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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Die afghanische Lpisode.

festgehalten sah, die Notwendigkeit, bei der Bestimmung seiner Grenze gegen das
Afghancnlcmd die ethnographischen Verhältnisse mehr oder doch mindestens eben¬
sosehr zu berücksichtigen als die topographischen, d. h. das Turkmcnenland soweit
ausgedehnt anzunehmen, als Turkmenen wohnen und für ihre Herden Weide-
grüude haben müssen. Über die Grundsätze, nach denen hierbei zu Verfahren sei,
wolle man sich, so schlug das Petersburger Kabinet dem Londoner vor, ins
Einvernehmen zu setzen bemühen, bevor man zur Grenzregulirung im einzelnen
schreite. Das Kabinet Gladstone verfuhr diesen Vorschlägen des Herrn von
Giers gegenüber ungefähr wie Deutschland gegenüber in der Frage wegen Angra
Peauena; es ließ erst lange Zeit auf Antwort warten und gab dann eine
zweideutige Antwort, welche, da sie in Petersburg ungenügend befunden wurde,
zu Verhandlungen führte. Schließlich aber entsandte es, während jene noch
schwebten, von Quellens aus seine Grenzkommission nach dem streitigen Gebiete,
und zwar in Begleitung einer Eskorte von etwa tausend Soldaten, also eines
kleinen Heeres, wozu, wenn man nicht geheime Absichten hatte, dans avvouiM"
schaffen, den Russen das Prävenire spielen wollte, kaum Veranlassung vorlag.
Rußland säumte nicht. Gegenmaßregeln zu treffen, zumal da auch der Emir
Abdurrachman von Afghanistan, von England angeregt, Truppen zur Besetzung
von Punkten abgeschickt hatte, die er für sein Reich in Anspruch nahm, die
man aber in Petersburg als zur Interessensphäre Rußlands gehörig betrachten
durfte, weil sie von Turkmenen bewohnt waren oder zur Existenz von solchen
notwendig erschienen. Die Russen handelten hierbei rascher als die Engländer,
die zu ihrer Verwunderung, als sie am Herirudflusse eintrafen, das dort ge¬
legene Pul i Chatun schon von Kosaken besetzt fanden und bald nachher erfuhren,
daß russische Truppen auch schon in dem südlicher liegenden Zalsikar, am Passe
von Ak Robat und in dem nordöstlich davon befindlichen Orte Sari Jasi,
zwischen Iman Bachsch und Penjdeh Posto gefaßt hatten. Die Besetzung dieser
Punkte war den Russen, wie gesagt, schon aus dem Grunde nicht zu verargen,
weil eine viel stärkere Abteilung britischer Truppen, angeblich als Bedeckung der
Grenzkommission, in der streitigen Grenzzone zu erscheinen im Begriffe war und
kurz nachher wirklich erschien, und weil zu gleicher Zeit die Afghanen Penjdeh
vkkupirt hatten. Das Vorgehen Rußlands war aber auch deshalb zu recht¬
fertigen, weil eine bestimmte Grenzlinie nicht existirte, sondern erst vereinbart
werden sollte. Auf beiden Seiten hatte man das desM xoWiäsrckizs vor Augen.
Daß die von den Russen okkupirten Stellungen in der Richtung nach Herat hin
liegen, ist richtig, wird aber durch geographische Verhältnisse bedingt, auf die
Nußland keinen Einfluß auszuüben vermag. Auf eine Besitznahme Herats war
es dabei für jetzt nicht abgesehen, sondern zunächst nur auf die Wahrung eines
russischen Interesses gegenüber dem Versuche, ein fremdes vor gütlicher Ver¬
einbarung geltend zu machen; auf die rechtzeitige Besetzung eines Gebietes, das,
wie es scheint, naturgemäß in die Interessen- und Aktionssphäre Rußlands, wie


Die afghanische Lpisode.

