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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Natur auf, nicht um die einzelnen Worte Silbe für Silbe nachzubuchstabiren,
sondern um der Natur ihre Geheimnisse abzufragen, um bis in den tiefsten
Grund ihrer Seele hinabzusteigen und das Erfahrene dann nach den Eindrücken
widerzuspiegeln, die es in seiner eignen großen Seele hinterlassen hat. Mit
dem ABC der Landschaftsmalerei, mit der direkten Studie nach der Natur,
hatte sich Rubens selbstverständlich ebenso eingehend beschäftigt wie die Land¬
schaftsmaler ex xratöWv. In den verschieden Sammlungen lassen sich noch
etwa dreißig solcher mit Kreide, Feder und farbigen Stiften gezeichneten Nntur-
studieu nachweisen, die vom Künstler, wie es scheint, nicht immer für einen
bestimmten Zweck, sondern gelegentlich auch zur Auffrischung seines Naturgefühls
angefertigt worden sind. Bis zu welcher Feinheit er schon frühzeitig gelaugt
war, beweist am besten eine mit brauner und blauer Tusche gehobene Feder¬
zeichnung im Berliner Kupferstichkabinet, welche man für die Arbeit eines
modernen Naturalisten halten würde, wenn die Rückseite des Blattes nicht von
Rubens' unverkennbarer eigner Hand die Aufschrift trüge: 1610 av tiosvs
rug'Ks voll, (der Hof beim rauhen Feld) ?. I>> R-nMons. Wir blicken auf ein
mit Stroh gedecktes Bciueruhaus, vor dem ein leerer Wagen steht. Rechts
steht ein zweites Geführt unter einem gleichfalls mit Schindeln gedeckten
Schuppen, und im Vordergrunde links sieht man den Backofen unter einem
von Stützen gehaltenen Dache. Keine figürliche Staffage erinnert an die Zeit,
und dadurch wird die Illusion der modernen Entstehung dieses Bildes noch
erhöht. Da der Verdacht der Fälschung ausgeschlossen ist, giebt uns dieses
Blatt von neuem die Gewißheit, daß der Prüfstein echter Künstler ihre Stellung
der Natur gegenüber ist und daß die Entfernung der Jahrhunderte keinen
Unterschied darin macht. Das Dresdner Kupferstichkabinet besitzt eine ähnliche,
mir etwas sorgfältiger behandelte Studie, deren Motiv offenbar derselben
Gegend entlehnt ist. Hier sind ^vier mit Stroh gedeckte Bauernhäuser um
einen Tümpel gruppirt, vor welchem sich einige Schweine aufhalten. Drei
Menschen und zwei Hunde bilden die übrige, nur flüchtig angedeutete
Staffage der Landschaft, welche den ersten Schmuck des Frühlings trägt,
während die völlig kahlen Bäume der Berliner Zeichnung auf den Winter
deuten. Die Details sind auf beiden Zeichnungen von dem Standpunkte
eines Malers aufgefaßt, welcher jedes Blatt, jeden Zweig so gründlich studirt
hat, daß ihm ans diesem Studium die Berechtigung erwachsen ist, ganze
Gruppen des Naturganzen summarisch zu sehen und so gleichsam einen Auszug
aus dem Buche der Natur zu machen. Eine mit schwarzer und weißer Kreide
ans graublauem Papier gezeichnete Baumstudie im Louvre lehrt uns, daß Rubens
jedes Blatt so genau zu fixiren und von seinem Nachbar zu sondern wußte
wie Brueghel. Er war sich aber vollkommen der höheren Aufgabe des Land¬
schaftsmalers bewußt, die Fülle der einzelnen Erscheinungen zu einem in sich
harmonisch abgeschlossenen Ganzen zu vereinigen und in diesem Ganzen eine


Natur auf, nicht um die einzelnen Worte Silbe für Silbe nachzubuchstabiren,
sondern um der Natur ihre Geheimnisse abzufragen, um bis in den tiefsten
Grund ihrer Seele hinabzusteigen und das Erfahrene dann nach den Eindrücken
widerzuspiegeln, die es in seiner eignen großen Seele hinterlassen hat. Mit
dem ABC der Landschaftsmalerei, mit der direkten Studie nach der Natur,
hatte sich Rubens selbstverständlich ebenso eingehend beschäftigt wie die Land¬
schaftsmaler ex xratöWv. In den verschieden Sammlungen lassen sich noch
etwa dreißig solcher mit Kreide, Feder und farbigen Stiften gezeichneten Nntur-
studieu nachweisen, die vom Künstler, wie es scheint, nicht immer für einen
bestimmten Zweck, sondern gelegentlich auch zur Auffrischung seines Naturgefühls
angefertigt worden sind. Bis zu welcher Feinheit er schon frühzeitig gelaugt
war, beweist am besten eine mit brauner und blauer Tusche gehobene Feder¬
zeichnung im Berliner Kupferstichkabinet, welche man für die Arbeit eines
modernen Naturalisten halten würde, wenn die Rückseite des Blattes nicht von
Rubens' unverkennbarer eigner Hand die Aufschrift trüge: 1610 av tiosvs
rug'Ks voll, (der Hof beim rauhen Feld) ?. I>> R-nMons. Wir blicken auf ein
mit Stroh gedecktes Bciueruhaus, vor dem ein leerer Wagen steht. Rechts
steht ein zweites Geführt unter einem gleichfalls mit Schindeln gedeckten
Schuppen, und im Vordergrunde links sieht man den Backofen unter einem
von Stützen gehaltenen Dache. Keine figürliche Staffage erinnert an die Zeit,
