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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Widerstreben keineswegs identisch, aber die Feindseligkeit hat sich wesentlich auf
das Vorhandensein desselben gestützt. In dem Maße, als das Widerstreben
der Ehrlichen verschwindet, wird auch die Verurteilung dnrch die Mißwollenden
sinnloser, gehässiger erscheinen und endlich unmöglich werden. Darum hätten
wir von Herzen gewünscht, daß die besten Dramen Hebbels und die allmählich
ans der Menge seiner Dichtungen herausleuchtenden, ganz vollendeten lyrischen
Gedichte ihr stilles Werk noch ein paar Jahrzehnte weiter verrichtet hätten,
ehe der bittere Streit um die Grenze, innerhalb deren, und die Form, in welcher
sich das Selbstbewußtsein des großen Talentes cinßern darf, aufs neue zur
Hauptsache gemacht werden konnte.

Doch Friedrich Hebbels "Tagebücher" sind nun einmal erschienen, und der
Herausgeber hegt die Hoffnung, dem Andenken des Dichters schon jetzt durch
die Veröffentlichung genützt zu haben. "Hebbels Leben und Literatur ssoll wohl
heißen Schöpfungen oder Wevle!^ bilden im deutschen Literaturlebcu selbst ein
Drama; wir haben bis jetzt nur der Verwirklichung beigewohnt, die Lösung
kommt noch. Auch bis zur Klärung des verwandten Schattens Heinrichs von
Kleist ist mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen" heißt es am Schlüsse
von Bambcrgs Einleitung. Und gleichsam um den Leser für die Eindrücke des
folgenden Bandes vorzubereiten, setzt der Herausgeber hinzu, daß Hebbels Todes¬
krankheit im funfzigsten Lebensjahre (eine Knochenerweichung) "infolge mangel¬
hafter Nahrung in der Jngend, vielleicht infolge übergroßen Andranges geistiger
Stoffe, vielleicht durch beides zugleich" herbeigeführt worden sei. "Wenn die
Wirkung der Not auf das Gehirn nicht bloß in moralischer, sondern auch in
physiologischer Beziehung zu der außerordentlichen Steigerung der Geistesthätig¬
keit Hebbels beigetragen hat Mlle?j, so könnte man sich leichter mit seinem Loose
versöhnen. Die nicht tief genng in die Verkettung menschlichen Geschickes ein¬
gedrungen find, behaupten, Hebbel würde ein andrer geworden sein, wenn er
in günstigeren Verhältnissen gelebt hätte. Versöhnlicher nehme ich an, daß er
sich dann wahrscheinlich minder tief und umfassend entwickelt haben würde; ja
vielleicht ist das Bild von der Perle, mit welchem diese Abhandlung beginnt
sBamberg hat zu Anfang der Vorstellung gedacht, nach welcher Perlen, wenn
sie nicht getragen werden, absterben! nicht ganz zutreffend, da Hebbel von seiner
Zeit getragen, von seinen schöpferischen Dämonen vielleicht verlassen worden
wäre. Wer auf Erden keine Tragödie spielt, wird im Leben leine schreiben."

Die vielen "wenn" und "vielleicht" nehmen den Anschauungen, die der
Verfasser hier entwickelt, keineswegs ihr Bedenkliches, denn die alte Annahme
"Das Mal der Dichtung ist ein Kainsstempel" schaut überall aus ihnen heraus.
Wir empfangen im Gegensatz dazu sowohl ans Hebbels eignem spätern Leben
als aus den zur Zeit vorliegenden "Tagebüchern," welche der Leidens- und
Kampfesperiode des jugendlichen Dichters bis 1842) angehören, die be¬
stimmte Zuversicht, daß die Not keineswegs die vorzüglichste Amme der großen


Widerstreben keineswegs identisch, aber die Feindseligkeit hat sich wesentlich auf
das Vorhandensein desselben gestützt. In dem Maße, als das Widerstreben
der Ehrlichen verschwindet, wird auch die Verurteilung dnrch die Mißwollenden
sinnloser, gehässiger erscheinen und endlich unmöglich werden. Darum hätten
wir von Herzen gewünscht, daß die besten Dramen Hebbels und die allmählich
ans der Menge seiner Dichtungen herausleuchtenden, ganz vollendeten lyrischen
Gedichte ihr stilles Werk noch ein paar Jahrzehnte weiter verrichtet hätten,
ehe der bittere Streit um die Grenze, innerhalb deren, und die Form, in welcher
sich das Selbstbewußtsein des großen Talentes cinßern darf, aufs neue zur
Hauptsache gemacht werden konnte.

Doch Friedrich Hebbels „Tagebücher" sind nun einmal erschienen, und der
Herausgeber hegt die Hoffnung, dem Andenken des Dichters schon jetzt durch
die Veröffentlichung genützt zu haben. „Hebbels Leben und Literatur ssoll wohl
heißen Schöpfungen oder Wevle!^ bilden im deutschen Literaturlebcu selbst ein
Drama; wir haben bis jetzt nur der Verwirklichung beigewohnt, die Lösung
kommt noch. Auch bis zur Klärung des verwandten Schattens Heinrichs von
Kleist ist mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen" heißt es am Schlüsse
von Bambcrgs Einleitung. Und gleichsam um den Leser für die Eindrücke des
folgenden Bandes vorzubereiten, setzt der Herausgeber hinzu, daß Hebbels Todes¬
krankheit im funfzigsten Lebensjahre (eine Knochenerweichung) „infolge mangel¬
hafter Nahrung in der Jngend, vielleicht infolge übergroßen Andranges geistiger
Stoffe, vielleicht durch beides zugleich" herbeigeführt worden sei. „Wenn die
Wirkung der Not auf das Gehirn nicht bloß in moralischer, sondern auch in
physiologischer Beziehung zu der außerordentlichen Steigerung der Geistesthätig¬
keit Hebbels beigetragen hat Mlle?j, so könnte man sich leichter mit seinem Loose
versöhnen. Die nicht tief genng in die Verkettung menschlichen Geschickes ein¬
gedrungen find, behaupten, Hebbel würde ein andrer geworden sein, wenn er
in günstigeren Verhältnissen gelebt hätte. Versöhnlicher nehme ich an, daß er
sich dann wahrscheinlich minder tief und umfassend entwickelt haben würde; ja
vielleicht ist das Bild von der Perle, mit welchem diese Abhandlung beginnt
sBamberg hat zu Anfang der Vorstellung gedacht, nach welcher Perlen, wenn
sie nicht getragen werden, absterben! nicht ganz zutreffend, da Hebbel von seiner
Zeit getragen, von seinen schöpferischen Dämonen vielleicht verlassen worden
wäre. Wer auf Erden keine Tragödie spielt, wird im Leben leine schreiben."

Die vielen „wenn" und „vielleicht" nehmen den Anschauungen, die der
Verfasser hier entwickelt, keineswegs ihr Bedenkliches, denn die alte Annahme
„Das Mal der Dichtung ist ein Kainsstempel" schaut überall aus ihnen heraus.
Wir empfangen im Gegensatz dazu sowohl ans Hebbels eignem spätern Leben
als aus den zur Zeit vorliegenden „Tagebüchern," welche der Leidens- und
Kampfesperiode des jugendlichen Dichters bis 1842) angehören, die be¬
stimmte Zuversicht, daß die Not keineswegs die vorzüglichste Amme der großen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/39>, abgerufen am 22.07.2024.