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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Die afghanische Episode.

weder über die von den Russen für richtig gehaltene Linie südlich, noch über
die voll England für Afghanistan beanspruchte Grenze nördlich in die streitige
Zone vorzudringen. Statt dessen rückten im Juli vorigen Jahres afghanische
Truppen von Baka Margab in jene Zone ein lind besetzten Pcnjdeh. Die
Russen protestirten gegen diese Einschreituug, und da ihr Einspruch unbeachtet
blieb und die Turkmenen von Sarachs und Pul i Chatnn einen Einbruch der
Afghanen in ihre dortigen Städte, Dörfer und Lager mit obligater Ausplün-
derung befürchteten und sich zu schleuniger Flucht rüsteten, gab der Befehls¬
haber der in und bei Sarachs zusammengezogenen russischen Truppen, General
Komaroff, seinen Vorposten Befehl, zuvörderst am Herirud weiter nach Süden
zu gehen und Pul i Chatuu zu okkupiren. Darauf unternahmen die Afghanen
von Penjdch im Januar 1885 eine fernere Bewegung nach Norden bis in die
Gegend von Ak Tepe, und so sahen sich die Russen genötigt, anch in diesem
Teile des streitigen Gebietes (am Margab) weiter nach Süden zu marschiren
und zur Besetzung von Sari Jasi zu schreiten, um dieselbe Zeit rückten sie
auch im Westen vor und nahmen in Zalfikar und Ak Rabat Stellung, welcher
letztere Ort nicht fern von einem Passe im Varchutgebirge liegt, wo die Straße
uach Herat diese" Bergzug, dessen höchste Spitzen 3000 bis 5000 Fuß
über dem Spiegel des Kaspischen Meeres liegen sollen, überschreitet, und an
dessen Nvrdfuß Rußland, wie Lessart geäußert hat, jetzt die Grenze zwischen
Turkestan und Afghanistan gezogen zu sehen wünscht. In England verlangte
man auf die Nachricht vom Vorrücken Komaroffs nach den genannten Punkten
anfangs Zurückziehung der russischen Truppen, besann sich aber, als man in
Petersburg darauf nicht eingehen zu können erklärte und auf jene englische
Karte von 1874 hinwies, eines bessern und stand von seinem Verlangen ab,
sodaß die Russen vorläufig im Osten wie im Südwesten die neuerdings von
ihnen eingenommenen Positionen noch jetzt behaupten und sich nur verpflichtet
haben, nicht weiter vorzurücken und jeden Zusammenstoß mit den Leuten des
Emirs von Afghanistan zu vermeiden, die ihre Stellungen ebenfalls festhalten.

Es ist hier die Frage am Orte, wie England dazu kommt, den Emir der
Afghanen gegen Augriffe Rußlands zu verteidigen. In der Londoner Presse
ist behauptet worden, man sei dazu nicht bloß mit Rücksicht auf die Sicherheit
Indiens, sondern auch vertragsmäßig verpflichtet. Das letztere aber läßt sich
bestreikn, wenigstens stimmt es nicht vollständig zu den Dokumenten, welche
dem Parlamente in betreff der Sache vorgelegt worden sind. Nach dem ersten
Kriege der Engländer mit dem Emir schir Ali kam es zu einem Frieden, der
am 26. Mai 1879 in Gandamcck unterzeichnet wurde. Im dritten Artikel des
betreffenden Vertrages heißt es: "Seine Hoheit der Emir von Afghanistan er¬
klärt sich damit einverstanden, seinen Verkehr mit fremden Staaten nach den
Ratschlägen und Wünschen der britischen Regierung einzurichten. Seine Hoheit
wird keine Verträge mit fremden Staaten abschließen und gegen keinen derselben


Die afghanische Episode.

weder über die von den Russen für richtig gehaltene Linie südlich, noch über
die voll England für Afghanistan beanspruchte Grenze nördlich in die streitige
Zone vorzudringen. Statt dessen rückten im Juli vorigen Jahres afghanische
Truppen von Baka Margab in jene Zone ein lind besetzten Pcnjdeh. Die
Russen protestirten gegen diese Einschreituug, und da ihr Einspruch unbeachtet
blieb und die Turkmenen von Sarachs und Pul i Chatnn einen Einbruch der
Afghanen in ihre dortigen Städte, Dörfer und Lager mit obligater Ausplün-
derung befürchteten und sich zu schleuniger Flucht rüsteten, gab der Befehls¬
haber der in und bei Sarachs zusammengezogenen russischen Truppen, General
Komaroff, seinen Vorposten Befehl, zuvörderst am Herirud weiter nach Süden
zu gehen und Pul i Chatuu zu okkupiren. Darauf unternahmen die Afghanen
von Penjdch im Januar 1885 eine fernere Bewegung nach Norden bis in die
Gegend von Ak Tepe, und so sahen sich die Russen genötigt, anch in diesem
Teile des streitigen Gebietes (am Margab) weiter nach Süden zu marschiren
und zur Besetzung von Sari Jasi zu schreiten, um dieselbe Zeit rückten sie
auch im Westen vor und nahmen in Zalfikar und Ak Rabat Stellung, welcher
letztere Ort nicht fern von einem Passe im Varchutgebirge liegt, wo die Straße
uach Herat diese» Bergzug, dessen höchste Spitzen 3000 bis 5000 Fuß
über dem Spiegel des Kaspischen Meeres liegen sollen, überschreitet, und an
dessen Nvrdfuß Rußland, wie Lessart geäußert hat, jetzt die Grenze zwischen
Turkestan und Afghanistan gezogen zu sehen wünscht. In England verlangte
man auf die Nachricht vom Vorrücken Komaroffs nach den genannten Punkten
anfangs Zurückziehung der russischen Truppen, besann sich aber, als man in
Petersburg darauf nicht eingehen zu können erklärte und auf jene englische
Karte von 1874 hinwies, eines bessern und stand von seinem Verlangen ab,
sodaß die Russen vorläufig im Osten wie im Südwesten die neuerdings von
ihnen eingenommenen Positionen noch jetzt behaupten und sich nur verpflichtet
haben, nicht weiter vorzurücken und jeden Zusammenstoß mit den Leuten des
Emirs von Afghanistan zu vermeiden, die ihre Stellungen ebenfalls festhalten.

