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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Die afghanische Episode.

Gebiete der Afghanen im Einvernehmen mit russischen Kommissären leiten sollte,
hatte, so hieß es ferner, sich von der Sache zurückgezogen, und schließlich sollte
sogar ein Ultimatum in der Angelegenheit von London nach Petersburg ab¬
gegangen sein. Darob große Unruhe und Aufregung in England, namentlich
in den Kreisen der Gegner Gladstones, HWiribal ano xorws, mächtige
Worte, erhebliche Entwicklung von Kraftbewußtsein und Selbstgefühl, lärmendes
Verlangen nach Rüstungen, journalistisches Säbelgerassel, begleitet vom Zähne¬
klappern der Börsenjobber. Was war in Wahrheit geschehen? Vor einigen Mo¬
naten schickte die russische Regierung den Ingenieur Lesscut, einen gründlichen
Kenner von Land und Leuten in Zentralasien, nach London, damit er dem dortigen
russischen Gesandten von Staat bei den Unterhandlungen, die über die russisch-
afghauische Grenzregulirung stattfinden sollten, mit seinem Rate zur Seite
stehe. Lessart wurde auch dem Minister der auswärtigen Angelegenheiten,
Lord Granville, und dem Kolonialminister, Lord Kimberley, vorgestellt, über¬
brachte denselben aber keine Forderungen seiner Regierung, am wenigsten un¬
annehmbare; vielmehr wurden alle Verhandlungen über den Gegenstand aus¬
schließlich durch stark und die genannten beiden britischen Staatsmänner ge¬
führt. Auch dabei wurden russischcrseits keine unbilligen und unannehmbaren
Ansprüche erhoben, sondern es kam zwischen den betreffenden Herren nur zu
Meinungsverschiedenheiten über die Nordwestgrenze Afghanistans, die darin ihren
Grund hatten, daß die letztere niemals endgiltig und in den Einzelheiten genau
fixirt worden war. Sie war vor dein Übereinkommen von 1870 bis 1873 nur
in allgemeinen Ausdrücken einigermaßen bestimmt worden. Nach dieser Ver¬
einbarung zwischen Rußland und England, bei welcher ersteres von Fürst Gvr-
tschcckoff, letzteres zunächst von Lord Clarendon, dann von Granville vertreten
war, sollten die unabhängigen Turkmenen in Zukunft in die Aktionssphäre Ru߬
lands eingeschlossen sein, Afghanistan aber der Interessensphäre der Engländer
angehören. Das ließ wesentlich verschiedne Deutungen in lokaler Beziehung zu.
Das Land war damals und noch Jahre hindurch nachher sehr wenig bekannt,
und es fragte sich, wie weit geht das Gebiet der unabhängigen Turkmenen?
Nun machte die russische Regierung bald, nachdem sie Merw erworben und da¬
durch in London Anlaß zu Befürchtungen gegeben hatte, der englischen, um sie über
weitergehende Absichten zu beruhigen, den Vorschlag, sich mit ihr über eine ge¬
nauere Feststellung der Grenzen zwischen dem russischen Turkestan und dem Ge¬
biete des Emirs von Afghanistan zu verständigen, wobei das Abkommen von
1873 die leitenden Gesichtspunkte abgeben sollte. Eine Teilung des von Turl-
menenstümmen bewohnten und nomadisch durchzogenen Gebietes zwischen Ru߬
land und Afghanistan ist nicht wohl thunlich, wenn nicht die Grenzregulirung
selbst sofort zum Keim neuer Meinungsverschiedenheiten und Verwicklungen werden
soll, und so betonte Rußland schon vor Jahresfrist, also nicht erst, als es
die Engländer im Sudan in Verlegenheit und mit ihren militärischen Kräften


Die afghanische Episode.