festgehalten sah, die Notwendigkeit, bei der Bestimmung seiner Grenze gegen das
Afghancnlcmd die ethnographischen Verhältnisse mehr oder doch mindestens eben¬
sosehr zu berücksichtigen als die topographischen, d. h. das Turkmcnenland soweit
ausgedehnt anzunehmen, als Turkmenen wohnen und für ihre Herden Weide-
grüude haben müssen. Über die Grundsätze, nach denen hierbei zu Verfahren sei,
wolle man sich, so schlug das Petersburger Kabinet dem Londoner vor, ins
Einvernehmen zu setzen bemühen, bevor man zur Grenzregulirung im einzelnen
schreite. Das Kabinet Gladstone verfuhr diesen Vorschlägen des Herrn von
Giers gegenüber ungefähr wie Deutschland gegenüber in der Frage wegen Angra
Peauena; es ließ erst lange Zeit auf Antwort warten und gab dann eine
zweideutige Antwort, welche, da sie in Petersburg ungenügend befunden wurde,
zu Verhandlungen führte. Schließlich aber entsandte es, während jene noch
schwebten, von Quellens aus seine Grenzkommission nach dem streitigen Gebiete,
und zwar in Begleitung einer Eskorte von etwa tausend Soldaten, also eines
kleinen Heeres, wozu, wenn man nicht geheime Absichten hatte, dans avvouiM»
schaffen, den Russen das Prävenire spielen wollte, kaum Veranlassung vorlag.
Rußland säumte nicht. Gegenmaßregeln zu treffen, zumal da auch der Emir
Abdurrachman von Afghanistan, von England angeregt, Truppen zur Besetzung
von Punkten abgeschickt hatte, die er für sein Reich in Anspruch nahm, die
man aber in Petersburg als zur Interessensphäre Rußlands gehörig betrachten
durfte, weil sie von Turkmenen bewohnt waren oder zur Existenz von solchen
notwendig erschienen. Die Russen handelten hierbei rascher als die Engländer,
die zu ihrer Verwunderung, als sie am Herirudflusse eintrafen, das dort ge¬
legene Pul i Chatun schon von Kosaken besetzt fanden und bald nachher erfuhren,
daß russische Truppen auch schon in dem südlicher liegenden Zalsikar, am Passe
von Ak Robat und in dem nordöstlich davon befindlichen Orte Sari Jasi,
zwischen Iman Bachsch und Penjdeh Posto gefaßt hatten. Die Besetzung dieser
Punkte war den Russen, wie gesagt, schon aus dem Grunde nicht zu verargen,
weil eine viel stärkere Abteilung britischer Truppen, angeblich als Bedeckung der
Grenzkommission, in der streitigen Grenzzone zu erscheinen im Begriffe war und
kurz nachher wirklich erschien, und weil zu gleicher Zeit die Afghanen Penjdeh
vkkupirt hatten. Das Vorgehen Rußlands war aber auch deshalb zu recht¬
fertigen, weil eine bestimmte Grenzlinie nicht existirte, sondern erst vereinbart
werden sollte. Auf beiden Seiten hatte man das desM xoWiäsrckizs vor Augen.
Daß die von den Russen okkupirten Stellungen in der Richtung nach Herat hin
liegen, ist richtig, wird aber durch geographische Verhältnisse bedingt, auf die
Nußland keinen Einfluß auszuüben vermag. Auf eine Besitznahme Herats war
es dabei für jetzt nicht abgesehen, sondern zunächst nur auf die Wahrung eines
russischen Interesses gegenüber dem Versuche, ein fremdes vor gütlicher Ver¬
einbarung geltend zu machen; auf die rechtzeitige Besetzung eines Gebietes, das,
wie es scheint, naturgemäß in die Interessen- und Aktionssphäre Rußlands, wie


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[0663] Die afghanische Lpisode. festgehalten sah, die Notwendigkeit, bei der Bestimmung seiner Grenze gegen das Afghancnlcmd die ethnographischen Verhältnisse mehr oder doch mindestens eben¬ sosehr zu berücksichtigen als die topographischen, d. h. das Turkmcnenland soweit ausgedehnt anzunehmen, als Turkmenen wohnen und für ihre Herden Weide- grüude haben müssen. Über die Grundsätze, nach denen hierbei zu Verfahren sei, wolle man sich, so schlug das Petersburger Kabinet dem Londoner vor, ins Einvernehmen zu setzen bemühen, bevor man zur Grenzregulirung im einzelnen schreite. Das Kabinet Gladstone verfuhr diesen Vorschlägen des Herrn von Giers gegenüber ungefähr wie Deutschland gegenüber in der Frage wegen Angra Peauena; es ließ erst lange Zeit auf Antwort warten und gab dann eine zweideutige Antwort, welche, da sie in Petersburg ungenügend befunden wurde, zu Verhandlungen führte. Schließlich aber entsandte es, während jene noch schwebten, von Quellens aus seine Grenzkommission nach dem streitigen Gebiete, und zwar in Begleitung einer Eskorte von etwa tausend Soldaten, also eines kleinen Heeres, wozu, wenn man nicht geheime Absichten hatte, dans avvouiM» schaffen, den Russen das Prävenire spielen wollte, kaum Veranlassung vorlag. Rußland säumte nicht. Gegenmaßregeln zu treffen, zumal da auch der Emir Abdurrachman von Afghanistan, von England angeregt, Truppen zur Besetzung von Punkten abgeschickt hatte, die er für sein Reich in Anspruch nahm, die man aber in Petersburg als zur Interessensphäre Rußlands gehörig betrachten durfte, weil sie von Turkmenen bewohnt waren oder zur Existenz von solchen notwendig erschienen. Die Russen handelten hierbei rascher als die Engländer, die zu ihrer Verwunderung, als sie am Herirudflusse eintrafen, das dort ge¬ legene Pul i Chatun schon von Kosaken besetzt fanden und bald nachher erfuhren, daß russische Truppen auch schon in dem südlicher liegenden Zalsikar, am Passe von Ak Robat und in dem nordöstlich davon befindlichen Orte Sari Jasi, zwischen Iman Bachsch und Penjdeh Posto gefaßt hatten. Die Besetzung dieser Punkte war den Russen, wie gesagt, schon aus dem Grunde nicht zu verargen, weil eine viel stärkere Abteilung britischer Truppen, angeblich als Bedeckung der Grenzkommission, in der streitigen Grenzzone zu erscheinen im Begriffe war und kurz nachher wirklich erschien, und weil zu gleicher Zeit die Afghanen Penjdeh vkkupirt hatten. Das Vorgehen Rußlands war aber auch deshalb zu recht¬ fertigen, weil eine bestimmte Grenzlinie nicht existirte, sondern erst vereinbart werden sollte. Auf beiden Seiten hatte man das desM xoWiäsrckizs vor Augen. Daß die von den Russen okkupirten Stellungen in der Richtung nach Herat hin liegen, ist richtig, wird aber durch geographische Verhältnisse bedingt, auf die Nußland keinen Einfluß auszuüben vermag. Auf eine Besitznahme Herats war es dabei für jetzt nicht abgesehen, sondern zunächst nur auf die Wahrung eines russischen Interesses gegenüber dem Versuche, ein fremdes vor gütlicher Ver¬ einbarung geltend zu machen; auf die rechtzeitige Besetzung eines Gebietes, das, wie es scheint, naturgemäß in die Interessen- und Aktionssphäre Rußlands, wie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/663>, abgerufen am 22.07.2024.