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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Aus dem Jahre ^3^8.

Nacht nicht wenige Barrikaden zum Schutze gegen die Kosaken gebaut worden
sein. Die Furcht vor plündernden und sengenden Scharen trat einige Wochen
epidemisch auf, nur daß die gefürchteten Feinde überall verschiedne Namen hatten.
Im Schwarzwald hieß es, die Franzosen kämen, sie seien schon im nächsten
Dorfe, und man läutete Sturm; anderswo hieß es, die Polen seien da, oder
die Oberschlesier oder die Bewohner von andern Gegenden, die man als arm
und bettelhaft kannte; oder es hieß gar, die Züchtlinge irgendeiner großen
Strafanstalt seien ausgebrochen und im Anmarsch, und oft genug rückten die
neugegründeten Bürgerwehren mit grimmem Kampfesmut und in ernster Todes¬
verachtung gegen Feinde aus, die garnicht existirten.

So war überall wirre Unruhe über die deutschen Länder gekommen. Aber
von dieser Art der Unruhe war es doch noch ein weiter Weg bis zur offenen
Auflehnung gegen die bestehenden Gewalten, und wie haben wir es uns zu er¬
klären, daß auch dieser Weg in so unglaublich kurzer Zeit zurückgelegt wurde?
Grausamer Steuerdruck, allgemeine hoffnungslose Verarmung, Bestechlichkeit der
Richter, willkürliche Bedrückung durch unkontrolirbare Beamte, tyrannische
Gewalt eines fremden, unrechtmäßigen Herrschergeschlechts, und was sonst die
Völker zum Aufstand getrieben hat, das alles war auch vor 1848 in den
deutschen Landen nicht vorhanden; vielmehr muß man anerkennen, daß sich die
öffentlichen Angelegenheiten in den vorhergehenden Jahrzehnten in mancher Be¬
ziehung günstig entwickelt hatten. Der Wohlstand war im Zunehmen begriffen,
die großen Wunden, welche die Franzosenzeit geschlagen hatte, waren vernarbt,
die Bevölkerungen hatten sich in die neuen Staatsgebilde, denen sie in dem
Wiener Frieden in oft sehr willkürlicher Weise zugeteilt waren, mehr und mehr
hineingewöhnt und hatten sich auch innerlich ihren jetzigen Landesherren unter¬
worfen, das Staatswesen wandelte sich allmählich aus dem alten Patrimonial-
staat in den modernen Rechtsstaat, und von der erstrebten deutschen Einheit
hatte man sich wenigstens nicht entfernt, sondern hie und da sogar genähert.
Man durfte hoffen, daß man auch bei ruhigem Fortschreiten nicht in schlechtere,
sondern in bessere Zustände kommen würde.

Daneben gab es freilich auch manche dunkeln Schatten in den einzelnen
deutschen Ländern. Ich rechne namentlich dahin ein gewisses Überwuchern der
Polizei, die viel zu viel unter ihre Aussicht nehmen und durch ihre Organe
regeln wollte, und doch nicht beweglich und gewandt genug war, um den wech¬
selnde" Anschauungen und Bedürfnissen des Lebens schnell gerecht werden zu
können und deshalb unendlich oft nur als Hemmschuh oder gar als Hindernis
empfunden wurde, ferner ein Übertreiben der Staatsidee in den einzelnen
deutschen Ländern,' sodaß auch manche der kleinsten Länder sich geberdeten, als
wären sie große Staaten, die alle Bedingungen der Existenz in sich trügen und
sich daher in sich möglichst abschließen könnten, und als Folge davon eine Un¬
gleichheit in der Entwicklung der an einander grenzenden Länder, sodaß man


Aus dem Jahre ^3^8.

Nacht nicht wenige Barrikaden zum Schutze gegen die Kosaken gebaut worden
sein. Die Furcht vor plündernden und sengenden Scharen trat einige Wochen
epidemisch auf, nur daß die gefürchteten Feinde überall verschiedne Namen hatten.
Im Schwarzwald hieß es, die Franzosen kämen, sie seien schon im nächsten
Dorfe, und man läutete Sturm; anderswo hieß es, die Polen seien da, oder
die Oberschlesier oder die Bewohner von andern Gegenden, die man als arm
und bettelhaft kannte; oder es hieß gar, die Züchtlinge irgendeiner großen
Strafanstalt seien ausgebrochen und im Anmarsch, und oft genug rückten die
neugegründeten Bürgerwehren mit grimmem Kampfesmut und in ernster Todes¬
verachtung gegen Feinde aus, die garnicht existirten.

