergängen nicht
längst zu gründe gegangen ist. Wer aber Deutschland kennt und die Deutschen
versteht, dem enthüllt sich hier vielmehr ein Hauptpunkt seiner unverwüstlichen
Dauer. In den düsteren Tagen des stinkenden neunten Jahrhunderts schien es,
als ob Deutschland sich in ein Chaos auflöse; auf die Karolinger folgten die
sächsischen Könige und Kaiser -- Deutschland erstand aufs neue. Im Wende-
punkt des elften und zwölften Jahrhunderts schien sich unser Vaterland zu ver¬
bluten durch den Kampf der "zwei Schwerter"; das Reich der fränkischen
Salier sank, aber nur damit sich das Reich der schwäbischen Staufer umso
glanzvoller erhebe. Im dreizehnten Jahrhundert, in "der kaiserlosen, der
schrecklichen Zeit" des Interregnums, schien es mit uns gar aus und vorbei,
da schaffte der strenge Habsburger wieder Recht und Ordnung im Reiche. Zur
Reformationszeit zerrann die alte politische Macht der Deutschen, aber eine
neue Geistesmacht zog aus unsern Landen siegreich durch halb Europa. Nach
dem dreißigjährigen Kriege waren unsre Gaue eine Wüste geworden und unser
gemeinsames Staatswesen ein Spott. Doch erst stille, dann immer lauter und
gewaltiger begann die innere Erhebung deutscher Kultur, die uns im achtzehnten
Jahrhundert wieder zu einer Großmacht des Geistesschaffens erhob. Zur Zeit
der napoleonischen Herrschaft lag Deutschland zerstückelt darnieder und in Dienst¬
barkeit versunken. Gerade die Dienstbarkeit schuf uns Kraft, die Fesseln zu
breche::. Durch das Nationalbewußtsein kamen wir wieder zum Staatsbewußtsein.
Andre Völker gingen den umgekehrten Weg. Wechselnd tritt in der deutschen



") Freie Vortrage. Zweite Sammlung. Stuttgart. I. G. Cotta. 1888.

dasselbe Thema berühren.*) Da ist lebendiges Nationalgefühl! Wohl selten
hat des Verfassers Eigenart sich so glücklich bethätigt, wie in der Arbeit „Nord
und Süd in der deutschen Kultur." Wir wissen ja, wie scharf und fein er die
Charakterzüge in den deutschen Volksstämmen beobachtet und den Beziehungen
zwischen ihnen und dem heimatliche:: Boden nachgeht. Hier nun finden seine
derartigen Studien praktische Verwendung bei den: Nachweise des Anteils,
welchen die verschiednen Gegenden an der Gestaltung der deutschen Geschichte
genommen haben, einander ablösend, bekämpfend, ergänzend oder ersetzend. Das
ganze Reich in verschiednen Richtungen durchmessend, läßt Riehl überall die
Mensche:: in ihrer Besonderheit und geschichtlichen Bedeutung auf dem Hinter¬
grunde ihrer Landschaften und Städte scharf umrissen aufstehen und zeigt, daß
in der Menge stark ausgeprägter Vvlksindividualitütcn, so schwer sie oft dem
armen Deutschland das Leben gemacht haben, doch auch wieder das Geheimnis
seiner unerschöpflichen Lebenskraft liegt. So oft sich ein Stamm aufgebraucht
zu habe:: scheint, tritt ein andrer jugendfrisch an seinen Platz, die „Knlturachse"
verschiebt sich, der Schwerpunkt verrückt sich aller paar Jahrhunderte, der tiefste
Fall, die ärgste Zerrissenheit birgt in sich bereits den Keim neuer Erstarkung.

„Der Fremde wundert sich, daß Deutschland vor lauter Übergängen nicht
längst zu gründe gegangen ist. Wer aber Deutschland kennt und die Deutschen
versteht, dem enthüllt sich hier vielmehr ein Hauptpunkt seiner unverwüstlichen
Dauer. In den düsteren Tagen des stinkenden neunten Jahrhunderts schien es,
als ob Deutschland sich in ein Chaos auflöse; auf die Karolinger folgten die
sächsischen Könige und Kaiser — Deutschland erstand aufs neue. Im Wende-
punkt des elften und zwölften Jahrhunderts schien sich unser Vaterland zu ver¬
bluten durch den Kampf der »zwei Schwerter«; das Reich der fränkischen
Salier sank, aber nur damit sich das Reich der schwäbischen Staufer umso
glanzvoller erhebe. Im dreizehnten Jahrhundert, in »der kaiserlosen, der
schrecklichen Zeit« des Interregnums, schien es mit uns gar aus und vorbei,
da schaffte der strenge Habsburger wieder Recht und Ordnung im Reiche. Zur
Reformationszeit zerrann die alte politische Macht der Deutschen, aber eine
neue Geistesmacht zog aus unsern Landen siegreich durch halb Europa. Nach
dem dreißigjährigen Kriege waren unsre Gaue eine Wüste geworden und unser
gemeinsames Staatswesen ein Spott. Doch erst stille, dann immer lauter und
gewaltiger begann die innere Erhebung deutscher Kultur, die uns im achtzehnten
Jahrhundert wieder zu einer Großmacht des Geistesschaffens erhob. Zur Zeit
der napoleonischen Herrschaft lag Deutschland zerstückelt darnieder und in Dienst¬
barkeit versunken. Gerade die Dienstbarkeit schuf uns Kraft, die Fesseln zu
breche::. Durch das Nationalbewußtsein kamen wir wieder zum Staatsbewußtsein.
Andre Völker gingen den umgekehrten Weg. Wechselnd tritt in der deutschen



») Freie Vortrage. Zweite Sammlung. Stuttgart. I. G. Cotta. 1888.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/695>, abgerufen am 22.07.2024.