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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Aus dem Jahre ^3W.

in dem einen Lande beförderte, was in dem andern gehemmt wurde, und in
dem einen von oben her belobte, was in dem andern verfolgt wurde, und dies
mußte bei den engen Beziehungen, welche das soziale und literarische Leben
zwischen den einzelnen Ländern knüpfte, dahin führen, daß viele Negierungs-
maßregeln den Schein der Willkür und Gewaltthätigkeit annahmen.

Dazu waren nun noch in einzelnen deutschen Ländern besondre Schäden
gekommen. In Baiern hatte seit anderthalb Jahren die spanische Tänzerin
Lota Montez den altgewordenen König Ludwig in einen schweren Konflikt mit
allen anständigen Leuten verwickelt, in welchem auch schon vor den Märztagen der
Straßenpöbel gelegentlich Partei gegen die fremde Landfcchrerin und den König
genommen hatte. In Kurhessen wurde der Kampf gegen die Ansprüche der
Ständeversammlung von der Regierung mit soviel Rechthaberei und Rachsucht
geführt, daß er aufs tiefste erbitterte. In andern Ländern hatte man taktlos
und unverständig geistige Bewegungen mit bloß polizeilichen Mitteln nieder¬
halten zu können vermeint; man hatte veraltete Einrichtungen, die dem Rechts-
bewußtsein uicht mehr entsprachen, ans Mangel an Thatkraft zu lauge bestehen
lassen, oder man hatte für materielle Not nicht eher Augen und Ohr gehabt,
als bis ihr nicht mehr gesteuert werden konnte, und in dem Hungerjahre,
welches auf die schlechten Ernten von 1845 und 1846 folgte, hatte man es
an vielen Orten erst zu Vvlkstumultcn, den sogenannten Kartoffelunruhen,
kommen lassen. ehe man zu energischen Maßregeln schritt, und hatte dadurch
dem Pöbel die sehr bedenkliche Lehre gegeben, daß das Tumultiren unter Um-
ständen ganz nützlich sein könne.

Das Schlimmste von allem aber war, daß ein Geist des Widerspruchs
und der Unzufriedenheit großgezogen war, der von der Tagespresse und von
den sogenannten politischen Dichtern genährt wurde, und der nirgends ein aus¬
reichendes Gegengewicht fand. Unbehagen über die Zustände, wie sie die Wiener
Verträge im deutschen Bunde geschaffen hatten, der dringende Wunsch, die Ver¬
fassungsideale erfüllt zu sehen, in welchen die damalige Staatsweisheit das Heil¬
mittel gegen alle Notstände sah, Unzufriedenheit mit dem Übereifer der Polizei,
Verstimmung der Nationalisten von der alten Art über das mehr und mehr
erwachende und an Einfluß gewinnende religiöse Glaubensleben, und daneben
die Propaganda der jungen atheistischen und materialistischen Schule -- alles
wirkte zusammen, um der damaligen Generation die Zufriedenheit und den
Glauben an die Dauerhaftigkeit der öffentlichen Zustände zu nehmen. Es war
eine gewisse Schadenfreude vorherrschend. Wie jeuer Knabe sagte: Es geschieht
meinem Vater schon recht, wenn mir die Hände erfrieren, warum kauft er mir
keine Handschuhe! so freute sich damals auch der große Haufe, ja die gute Gesell¬
schaft jeder Niederlage, welche die Obrigkeit erlitt, und jedes Ereignisses, welches
an den Fundamenten der öffentlichen Ordnung rüttelte, ohne zu bedenken, daß
sie selbst demnächst die Kosten des Zusammenbruches würden bezahlen müssen-


Aus dem Jahre ^3W.

in dem einen Lande beförderte, was in dem andern gehemmt wurde, und in
dem einen von oben her belobte, was in dem andern verfolgt wurde, und dies
mußte bei den engen Beziehungen, welche das soziale und literarische Leben
zwischen den einzelnen Ländern knüpfte, dahin führen, daß viele Negierungs-
maßregeln den Schein der Willkür und Gewaltthätigkeit annahmen.

Dazu waren nun noch in einzelnen deutschen Ländern besondre Schäden
gekommen. In Baiern hatte seit anderthalb Jahren die spanische Tänzerin
Lota Montez den altgewordenen König Ludwig in einen schweren Konflikt mit
allen anständigen Leuten verwickelt, in welchem auch schon vor den Märztagen der
Straßenpöbel gelegentlich Partei gegen die fremde Landfcchrerin und den König
genommen hatte. In Kurhessen wurde der Kampf gegen die Ansprüche der
Ständeversammlung von der Regierung mit soviel Rechthaberei und Rachsucht
geführt, daß er aufs tiefste erbitterte. In andern Ländern hatte man taktlos
und unverständig geistige Bewegungen mit bloß polizeilichen Mitteln nieder¬
halten zu können vermeint; man hatte veraltete Einrichtungen, die dem Rechts-
bewußtsein uicht mehr entsprachen, ans Mangel an Thatkraft zu lauge bestehen
lassen, oder man hatte für materielle Not nicht eher Augen und Ohr gehabt,
als bis ihr nicht mehr gesteuert werden konnte, und in dem Hungerjahre,
welches auf die schlechten Ernten von 1845 und 1846 folgte, hatte man es
an vielen Orten erst zu Vvlkstumultcn, den sogenannten Kartoffelunruhen,
kommen lassen. ehe man zu energischen Maßregeln schritt, und hatte dadurch
dem Pöbel die sehr bedenkliche Lehre gegeben, daß das Tumultiren unter Um-
ständen ganz nützlich sein könne.

Das Schlimmste von allem aber war, daß ein Geist des Widerspruchs
und der Unzufriedenheit großgezogen war, der von der Tagespresse und von
den sogenannten politischen Dichtern genährt wurde, und der nirgends ein aus¬
reichendes Gegengewicht fand. Unbehagen über die Zustände, wie sie die Wiener
Verträge im deutschen Bunde geschaffen hatten, der dringende Wunsch, die Ver¬
fassungsideale erfüllt zu sehen, in welchen die damalige Staatsweisheit das Heil¬
mittel gegen alle Notstände sah, Unzufriedenheit mit dem Übereifer der Polizei,
Verstimmung der Nationalisten von der alten Art über das mehr und mehr
erwachende und an Einfluß gewinnende religiöse Glaubensleben, und daneben
die Propaganda der jungen atheistischen und materialistischen Schule — alles
wirkte zusammen, um der damaligen Generation die Zufriedenheit und den
Glauben an die Dauerhaftigkeit der öffentlichen Zustände zu nehmen. Es war
eine gewisse Schadenfreude vorherrschend. Wie jeuer Knabe sagte: Es geschieht
meinem Vater schon recht, wenn mir die Hände erfrieren, warum kauft er mir
keine Handschuhe! so freute sich damals auch der große Haufe, ja die gute Gesell¬
schaft jeder Niederlage, welche die Obrigkeit erlitt, und jedes Ereignisses, welches
an den Fundamenten der öffentlichen Ordnung rüttelte, ohne zu bedenken, daß
sie selbst demnächst die Kosten des Zusammenbruches würden bezahlen müssen-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/522>, abgerufen am 29.09.2024.