Gebiete der Afghanen im Einvernehmen mit russischen Kommissären leiten sollte,
hatte, so hieß es ferner, sich von der Sache zurückgezogen, und schließlich sollte
sogar ein Ultimatum in der Angelegenheit von London nach Petersburg ab¬
gegangen sein. Darob große Unruhe und Aufregung in England, namentlich
in den Kreisen der Gegner Gladstones, HWiribal ano xorws, mächtige
Worte, erhebliche Entwicklung von Kraftbewußtsein und Selbstgefühl, lärmendes
Verlangen nach Rüstungen, journalistisches Säbelgerassel, begleitet vom Zähne¬
klappern der Börsenjobber. Was war in Wahrheit geschehen? Vor einigen Mo¬
naten schickte die russische Regierung den Ingenieur Lesscut, einen gründlichen
Kenner von Land und Leuten in Zentralasien, nach London, damit er dem dortigen
russischen Gesandten von Staat bei den Unterhandlungen, die über die russisch-
afghauische Grenzregulirung stattfinden sollten, mit seinem Rate zur Seite
stehe. Lessart wurde auch dem Minister der auswärtigen Angelegenheiten,
Lord Granville, und dem Kolonialminister, Lord Kimberley, vorgestellt, über¬
brachte denselben aber keine Forderungen seiner Regierung, am wenigsten un¬
annehmbare; vielmehr wurden alle Verhandlungen über den Gegenstand aus¬
schließlich durch stark und die genannten beiden britischen Staatsmänner ge¬
führt. Auch dabei wurden russischcrseits keine unbilligen und unannehmbaren
Ansprüche erhoben, sondern es kam zwischen den betreffenden Herren nur zu
Meinungsverschiedenheiten über die Nordwestgrenze Afghanistans, die darin ihren
Grund hatten, daß die letztere niemals endgiltig und in den Einzelheiten genau
fixirt worden war. Sie war vor dein Übereinkommen von 1870 bis 1873 nur
in allgemeinen Ausdrücken einigermaßen bestimmt worden. Nach dieser Ver¬
einbarung zwischen Rußland und England, bei welcher ersteres von Fürst Gvr-
tschcckoff, letzteres zunächst von Lord Clarendon, dann von Granville vertreten
war, sollten die unabhängigen Turkmenen in Zukunft in die Aktionssphäre Ru߬
lands eingeschlossen sein, Afghanistan aber der Interessensphäre der Engländer
angehören. Das ließ wesentlich verschiedne Deutungen in lokaler Beziehung zu.
Das Land war damals und noch Jahre hindurch nachher sehr wenig bekannt,
und es fragte sich, wie weit geht das Gebiet der unabhängigen Turkmenen?
Nun machte die russische Regierung bald, nachdem sie Merw erworben und da¬
durch in London Anlaß zu Befürchtungen gegeben hatte, der englischen, um sie über
weitergehende Absichten zu beruhigen, den Vorschlag, sich mit ihr über eine ge¬
nauere Feststellung der Grenzen zwischen dem russischen Turkestan und dem Ge¬
biete des Emirs von Afghanistan zu verständigen, wobei das Abkommen von
1873 die leitenden Gesichtspunkte abgeben sollte. Eine Teilung des von Turl-
menenstümmen bewohnten und nomadisch durchzogenen Gebietes zwischen Ru߬
land und Afghanistan ist nicht wohl thunlich, wenn nicht die Grenzregulirung
selbst sofort zum Keim neuer Meinungsverschiedenheiten und Verwicklungen werden
soll, und so betonte Rußland schon vor Jahresfrist, also nicht erst, als es
die Engländer im Sudan in Verlegenheit und mit ihren militärischen Kräften


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[0662] Die afghanische Episode. Gebiete der Afghanen im Einvernehmen mit russischen Kommissären leiten sollte, hatte, so hieß es ferner, sich von der Sache zurückgezogen, und schließlich sollte sogar ein Ultimatum in der Angelegenheit von London nach Petersburg ab¬ gegangen sein. Darob große Unruhe und Aufregung in England, namentlich in den Kreisen der Gegner Gladstones, HWiribal ano xorws, mächtige Worte, erhebliche Entwicklung von Kraftbewußtsein und Selbstgefühl, lärmendes Verlangen nach Rüstungen, journalistisches Säbelgerassel, begleitet vom Zähne¬ klappern der Börsenjobber. Was war in Wahrheit geschehen? Vor einigen Mo¬ naten schickte die russische Regierung den Ingenieur Lesscut, einen gründlichen Kenner von Land und Leuten in Zentralasien, nach London, damit er dem dortigen russischen Gesandten von Staat bei den Unterhandlungen, die über die russisch- afghauische Grenzregulirung stattfinden sollten, mit seinem Rate zur Seite stehe. Lessart wurde auch dem Minister der auswärtigen Angelegenheiten, Lord Granville, und dem Kolonialminister, Lord Kimberley, vorgestellt, über¬ brachte denselben aber keine Forderungen seiner Regierung, am wenigsten un¬ annehmbare; vielmehr wurden alle Verhandlungen über den Gegenstand aus¬ schließlich durch stark und die genannten beiden britischen Staatsmänner ge¬ führt. Auch dabei wurden russischcrseits keine unbilligen und unannehmbaren Ansprüche erhoben, sondern es kam zwischen den betreffenden Herren nur zu Meinungsverschiedenheiten über die Nordwestgrenze Afghanistans, die darin ihren Grund hatten, daß die letztere niemals endgiltig und in den Einzelheiten genau fixirt worden war. Sie war vor dein Übereinkommen von 1870 bis 1873 nur in allgemeinen Ausdrücken einigermaßen bestimmt worden. Nach dieser Ver¬ einbarung zwischen Rußland und England, bei welcher ersteres von Fürst Gvr- tschcckoff, letzteres zunächst von Lord Clarendon, dann von Granville vertreten war, sollten die unabhängigen Turkmenen in Zukunft in die Aktionssphäre Ru߬ lands eingeschlossen sein, Afghanistan aber der Interessensphäre der Engländer angehören. Das ließ wesentlich verschiedne Deutungen in lokaler Beziehung zu. Das Land war damals und noch Jahre hindurch nachher sehr wenig bekannt, und es fragte sich, wie weit geht das Gebiet der unabhängigen Turkmenen? Nun machte die russische Regierung bald, nachdem sie Merw erworben und da¬ durch in London Anlaß zu Befürchtungen gegeben hatte, der englischen, um sie über weitergehende Absichten zu beruhigen, den Vorschlag, sich mit ihr über eine ge¬ nauere Feststellung der Grenzen zwischen dem russischen Turkestan und dem Ge¬ biete des Emirs von Afghanistan zu verständigen, wobei das Abkommen von 1873 die leitenden Gesichtspunkte abgeben sollte. Eine Teilung des von Turl- menenstümmen bewohnten und nomadisch durchzogenen Gebietes zwischen Ru߬ land und Afghanistan ist nicht wohl thunlich, wenn nicht die Grenzregulirung selbst sofort zum Keim neuer Meinungsverschiedenheiten und Verwicklungen werden soll, und so betonte Rußland schon vor Jahresfrist, also nicht erst, als es die Engländer im Sudan in Verlegenheit und mit ihren militärischen Kräften

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/662>, abgerufen am 22.07.2024.