und dadurch wird die Illusion der modernen Entstehung dieses Bildes noch
erhöht. Da der Verdacht der Fälschung ausgeschlossen ist, giebt uns dieses
Blatt von neuem die Gewißheit, daß der Prüfstein echter Künstler ihre Stellung
der Natur gegenüber ist und daß die Entfernung der Jahrhunderte keinen
Unterschied darin macht. Das Dresdner Kupferstichkabinet besitzt eine ähnliche,
mir etwas sorgfältiger behandelte Studie, deren Motiv offenbar derselben
Gegend entlehnt ist. Hier sind ^vier mit Stroh gedeckte Bauernhäuser um
einen Tümpel gruppirt, vor welchem sich einige Schweine aufhalten. Drei
Menschen und zwei Hunde bilden die übrige, nur flüchtig angedeutete
Staffage der Landschaft, welche den ersten Schmuck des Frühlings trägt,
während die völlig kahlen Bäume der Berliner Zeichnung auf den Winter
deuten. Die Details sind auf beiden Zeichnungen von dem Standpunkte
eines Malers aufgefaßt, welcher jedes Blatt, jeden Zweig so gründlich studirt
hat, daß ihm ans diesem Studium die Berechtigung erwachsen ist, ganze
Gruppen des Naturganzen summarisch zu sehen und so gleichsam einen Auszug
aus dem Buche der Natur zu machen. Eine mit schwarzer und weißer Kreide
ans graublauem Papier gezeichnete Baumstudie im Louvre lehrt uns, daß Rubens
jedes Blatt so genau zu fixiren und von seinem Nachbar zu sondern wußte
wie Brueghel. Er war sich aber vollkommen der höheren Aufgabe des Land¬
schaftsmalers bewußt, die Fülle der einzelnen Erscheinungen zu einem in sich
harmonisch abgeschlossenen Ganzen zu vereinigen und in diesem Ganzen eine


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[0689] Natur auf, nicht um die einzelnen Worte Silbe für Silbe nachzubuchstabiren, sondern um der Natur ihre Geheimnisse abzufragen, um bis in den tiefsten Grund ihrer Seele hinabzusteigen und das Erfahrene dann nach den Eindrücken widerzuspiegeln, die es in seiner eignen großen Seele hinterlassen hat. Mit dem ABC der Landschaftsmalerei, mit der direkten Studie nach der Natur, hatte sich Rubens selbstverständlich ebenso eingehend beschäftigt wie die Land¬ schaftsmaler ex xratöWv. In den verschieden Sammlungen lassen sich noch etwa dreißig solcher mit Kreide, Feder und farbigen Stiften gezeichneten Nntur- studieu nachweisen, die vom Künstler, wie es scheint, nicht immer für einen bestimmten Zweck, sondern gelegentlich auch zur Auffrischung seines Naturgefühls angefertigt worden sind. Bis zu welcher Feinheit er schon frühzeitig gelaugt war, beweist am besten eine mit brauner und blauer Tusche gehobene Feder¬ zeichnung im Berliner Kupferstichkabinet, welche man für die Arbeit eines modernen Naturalisten halten würde, wenn die Rückseite des Blattes nicht von Rubens' unverkennbarer eigner Hand die Aufschrift trüge: 1610 av tiosvs rug'Ks voll, (der Hof beim rauhen Feld) ?. I>> R-nMons. Wir blicken auf ein mit Stroh gedecktes Bciueruhaus, vor dem ein leerer Wagen steht. Rechts steht ein zweites Geführt unter einem gleichfalls mit Schindeln gedeckten Schuppen, und im Vordergrunde links sieht man den Backofen unter einem von Stützen gehaltenen Dache. Keine figürliche Staffage erinnert an die Zeit, und dadurch wird die Illusion der modernen Entstehung dieses Bildes noch erhöht. Da der Verdacht der Fälschung ausgeschlossen ist, giebt uns dieses Blatt von neuem die Gewißheit, daß der Prüfstein echter Künstler ihre Stellung der Natur gegenüber ist und daß die Entfernung der Jahrhunderte keinen Unterschied darin macht. Das Dresdner Kupferstichkabinet besitzt eine ähnliche, mir etwas sorgfältiger behandelte Studie, deren Motiv offenbar derselben Gegend entlehnt ist. Hier sind ^vier mit Stroh gedeckte Bauernhäuser um einen Tümpel gruppirt, vor welchem sich einige Schweine aufhalten. Drei Menschen und zwei Hunde bilden die übrige, nur flüchtig angedeutete Staffage der Landschaft, welche den ersten Schmuck des Frühlings trägt, während die völlig kahlen Bäume der Berliner Zeichnung auf den Winter deuten. Die Details sind auf beiden Zeichnungen von dem Standpunkte eines Malers aufgefaßt, welcher jedes Blatt, jeden Zweig so gründlich studirt hat, daß ihm ans diesem Studium die Berechtigung erwachsen ist, ganze Gruppen des Naturganzen summarisch zu sehen und so gleichsam einen Auszug aus dem Buche der Natur zu machen. Eine mit schwarzer und weißer Kreide ans graublauem Papier gezeichnete Baumstudie im Louvre lehrt uns, daß Rubens jedes Blatt so genau zu fixiren und von seinem Nachbar zu sondern wußte wie Brueghel. Er war sich aber vollkommen der höheren Aufgabe des Land¬ schaftsmalers bewußt, die Fülle der einzelnen Erscheinungen zu einem in sich harmonisch abgeschlossenen Ganzen zu vereinigen und in diesem Ganzen eine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/689>, abgerufen am 25.08.2024.