Es ist hier die Frage am Orte, wie England dazu kommt, den Emir der
Afghanen gegen Augriffe Rußlands zu verteidigen. In der Londoner Presse
ist behauptet worden, man sei dazu nicht bloß mit Rücksicht auf die Sicherheit
Indiens, sondern auch vertragsmäßig verpflichtet. Das letztere aber läßt sich
bestreikn, wenigstens stimmt es nicht vollständig zu den Dokumenten, welche
dem Parlamente in betreff der Sache vorgelegt worden sind. Nach dem ersten
Kriege der Engländer mit dem Emir schir Ali kam es zu einem Frieden, der
am 26. Mai 1879 in Gandamcck unterzeichnet wurde. Im dritten Artikel des
betreffenden Vertrages heißt es: „Seine Hoheit der Emir von Afghanistan er¬
klärt sich damit einverstanden, seinen Verkehr mit fremden Staaten nach den
Ratschlägen und Wünschen der britischen Regierung einzurichten. Seine Hoheit
wird keine Verträge mit fremden Staaten abschließen und gegen keinen derselben


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[0665] Die afghanische Episode. weder über die von den Russen für richtig gehaltene Linie südlich, noch über die voll England für Afghanistan beanspruchte Grenze nördlich in die streitige Zone vorzudringen. Statt dessen rückten im Juli vorigen Jahres afghanische Truppen von Baka Margab in jene Zone ein lind besetzten Pcnjdeh. Die Russen protestirten gegen diese Einschreituug, und da ihr Einspruch unbeachtet blieb und die Turkmenen von Sarachs und Pul i Chatnn einen Einbruch der Afghanen in ihre dortigen Städte, Dörfer und Lager mit obligater Ausplün- derung befürchteten und sich zu schleuniger Flucht rüsteten, gab der Befehls¬ haber der in und bei Sarachs zusammengezogenen russischen Truppen, General Komaroff, seinen Vorposten Befehl, zuvörderst am Herirud weiter nach Süden zu gehen und Pul i Chatuu zu okkupiren. Darauf unternahmen die Afghanen von Penjdch im Januar 1885 eine fernere Bewegung nach Norden bis in die Gegend von Ak Tepe, und so sahen sich die Russen genötigt, anch in diesem Teile des streitigen Gebietes (am Margab) weiter nach Süden zu marschiren und zur Besetzung von Sari Jasi zu schreiten, um dieselbe Zeit rückten sie auch im Westen vor und nahmen in Zalfikar und Ak Rabat Stellung, welcher letztere Ort nicht fern von einem Passe im Varchutgebirge liegt, wo die Straße uach Herat diese» Bergzug, dessen höchste Spitzen 3000 bis 5000 Fuß über dem Spiegel des Kaspischen Meeres liegen sollen, überschreitet, und an dessen Nvrdfuß Rußland, wie Lessart geäußert hat, jetzt die Grenze zwischen Turkestan und Afghanistan gezogen zu sehen wünscht. In England verlangte man auf die Nachricht vom Vorrücken Komaroffs nach den genannten Punkten anfangs Zurückziehung der russischen Truppen, besann sich aber, als man in Petersburg darauf nicht eingehen zu können erklärte und auf jene englische Karte von 1874 hinwies, eines bessern und stand von seinem Verlangen ab, sodaß die Russen vorläufig im Osten wie im Südwesten die neuerdings von ihnen eingenommenen Positionen noch jetzt behaupten und sich nur verpflichtet haben, nicht weiter vorzurücken und jeden Zusammenstoß mit den Leuten des Emirs von Afghanistan zu vermeiden, die ihre Stellungen ebenfalls festhalten. Es ist hier die Frage am Orte, wie England dazu kommt, den Emir der Afghanen gegen Augriffe Rußlands zu verteidigen. In der Londoner Presse ist behauptet worden, man sei dazu nicht bloß mit Rücksicht auf die Sicherheit Indiens, sondern auch vertragsmäßig verpflichtet. Das letztere aber läßt sich bestreikn, wenigstens stimmt es nicht vollständig zu den Dokumenten, welche dem Parlamente in betreff der Sache vorgelegt worden sind. Nach dem ersten Kriege der Engländer mit dem Emir schir Ali kam es zu einem Frieden, der am 26. Mai 1879 in Gandamcck unterzeichnet wurde. Im dritten Artikel des betreffenden Vertrages heißt es: „Seine Hoheit der Emir von Afghanistan er¬ klärt sich damit einverstanden, seinen Verkehr mit fremden Staaten nach den Ratschlägen und Wünschen der britischen Regierung einzurichten. Seine Hoheit wird keine Verträge mit fremden Staaten abschließen und gegen keinen derselben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/665>, abgerufen am 25.08.2024.