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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Der weg nach Indien.

mit der Einschränkung außerdem, daß die russischen Häfen nur während der
kleineren Hälfte des Jahres eisfrei sind. Die arktische Küste und die entlegene
Station Nikolajew am Stillen Ozean sind wirtschaftlich wie politisch wertlos.
Den Ausgang nach dem Mittelmeere beherrschen die türkischen Batterien des
Bosporus. So wirkt denn der Trieb, sich nach einer freien Meeresküste hin
Bahn zu brechen, in Rußland mit der Gewalt einer verhaltenen Elementarkraft.
Er nimmt an Intensität zu in dem Maße, wie das Binnenland durch Schienen¬
wege prvduktivnsfähig und der russische Handel absatzbedürftig wird. Sobald
die asiatischen Besitzungen erst mit den europäischen durch ein Eisenbahnnetz
verbunden siud -- und dieser Zeitpunkt ist nicht fern --, so ist ein Durchbruch
nach irgend einem südlichen Küstenstriche ein Gebot der Notwendigkeit, dem keine
Macht sich auf die Länge wird widersetzen können. Dieser Zug nach dem Meere
ist das Leitmotiv aller Vorgänge in Zentralasien. Er bezeichnet die Richtung,
die der russische Vormarsch einzuschlagen hat, und es bedarf nur eines Blickes
auf die Karte, um sich von der Planmäßigkeit der bisherigen Expeditionen zu
überzeugen.

Die Gebiete, welche das asiatische Rußland jetzt noch vom Meere trennen,
sind Afghanistan und hinter demselben entweder das Küstenland Beludschistan
oder das anglvindische Stromgebiet des Indus. Afghanistan müßte in jedem
Falle, gleichviel an welchem Teile der Küste das Meer erreicht werde" soll, zu¬
nächst in russischen Besitz übergehen. Herat und Kandahar sind Schlüsselpunttc
dieser Linie. Strebt Rußland von dort aus weiter dem Meere zu, so bleibt
ihm uur die Wahl, entweder bei Siwi auf britisches Gebiet aufzutreten und
den zwischen diesem Grenzteil und der JndnSmündnng liegenden Distrikt von
England zu erobern oder den ungleich näheren Weg über Kelat einzuschlagen
und durch Annexion des betreffenden Teils von Beludschistan in direkt südlicher
Richtung die Küste zu gewinnen. Der letztere Weg gewährt außer dem Vorzuge
der Kürze noch den Vorteil, daß man es dort nur mit unabhängigen asiatischen
Stämmen zu thun hat und keinen Rvtröcken begegnet. Mit dem Imam von
Maskat, zik welchem das Küstengebiet von Beludschistan in einem lockeren tri-
bntären Verhältnis steht, würde sich Rußland leicht abfinden. Diese Erwägungen
sind es, welche auf deu Vormarsch der Russen und ans die Wahl der Richtung
bestimmenden Einfluß haben. Und wenn wir uus einen kurzen Rückblick auf
die letzten Vorgänge gestatten, so ist aus demselben leicht zu entnehmen, welche
Tendenzen in den Entschließungen der nächsten Zukunft überwiegen werden.

Am 34. Januar 1881 erwarb General Skobeleff durch deu entscheidenden
Sieg bei Got-Tepe das Gebiet der Akhalturkmenen und ergänzte dadurch die
Abrundung der südliche" Grenze, welche bereits durch die Annexion von Chiwa
bedeutend südwärts gerückt war. Die Operationsbasis der neuen Expeditions-
linic bildete der am Ostufer des Kaspischen Sees gelegene militärische Stations¬
ort Michailowsk. Von ihm ans führt bereits eine Eisenbahn hundertfünfzig


Der weg nach Indien.

mit der Einschränkung außerdem, daß die russischen Häfen nur während der
kleineren Hälfte des Jahres eisfrei sind. Die arktische Küste und die entlegene
Station Nikolajew am Stillen Ozean sind wirtschaftlich wie politisch wertlos.
Den Ausgang nach dem Mittelmeere beherrschen die türkischen Batterien des
Bosporus. So wirkt denn der Trieb, sich nach einer freien Meeresküste hin
Bahn zu brechen, in Rußland mit der Gewalt einer verhaltenen Elementarkraft.
Er nimmt an Intensität zu in dem Maße, wie das Binnenland durch Schienen¬
wege prvduktivnsfähig und der russische Handel absatzbedürftig wird. Sobald
die asiatischen Besitzungen erst mit den europäischen durch ein Eisenbahnnetz
verbunden siud — und dieser Zeitpunkt ist nicht fern —, so ist ein Durchbruch
nach irgend einem südlichen Küstenstriche ein Gebot der Notwendigkeit, dem keine
Macht sich auf die Länge wird widersetzen können. Dieser Zug nach dem Meere
ist das Leitmotiv aller Vorgänge in Zentralasien. Er bezeichnet die Richtung,
die der russische Vormarsch einzuschlagen hat, und es bedarf nur eines Blickes
auf die Karte, um sich von der Planmäßigkeit der bisherigen Expeditionen zu
überzeugen.

