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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Freundschaft für das Sultanat eine starke Abschwächung erfahren. Die Türkei
ist auf beiden Flanken umgangen, der Gedanke, den Euphrat schiffbar zu machen
und durch eine Eisenbahn von Alexaudrette nach Bagdad eine kürzere Militär¬
straße nach Indien herzustellen, längst aufgegeben. Der Besitz Chperns, welches
den Ausgangspunkt dieser Straße beherrschen würde, ist damit Politisch wertlos.
Ein wirtschaftlicher Gewinn war der Erlverb dieser Insel überhaupt nicht.
Sie hat für England jetzt nur noch den Wert eines Tauschobjektes gegenüber
andern strategisch wichtigeren Küstenplätzen, Eine Transaktion in diesem Sinne
wird voraussichtlich dann stattfinde", wenn England über die Form seines Pro¬
tektorats in Ägypten zur Entscheidung gelangt ist. Soviel ist einleuchtend, daß
Großbritannien durch Gewinnung einer ausschlaggebenden Stellung am Nil
und als Hüterin des Suezkauals für die Frage der türkischen Meerengen nicht
mehr das gleiche Interesse haben kann wie ehedem. Sollte bei Ausbruch eines
neuen russisch-türkischen Konflikts Stambul abermals von einer feindlichen In¬
vasion bedroht werden, so ist nicht anzunehmen, daß eine britische Panzerflolte
in den Bosporus einlaufen und ihre Geschütze gegen die russische Avantgarde
richten wird. Wenn es dann zur Wahrung des europäischen Gleichgewichtes
nötig sei" sollte, dem Vordringen der Russen abermals Halt zu gebieten, so
wird ein solches Veto von andern Großmächten ausgehen als von England.

Wir wollen uns nicht in die müßige Betrachtung solcher Eventualitäten
verlieren. Zweck dieser Untersuchung ist nnr die Feststellung der Thatsache,
daß der vielbegehrte Besitz Konstantinopels und der von ihm beherrschten Meer¬
enge bei der gegenwärtigen Lage der Dinge nicht mehr dieselbe Bedeutung hat,
welche ihm bis zu den siebziger Jahren unsers Jahrhunderts beigelegt wurde.
Das Kampfgebiet ist nach entfernteren Distrikten verlegt. Stambul gilt nicht
mehr so viel wie das alte Bhzanz. Die Türkei bildet nicht mehr das Grenz¬
gebiet zwischen Europa und Asien. Dem politischen Expansionsbedürfnis er¬
öffnen sich neue Ausgänge. Das einst so wichtige Debvuche am Bosporus ist
umgangen. So sehen wir die Friktionssphäre der europäischen Interessen immer
weiter ostwärts rücken, Differenzen, die vor fünfzig Jahren am Balkan aus¬
gekämpft wurden, finden ihren Schauplatz in den Schluchten des Hindukusch,
und neue, der wissenschaftlichen Forschung fast unzugängliche Gebiete rücken in
den Kreis politischer Betrachtung. In Afghanistan wird es früher oder später
zum Zusammenstoß zwischen den rivalisirenden Mächten kommen müssen. Viel¬
leicht vollzieht sich der fabelhafte Kampf zwischen Bär und Haifisch dereinst an
der Mündung des Indus.

In allen Fällen, welche einen Konflikt zwischen England und Rußland
veranlassen können, wird das streitige Objekt immer ein Küstenstrich sein. Seit
Generationen ringt der russische Koloß nach einem maritimen Ausgange. Eine
""geheure Landgrenze und keine einzige freie Verbindung mit dem Ozean! Die
Ostsee hat für deu nordischen Kaiserstaat nnr die Bedeutung eines Binnenmeeres,


Freundschaft für das Sultanat eine starke Abschwächung erfahren. Die Türkei
ist auf beiden Flanken umgangen, der Gedanke, den Euphrat schiffbar zu machen
und durch eine Eisenbahn von Alexaudrette nach Bagdad eine kürzere Militär¬
straße nach Indien herzustellen, längst aufgegeben. Der Besitz Chperns, welches
den Ausgangspunkt dieser Straße beherrschen würde, ist damit Politisch wertlos.
Ein wirtschaftlicher Gewinn war der Erlverb dieser Insel überhaupt nicht.
Sie hat für England jetzt nur noch den Wert eines Tauschobjektes gegenüber
andern strategisch wichtigeren Küstenplätzen, Eine Transaktion in diesem Sinne
wird voraussichtlich dann stattfinde», wenn England über die Form seines Pro¬
tektorats in Ägypten zur Entscheidung gelangt ist. Soviel ist einleuchtend, daß
Großbritannien durch Gewinnung einer ausschlaggebenden Stellung am Nil
und als Hüterin des Suezkauals für die Frage der türkischen Meerengen nicht
mehr das gleiche Interesse haben kann wie ehedem. Sollte bei Ausbruch eines
neuen russisch-türkischen Konflikts Stambul abermals von einer feindlichen In¬
vasion bedroht werden, so ist nicht anzunehmen, daß eine britische Panzerflolte
in den Bosporus einlaufen und ihre Geschütze gegen die russische Avantgarde
richten wird. Wenn es dann zur Wahrung des europäischen Gleichgewichtes
nötig sei» sollte, dem Vordringen der Russen abermals Halt zu gebieten, so
wird ein solches Veto von andern Großmächten ausgehen als von England.

