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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Die afghanische Lpisode.

sie durch frühere Vereinbarung in allgemeinen Umrissen festgestellt worden ist,
einbezogen werden muß.

Obgleich es schwierig, fast unmöglich ist, in dieser nächsten Frage der Be¬
ziehungen Rußlands und Englands in Mittelasien mit Bestimmtheit einen gün¬
stigen Ausgang zu prophezeien, da noch immer Zwischenfälle eintreten könne",
die einen solchen verhindern, so darf man doch wohl hoffen, daß sich, nachdem
die Gefahr eines Konfliktes nunmehr für die nächste Zeit beseitigt ist, im Verlaufe
weiterer Verhandlungen eine Basis finden lassen wird, die den Interessen Ru߬
lands wie denen Englands entspricht, und daß daraufhin die afghanische Nord¬
westgrenze regulirt werden wird, ohne zu neuer Befürchtung eines baldigen Zu¬
sammenstoßes der beiden Großmächte Anlaß zu geben. Auf wie lange, ist freilich
eine ganz andre Sache, und rasch wird die afghanische Grenzfrage wahrschein¬
lich auch uicht gelöst werden. Rußland aber hat hier keine Eile, es kann
warten; denn seine Stellung ist im ganzen sicherer als die Stellung Englands.

Betrachten wir die Angelegenheit und namentlich das Vorgehen der Russen
an der Grenze Afghanistans jetzt etwas genauer. Was die bisherigen Unter¬
handlungen in London betrifft, so haben wir schon bemerkt, daß die Ansichten
über die Grenzlinie zwischen Turkestan und Afghanistan dabei auseinander-
gingen. Die russische Regierung glaubt, daß dieselbe von einem etwa zwei deutsche
Meile" südlich von der Stadt Zalfikcir gelegenen Punkte am Herirndflusfc
(der persischen Grenze) genau nach Osten zu laufen, Chamnn i Bald zu durch¬
schneiden, dann jenseits des Kaschk, eines Nebenflusses des Margab, nach Nord-
osten bis zu einer Stelle vier Meilen südlich von Peujdeh weiter zu gehen und
zuletzt wieder nordöstlich bis nach Kodscha Sales zu laufen habe. Die Russen
haben bei dieser Ansicht den Vorteil, sich auf eine Karte beziehen zu können,
welche die östlichen Provinzen Persiens und die an Merw grenzenden Gebiete
Afghanistans und Mittelasiens darstellt und -- englischen Ursprungs ist, indem
sie im Jahre 1872 auf Anordnung des Amtes für Indien begonnen und zwei
Jahre später von demselben veröffentlicht wurde. Diese Karte, nach den besten
Quellen gearbeitet, zieht die Scheidelinie zwischen Afghanistan und Turkmenien,
wie soeben angegeben, und somit erheblich südlicher als die Herren Indiens sie
jetzt haben "vollen. Sie teilt den Turkmenen von Merw nud folglich den Russen,
die deren Gebiet seitdem einverleibt haben, die Positionen zu, um welche sich der
jetzige Streit dreht. Andrer Meinung war man anfänglich und ist man im
Grunde wohl uoch jetzt auf englischer Seite. Sir Peter Lumsden hielt dafür,
daß die Herrschaft des Emirs Abdnrrachman sich viel weiter nach Norden, näm¬
lich bis zu einer Linie erstrecke, die von Sarachs am Herirud östlich über Jrolan
nach Imam Bachsch und dann nordöstlich nach Kodscha Sales zu ziehen sei.
Als die Verhandlungen zur Vermittlung zwischen diesen verschiedenen Auf¬
fassungen der Besitzsphäre der afghanischen Fürsten begonnen hatten, war der
beste Weg für beide Teile, es zuvörderst beim Statusanv zu lassen, also


Die afghanische Lpisode.

sie durch frühere Vereinbarung in allgemeinen Umrissen festgestellt worden ist,
einbezogen werden muß.

Obgleich es schwierig, fast unmöglich ist, in dieser nächsten Frage der Be¬
ziehungen Rußlands und Englands in Mittelasien mit Bestimmtheit einen gün¬
stigen Ausgang zu prophezeien, da noch immer Zwischenfälle eintreten könne»,
die einen solchen verhindern, so darf man doch wohl hoffen, daß sich, nachdem
die Gefahr eines Konfliktes nunmehr für die nächste Zeit beseitigt ist, im Verlaufe
weiterer Verhandlungen eine Basis finden lassen wird, die den Interessen Ru߬
lands wie denen Englands entspricht, und daß daraufhin die afghanische Nord¬
westgrenze regulirt werden wird, ohne zu neuer Befürchtung eines baldigen Zu¬
sammenstoßes der beiden Großmächte Anlaß zu geben. Auf wie lange, ist freilich
eine ganz andre Sache, und rasch wird die afghanische Grenzfrage wahrschein¬
lich auch uicht gelöst werden. Rußland aber hat hier keine Eile, es kann
warten; denn seine Stellung ist im ganzen sicherer als die Stellung Englands.

Betrachten wir die Angelegenheit und namentlich das Vorgehen der Russen
an der Grenze Afghanistans jetzt etwas genauer. Was die bisherigen Unter¬
handlungen in London betrifft, so haben wir schon bemerkt, daß die Ansichten
über die Grenzlinie zwischen Turkestan und Afghanistan dabei auseinander-
gingen. Die russische Regierung glaubt, daß dieselbe von einem etwa zwei deutsche
Meile» südlich von der Stadt Zalfikcir gelegenen Punkte am Herirndflusfc
(der persischen Grenze) genau nach Osten zu laufen, Chamnn i Bald zu durch¬
schneiden, dann jenseits des Kaschk, eines Nebenflusses des Margab, nach Nord-
osten bis zu einer Stelle vier Meilen südlich von Peujdeh weiter zu gehen und
zuletzt wieder nordöstlich bis nach Kodscha Sales zu laufen habe. Die Russen
haben bei dieser Ansicht den Vorteil, sich auf eine Karte beziehen zu können,
welche die östlichen Provinzen Persiens und die an Merw grenzenden Gebiete
Afghanistans und Mittelasiens darstellt und — englischen Ursprungs ist, indem
sie im Jahre 1872 auf Anordnung des Amtes für Indien begonnen und zwei
Jahre später von demselben veröffentlicht wurde. Diese Karte, nach den besten
Quellen gearbeitet, zieht die Scheidelinie zwischen Afghanistan und Turkmenien,
wie soeben angegeben, und somit erheblich südlicher als die Herren Indiens sie
jetzt haben »vollen. Sie teilt den Turkmenen von Merw nud folglich den Russen,
die deren Gebiet seitdem einverleibt haben, die Positionen zu, um welche sich der
jetzige Streit dreht. Andrer Meinung war man anfänglich und ist man im
Grunde wohl uoch jetzt auf englischer Seite. Sir Peter Lumsden hielt dafür,
daß die Herrschaft des Emirs Abdnrrachman sich viel weiter nach Norden, näm¬
lich bis zu einer Linie erstrecke, die von Sarachs am Herirud östlich über Jrolan
nach Imam Bachsch und dann nordöstlich nach Kodscha Sales zu ziehen sei.
Als die Verhandlungen zur Vermittlung zwischen diesen verschiedenen Auf¬
fassungen der Besitzsphäre der afghanischen Fürsten begonnen hatten, war der
beste Weg für beide Teile, es zuvörderst beim Statusanv zu lassen, also


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/664>, abgerufen am 23.07.2024.