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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Aus dem Jahre ^3H8.

Riesenarmen. Jeder fühlte, daß es Weltgeschichte im großen Stile sei, die da
oben geschrieben werde, und jeder wollte wenigstens den Genuß haben, an dem
Inhalt derselben herumzuraten. In den Haufen, die sich dadurch bildeten, war
man schon in den ersten Tagen darüber einig, daß jetzt der Befehl abgebe, die
franzö fische Grenze zu besetzen, die rheinischen Festungen auf Kriegsfuß zu setzen,
die Landwehr einzuberufen; man disputirte über die Aufstellung von Armeen,
man ließ eindringende französische Frcischaren durch unsre braven Kanoniere
niederkartätschen, und keine Nachricht war abenteuerlich genug, um nicht geglaubt
zu werden.

Der Vorgang in Paris war etwas so überraschendes, ungeheures gewesen,
daß man schon dafür den ganzen Vorrat an der Gabe des Sichverwunderu-
könnens ausgegeben hatte. Man war nun auf alles noch so ungeheuerliche
gefaßt, ja in der gewaltigen Aufregung, in der man begriffen war, begehrte
man, wie das so menschliche Art ist, noch immer neue Nahrung für die Neu¬
gierde und konnte nicht genug des Erregenden erfahren- Diese Stimmung steigerte
sich noch, als die Revolution immer weiter um sich griff, und aus immer
näheren Kreisen die unerhörtesten Nachrichten einliefen. Immer mehr schwand
aber auch die Gabe der Kritik, und es ließ sich fast keine noch fo thörichte
Nachricht erfinden, die nicht, wenn sie nur in den Geist der Zeit hineinpaßte,
ihre Gläubigen gefunden hätte.

Unser großer Humorist, Fritz Reuter, führt uns unter den bunte" Bildern
aus der Revolutionszeit, die er in der "Stromtid" aus dem angeblichen mecklen¬
burgischen Städtchen Rahnstädt giebt, den Advokaten Rein vor, wie er in jenen
Märztagen den Kleinstädtern vorfabulirt, daß auch die Eskimos revoltirten,
weil sie die Erdachse am Nordpol nicht mehr umsonst drehen und wenigstens
den Thran zum Schmieren der Erdachse bezahlt haben wollten, und daß
auf der Insel Ferro ein Kavallerieregiment zum Schutz des Meridians habe
ausrücken müssen, und er läßt den Advokaten Nein gläubige Zuhörer für
seine Tollheiten finden. Wenn es uns aber scheinen will, als würden mit der
letzteren Behauptung die Grenzen, welche ein Dichter beachten muß, wenn er
Glauben für seine Gebilde finden will, gar zu weit überschritten, so müssen wir
uns nur an alle die wunderbaren Mären von drohenden Gefahren erinnern,
die in jenen Tagen in Deutschland umgingen und die oft genug die komischsten
Szenen hervorriefen. In Berlin ward das Wort "Der Russe rüstet" alsbald
nach den Märzkämpfen zum Schlagwort in Volksversammlungen und Mauer¬
anschlägen, und obwohl damals noch leine Eisenbahn über Berlin hinaus an
die russische Grenze führte und der Marsch einer russischen Armee jedenfalls
Monate gedauert hätte, so fand doch schon wenige Tage nach dem 18. März
die Nachricht Glauben, daß die Russen bereits auf Berlin marschirten, ja auf
dem Gesundbrunnen im Norden der Stadt mit ihren Vorposten stünden und
in der Nacht eindringen und alles massakriren würden, und es sollen in dieser


Aus dem Jahre ^3H8.

Riesenarmen. Jeder fühlte, daß es Weltgeschichte im großen Stile sei, die da
oben geschrieben werde, und jeder wollte wenigstens den Genuß haben, an dem
Inhalt derselben herumzuraten. In den Haufen, die sich dadurch bildeten, war
man schon in den ersten Tagen darüber einig, daß jetzt der Befehl abgebe, die
franzö fische Grenze zu besetzen, die rheinischen Festungen auf Kriegsfuß zu setzen,
die Landwehr einzuberufen; man disputirte über die Aufstellung von Armeen,
man ließ eindringende französische Frcischaren durch unsre braven Kanoniere
niederkartätschen, und keine Nachricht war abenteuerlich genug, um nicht geglaubt
zu werden.

Der Vorgang in Paris war etwas so überraschendes, ungeheures gewesen,
daß man schon dafür den ganzen Vorrat an der Gabe des Sichverwunderu-
könnens ausgegeben hatte. Man war nun auf alles noch so ungeheuerliche
gefaßt, ja in der gewaltigen Aufregung, in der man begriffen war, begehrte
man, wie das so menschliche Art ist, noch immer neue Nahrung für die Neu¬
gierde und konnte nicht genug des Erregenden erfahren- Diese Stimmung steigerte
sich noch, als die Revolution immer weiter um sich griff, und aus immer
näheren Kreisen die unerhörtesten Nachrichten einliefen. Immer mehr schwand
aber auch die Gabe der Kritik, und es ließ sich fast keine noch fo thörichte
Nachricht erfinden, die nicht, wenn sie nur in den Geist der Zeit hineinpaßte,
ihre Gläubigen gefunden hätte.

Unser großer Humorist, Fritz Reuter, führt uns unter den bunte» Bildern
aus der Revolutionszeit, die er in der „Stromtid" aus dem angeblichen mecklen¬
burgischen Städtchen Rahnstädt giebt, den Advokaten Rein vor, wie er in jenen
Märztagen den Kleinstädtern vorfabulirt, daß auch die Eskimos revoltirten,
weil sie die Erdachse am Nordpol nicht mehr umsonst drehen und wenigstens
den Thran zum Schmieren der Erdachse bezahlt haben wollten, und daß
auf der Insel Ferro ein Kavallerieregiment zum Schutz des Meridians habe
ausrücken müssen, und er läßt den Advokaten Nein gläubige Zuhörer für
seine Tollheiten finden. Wenn es uns aber scheinen will, als würden mit der
letzteren Behauptung die Grenzen, welche ein Dichter beachten muß, wenn er
Glauben für seine Gebilde finden will, gar zu weit überschritten, so müssen wir
uns nur an alle die wunderbaren Mären von drohenden Gefahren erinnern,
die in jenen Tagen in Deutschland umgingen und die oft genug die komischsten
Szenen hervorriefen. In Berlin ward das Wort „Der Russe rüstet" alsbald
nach den Märzkämpfen zum Schlagwort in Volksversammlungen und Mauer¬
anschlägen, und obwohl damals noch leine Eisenbahn über Berlin hinaus an
die russische Grenze führte und der Marsch einer russischen Armee jedenfalls
Monate gedauert hätte, so fand doch schon wenige Tage nach dem 18. März
die Nachricht Glauben, daß die Russen bereits auf Berlin marschirten, ja auf
dem Gesundbrunnen im Norden der Stadt mit ihren Vorposten stünden und
in der Nacht eindringen und alles massakriren würden, und es sollen in dieser


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/520>, abgerufen am 25.08.2024.