Wir wollen uns nicht in die müßige Betrachtung solcher Eventualitäten
verlieren. Zweck dieser Untersuchung ist nnr die Feststellung der Thatsache,
daß der vielbegehrte Besitz Konstantinopels und der von ihm beherrschten Meer¬
enge bei der gegenwärtigen Lage der Dinge nicht mehr dieselbe Bedeutung hat,
welche ihm bis zu den siebziger Jahren unsers Jahrhunderts beigelegt wurde.
Das Kampfgebiet ist nach entfernteren Distrikten verlegt. Stambul gilt nicht
mehr so viel wie das alte Bhzanz. Die Türkei bildet nicht mehr das Grenz¬
gebiet zwischen Europa und Asien. Dem politischen Expansionsbedürfnis er¬
öffnen sich neue Ausgänge. Das einst so wichtige Debvuche am Bosporus ist
umgangen. So sehen wir die Friktionssphäre der europäischen Interessen immer
weiter ostwärts rücken, Differenzen, die vor fünfzig Jahren am Balkan aus¬
gekämpft wurden, finden ihren Schauplatz in den Schluchten des Hindukusch,
und neue, der wissenschaftlichen Forschung fast unzugängliche Gebiete rücken in
den Kreis politischer Betrachtung. In Afghanistan wird es früher oder später
zum Zusammenstoß zwischen den rivalisirenden Mächten kommen müssen. Viel¬
leicht vollzieht sich der fabelhafte Kampf zwischen Bär und Haifisch dereinst an
der Mündung des Indus.

In allen Fällen, welche einen Konflikt zwischen England und Rußland
veranlassen können, wird das streitige Objekt immer ein Küstenstrich sein. Seit
Generationen ringt der russische Koloß nach einem maritimen Ausgange. Eine
»»geheure Landgrenze und keine einzige freie Verbindung mit dem Ozean! Die
Ostsee hat für deu nordischen Kaiserstaat nnr die Bedeutung eines Binnenmeeres,


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[0607] Freundschaft für das Sultanat eine starke Abschwächung erfahren. Die Türkei ist auf beiden Flanken umgangen, der Gedanke, den Euphrat schiffbar zu machen und durch eine Eisenbahn von Alexaudrette nach Bagdad eine kürzere Militär¬ straße nach Indien herzustellen, längst aufgegeben. Der Besitz Chperns, welches den Ausgangspunkt dieser Straße beherrschen würde, ist damit Politisch wertlos. Ein wirtschaftlicher Gewinn war der Erlverb dieser Insel überhaupt nicht. Sie hat für England jetzt nur noch den Wert eines Tauschobjektes gegenüber andern strategisch wichtigeren Küstenplätzen, Eine Transaktion in diesem Sinne wird voraussichtlich dann stattfinde», wenn England über die Form seines Pro¬ tektorats in Ägypten zur Entscheidung gelangt ist. Soviel ist einleuchtend, daß Großbritannien durch Gewinnung einer ausschlaggebenden Stellung am Nil und als Hüterin des Suezkauals für die Frage der türkischen Meerengen nicht mehr das gleiche Interesse haben kann wie ehedem. Sollte bei Ausbruch eines neuen russisch-türkischen Konflikts Stambul abermals von einer feindlichen In¬ vasion bedroht werden, so ist nicht anzunehmen, daß eine britische Panzerflolte in den Bosporus einlaufen und ihre Geschütze gegen die russische Avantgarde richten wird. Wenn es dann zur Wahrung des europäischen Gleichgewichtes nötig sei» sollte, dem Vordringen der Russen abermals Halt zu gebieten, so wird ein solches Veto von andern Großmächten ausgehen als von England. Wir wollen uns nicht in die müßige Betrachtung solcher Eventualitäten verlieren. Zweck dieser Untersuchung ist nnr die Feststellung der Thatsache, daß der vielbegehrte Besitz Konstantinopels und der von ihm beherrschten Meer¬ enge bei der gegenwärtigen Lage der Dinge nicht mehr dieselbe Bedeutung hat, welche ihm bis zu den siebziger Jahren unsers Jahrhunderts beigelegt wurde. Das Kampfgebiet ist nach entfernteren Distrikten verlegt. Stambul gilt nicht mehr so viel wie das alte Bhzanz. Die Türkei bildet nicht mehr das Grenz¬ gebiet zwischen Europa und Asien. Dem politischen Expansionsbedürfnis er¬ öffnen sich neue Ausgänge. Das einst so wichtige Debvuche am Bosporus ist umgangen. So sehen wir die Friktionssphäre der europäischen Interessen immer weiter ostwärts rücken, Differenzen, die vor fünfzig Jahren am Balkan aus¬ gekämpft wurden, finden ihren Schauplatz in den Schluchten des Hindukusch, und neue, der wissenschaftlichen Forschung fast unzugängliche Gebiete rücken in den Kreis politischer Betrachtung. In Afghanistan wird es früher oder später zum Zusammenstoß zwischen den rivalisirenden Mächten kommen müssen. Viel¬ leicht vollzieht sich der fabelhafte Kampf zwischen Bär und Haifisch dereinst an der Mündung des Indus. In allen Fällen, welche einen Konflikt zwischen England und Rußland veranlassen können, wird das streitige Objekt immer ein Küstenstrich sein. Seit Generationen ringt der russische Koloß nach einem maritimen Ausgange. Eine »»geheure Landgrenze und keine einzige freie Verbindung mit dem Ozean! Die Ostsee hat für deu nordischen Kaiserstaat nnr die Bedeutung eines Binnenmeeres,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/607>, abgerufen am 22.07.2024.