Die Gebiete, welche das asiatische Rußland jetzt noch vom Meere trennen,
sind Afghanistan und hinter demselben entweder das Küstenland Beludschistan
oder das anglvindische Stromgebiet des Indus. Afghanistan müßte in jedem
Falle, gleichviel an welchem Teile der Küste das Meer erreicht werde» soll, zu¬
nächst in russischen Besitz übergehen. Herat und Kandahar sind Schlüsselpunttc
dieser Linie. Strebt Rußland von dort aus weiter dem Meere zu, so bleibt
ihm uur die Wahl, entweder bei Siwi auf britisches Gebiet aufzutreten und
den zwischen diesem Grenzteil und der JndnSmündnng liegenden Distrikt von
England zu erobern oder den ungleich näheren Weg über Kelat einzuschlagen
und durch Annexion des betreffenden Teils von Beludschistan in direkt südlicher
Richtung die Küste zu gewinnen. Der letztere Weg gewährt außer dem Vorzuge
der Kürze noch den Vorteil, daß man es dort nur mit unabhängigen asiatischen
Stämmen zu thun hat und keinen Rvtröcken begegnet. Mit dem Imam von
Maskat, zik welchem das Küstengebiet von Beludschistan in einem lockeren tri-
bntären Verhältnis steht, würde sich Rußland leicht abfinden. Diese Erwägungen
sind es, welche auf deu Vormarsch der Russen und ans die Wahl der Richtung
bestimmenden Einfluß haben. Und wenn wir uus einen kurzen Rückblick auf
die letzten Vorgänge gestatten, so ist aus demselben leicht zu entnehmen, welche
Tendenzen in den Entschließungen der nächsten Zukunft überwiegen werden.

Am 34. Januar 1881 erwarb General Skobeleff durch deu entscheidenden
Sieg bei Got-Tepe das Gebiet der Akhalturkmenen und ergänzte dadurch die
Abrundung der südliche» Grenze, welche bereits durch die Annexion von Chiwa
bedeutend südwärts gerückt war. Die Operationsbasis der neuen Expeditions-
linic bildete der am Ostufer des Kaspischen Sees gelegene militärische Stations¬
ort Michailowsk. Von ihm ans führt bereits eine Eisenbahn hundertfünfzig


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[0608] Der weg nach Indien. mit der Einschränkung außerdem, daß die russischen Häfen nur während der kleineren Hälfte des Jahres eisfrei sind. Die arktische Küste und die entlegene Station Nikolajew am Stillen Ozean sind wirtschaftlich wie politisch wertlos. Den Ausgang nach dem Mittelmeere beherrschen die türkischen Batterien des Bosporus. So wirkt denn der Trieb, sich nach einer freien Meeresküste hin Bahn zu brechen, in Rußland mit der Gewalt einer verhaltenen Elementarkraft. Er nimmt an Intensität zu in dem Maße, wie das Binnenland durch Schienen¬ wege prvduktivnsfähig und der russische Handel absatzbedürftig wird. Sobald die asiatischen Besitzungen erst mit den europäischen durch ein Eisenbahnnetz verbunden siud — und dieser Zeitpunkt ist nicht fern —, so ist ein Durchbruch nach irgend einem südlichen Küstenstriche ein Gebot der Notwendigkeit, dem keine Macht sich auf die Länge wird widersetzen können. Dieser Zug nach dem Meere ist das Leitmotiv aller Vorgänge in Zentralasien. Er bezeichnet die Richtung, die der russische Vormarsch einzuschlagen hat, und es bedarf nur eines Blickes auf die Karte, um sich von der Planmäßigkeit der bisherigen Expeditionen zu überzeugen. Die Gebiete, welche das asiatische Rußland jetzt noch vom Meere trennen, sind Afghanistan und hinter demselben entweder das Küstenland Beludschistan oder das anglvindische Stromgebiet des Indus. Afghanistan müßte in jedem Falle, gleichviel an welchem Teile der Küste das Meer erreicht werde» soll, zu¬ nächst in russischen Besitz übergehen. Herat und Kandahar sind Schlüsselpunttc dieser Linie. Strebt Rußland von dort aus weiter dem Meere zu, so bleibt ihm uur die Wahl, entweder bei Siwi auf britisches Gebiet aufzutreten und den zwischen diesem Grenzteil und der JndnSmündnng liegenden Distrikt von England zu erobern oder den ungleich näheren Weg über Kelat einzuschlagen und durch Annexion des betreffenden Teils von Beludschistan in direkt südlicher Richtung die Küste zu gewinnen. Der letztere Weg gewährt außer dem Vorzuge der Kürze noch den Vorteil, daß man es dort nur mit unabhängigen asiatischen Stämmen zu thun hat und keinen Rvtröcken begegnet. Mit dem Imam von Maskat, zik welchem das Küstengebiet von Beludschistan in einem lockeren tri- bntären Verhältnis steht, würde sich Rußland leicht abfinden. Diese Erwägungen sind es, welche auf deu Vormarsch der Russen und ans die Wahl der Richtung bestimmenden Einfluß haben. Und wenn wir uus einen kurzen Rückblick auf die letzten Vorgänge gestatten, so ist aus demselben leicht zu entnehmen, welche Tendenzen in den Entschließungen der nächsten Zukunft überwiegen werden. Am 34. Januar 1881 erwarb General Skobeleff durch deu entscheidenden Sieg bei Got-Tepe das Gebiet der Akhalturkmenen und ergänzte dadurch die Abrundung der südliche» Grenze, welche bereits durch die Annexion von Chiwa bedeutend südwärts gerückt war. Die Operationsbasis der neuen Expeditions- linic bildete der am Ostufer des Kaspischen Sees gelegene militärische Stations¬ ort Michailowsk. Von ihm ans führt bereits eine Eisenbahn hundertfünfzig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/608>, abgerufen am 23.07.2024.