So war überall wirre Unruhe über die deutschen Länder gekommen. Aber
von dieser Art der Unruhe war es doch noch ein weiter Weg bis zur offenen
Auflehnung gegen die bestehenden Gewalten, und wie haben wir es uns zu er¬
klären, daß auch dieser Weg in so unglaublich kurzer Zeit zurückgelegt wurde?
Grausamer Steuerdruck, allgemeine hoffnungslose Verarmung, Bestechlichkeit der
Richter, willkürliche Bedrückung durch unkontrolirbare Beamte, tyrannische
Gewalt eines fremden, unrechtmäßigen Herrschergeschlechts, und was sonst die
Völker zum Aufstand getrieben hat, das alles war auch vor 1848 in den
deutschen Landen nicht vorhanden; vielmehr muß man anerkennen, daß sich die
öffentlichen Angelegenheiten in den vorhergehenden Jahrzehnten in mancher Be¬
ziehung günstig entwickelt hatten. Der Wohlstand war im Zunehmen begriffen,
die großen Wunden, welche die Franzosenzeit geschlagen hatte, waren vernarbt,
die Bevölkerungen hatten sich in die neuen Staatsgebilde, denen sie in dem
Wiener Frieden in oft sehr willkürlicher Weise zugeteilt waren, mehr und mehr
hineingewöhnt und hatten sich auch innerlich ihren jetzigen Landesherren unter¬
worfen, das Staatswesen wandelte sich allmählich aus dem alten Patrimonial-
staat in den modernen Rechtsstaat, und von der erstrebten deutschen Einheit
hatte man sich wenigstens nicht entfernt, sondern hie und da sogar genähert.
Man durfte hoffen, daß man auch bei ruhigem Fortschreiten nicht in schlechtere,
sondern in bessere Zustände kommen würde.

Daneben gab es freilich auch manche dunkeln Schatten in den einzelnen
deutschen Ländern. Ich rechne namentlich dahin ein gewisses Überwuchern der
Polizei, die viel zu viel unter ihre Aussicht nehmen und durch ihre Organe
regeln wollte, und doch nicht beweglich und gewandt genug war, um den wech¬
selnde» Anschauungen und Bedürfnissen des Lebens schnell gerecht werden zu
können und deshalb unendlich oft nur als Hemmschuh oder gar als Hindernis
empfunden wurde, ferner ein Übertreiben der Staatsidee in den einzelnen
deutschen Ländern,' sodaß auch manche der kleinsten Länder sich geberdeten, als
wären sie große Staaten, die alle Bedingungen der Existenz in sich trügen und
sich daher in sich möglichst abschließen könnten, und als Folge davon eine Un¬
gleichheit in der Entwicklung der an einander grenzenden Länder, sodaß man


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[0521] Aus dem Jahre ^3^8. Nacht nicht wenige Barrikaden zum Schutze gegen die Kosaken gebaut worden sein. Die Furcht vor plündernden und sengenden Scharen trat einige Wochen epidemisch auf, nur daß die gefürchteten Feinde überall verschiedne Namen hatten. Im Schwarzwald hieß es, die Franzosen kämen, sie seien schon im nächsten Dorfe, und man läutete Sturm; anderswo hieß es, die Polen seien da, oder die Oberschlesier oder die Bewohner von andern Gegenden, die man als arm und bettelhaft kannte; oder es hieß gar, die Züchtlinge irgendeiner großen Strafanstalt seien ausgebrochen und im Anmarsch, und oft genug rückten die neugegründeten Bürgerwehren mit grimmem Kampfesmut und in ernster Todes¬ verachtung gegen Feinde aus, die garnicht existirten. So war überall wirre Unruhe über die deutschen Länder gekommen. Aber von dieser Art der Unruhe war es doch noch ein weiter Weg bis zur offenen Auflehnung gegen die bestehenden Gewalten, und wie haben wir es uns zu er¬ klären, daß auch dieser Weg in so unglaublich kurzer Zeit zurückgelegt wurde? Grausamer Steuerdruck, allgemeine hoffnungslose Verarmung, Bestechlichkeit der Richter, willkürliche Bedrückung durch unkontrolirbare Beamte, tyrannische Gewalt eines fremden, unrechtmäßigen Herrschergeschlechts, und was sonst die Völker zum Aufstand getrieben hat, das alles war auch vor 1848 in den deutschen Landen nicht vorhanden; vielmehr muß man anerkennen, daß sich die öffentlichen Angelegenheiten in den vorhergehenden Jahrzehnten in mancher Be¬ ziehung günstig entwickelt hatten. Der Wohlstand war im Zunehmen begriffen, die großen Wunden, welche die Franzosenzeit geschlagen hatte, waren vernarbt, die Bevölkerungen hatten sich in die neuen Staatsgebilde, denen sie in dem Wiener Frieden in oft sehr willkürlicher Weise zugeteilt waren, mehr und mehr hineingewöhnt und hatten sich auch innerlich ihren jetzigen Landesherren unter¬ worfen, das Staatswesen wandelte sich allmählich aus dem alten Patrimonial- staat in den modernen Rechtsstaat, und von der erstrebten deutschen Einheit hatte man sich wenigstens nicht entfernt, sondern hie und da sogar genähert. Man durfte hoffen, daß man auch bei ruhigem Fortschreiten nicht in schlechtere, sondern in bessere Zustände kommen würde. Daneben gab es freilich auch manche dunkeln Schatten in den einzelnen deutschen Ländern. Ich rechne namentlich dahin ein gewisses Überwuchern der Polizei, die viel zu viel unter ihre Aussicht nehmen und durch ihre Organe regeln wollte, und doch nicht beweglich und gewandt genug war, um den wech¬ selnde» Anschauungen und Bedürfnissen des Lebens schnell gerecht werden zu können und deshalb unendlich oft nur als Hemmschuh oder gar als Hindernis empfunden wurde, ferner ein Übertreiben der Staatsidee in den einzelnen deutschen Ländern,' sodaß auch manche der kleinsten Länder sich geberdeten, als wären sie große Staaten, die alle Bedingungen der Existenz in sich trügen und sich daher in sich möglichst abschließen könnten, und als Folge davon eine Un¬ gleichheit in der Entwicklung der an einander grenzenden Länder, sodaß man

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/521>, abgerufen am 23.07.2024.