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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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L- M. Dostojewsky.

das ihm bis dahin unbekannt geblieben war. Im Realisten entspringt der
Glaube nicht aus dem Wunder, sondern das Wunder aus dem Glauben. Wenn
ein Realist einmal glaubt, dann zwingt ihn gerade sein Realismus, auch das
Wunder zu statuiren. Der Apostel Thomas erklärte, er werde nicht glauben,
es sei denn, er habe gesehen; aber nachdem er gesehen hatte, sagte er: "Mein
Herr und mein Gott!" Hat etwa das Wunder ihn gezwungen, zu glauben?
Am wahrscheinlichsten ist es, daß es nicht der Fall war, sondern er glaubte
lediglich deshalb, weil er zu glauben wünschte, und vielleicht glaubte er voll¬
ständig, im geheimsten Herzen, schon damals, als er sprach: "Ich werde nicht
glauben, es sei denn, daß ich sehe."" (I, 29.) Dostojewsky gebraucht hier die
Bezeichnung "Realist" in einem bei uns nicht gangbaren Sinne; einen Men¬
schen, der sich auf den thatsächlichen Augenschein nicht so stützt, daß er diesen
allein als Wahrheitsbeweis anerkennt, pflegen wir nicht als einen Realisten zu
bezeichnen. Wer da sieht, was er zu scheu wünscht, hat mehr Vertrauen in
sich selbst, in die Wahrheit, die sein Geist produzirt, als in die Außenwelt. Und
da es der ideale Held des Romans ist, den der Dichter so charakterisirt, so ist
es vielmehr der entschlossenste Idealismus, zu dem er sich in dieser Form bekennt,
als der wirkliche Realismus.

Auch aus den als sechstes Buch in den Roman eingeschobenen Bekennt¬
nisse" "Aus den Unterhaltungen und Lehren des Staretz Svssima" (eines im
Gerüche der Heiligkeit stehenden geistlichen Weisen) darf man die eigne An¬
schauung des Dichters herauslesen; sie enthalten seine Ethik. Und da heißt es
u. a.: "Brüder, scheut nicht zurück vor der Sünde der Menschen, liebet die
Menschen auch in ihrer Sünde, denn das ist das Ebenbild der göttlichen Liebe
und der Gipfel der Liebe auf Erden. Liebet die ganze Schöpfung Gottes, wie
das Ganze, so auch jedes Sandkörnchen. Liebet jedes Blättchen, jeden Licht¬
strahl Gottes. Liebt die Tiere, liebt die Pflanzen, liebt jegliches Ding. Liebst
du jegliches Ding, so wird sich dir Gottes Geheimnis in den Dingen offenbaren.
Einstmals wird es dir offenbar werden, und dann wirst du es Tag für Tag
immer mehr erkennen. Und schließlich wirst du das ganze Weltall lieben mit
alles umfassender, alles umspannender Liebe. Liebet die Tiere. Gott hat ihnen
das Prinzip des Denkens und harmlose Freudigkeit verliehen. Stört sie nicht,
quält sie nicht, nehmt ihnen nicht den Frohsinn, handelt nicht dem Gedanken
Gottes zuwider. Der Mensch überhebe sich nicht den Tieren gegenüber; sie
sind sündlos, er aber in seiner Größe versetzt die Erde durch seine Erscheinung
in Fäulnis und läßt seine faulige Spur hinter sich -- v weh, fast jeder voll
uus. Liebet besonders die Kinder, denn auch sie sind sttudlos, gleich den Engeln,
sie leben zu unsrer Demütigung, zur Reinigung unsrer Herzen und gleichsam
als Beispiel für uns. Fluch dem, der ein Kind gekränkt hat. Mich hat der
Pater Anfim (sein Begleiter beim Pilgern) gelehrt, die Kinder zu lieben. Auf
unsern Wanderungen hat dieser liebe Schweiger ihnen für geschenkte Groschen


L- M. Dostojewsky.

das ihm bis dahin unbekannt geblieben war. Im Realisten entspringt der
Glaube nicht aus dem Wunder, sondern das Wunder aus dem Glauben. Wenn
ein Realist einmal glaubt, dann zwingt ihn gerade sein Realismus, auch das
Wunder zu statuiren. Der Apostel Thomas erklärte, er werde nicht glauben,
es sei denn, er habe gesehen; aber nachdem er gesehen hatte, sagte er: »Mein
Herr und mein Gott!« Hat etwa das Wunder ihn gezwungen, zu glauben?
Am wahrscheinlichsten ist es, daß es nicht der Fall war, sondern er glaubte
lediglich deshalb, weil er zu glauben wünschte, und vielleicht glaubte er voll¬
ständig, im geheimsten Herzen, schon damals, als er sprach: »Ich werde nicht
glauben, es sei denn, daß ich sehe.«" (I, 29.) Dostojewsky gebraucht hier die
Bezeichnung „Realist" in einem bei uns nicht gangbaren Sinne; einen Men¬
schen, der sich auf den thatsächlichen Augenschein nicht so stützt, daß er diesen
allein als Wahrheitsbeweis anerkennt, pflegen wir nicht als einen Realisten zu
bezeichnen. Wer da sieht, was er zu scheu wünscht, hat mehr Vertrauen in
sich selbst, in die Wahrheit, die sein Geist produzirt, als in die Außenwelt. Und
da es der ideale Held des Romans ist, den der Dichter so charakterisirt, so ist
es vielmehr der entschlossenste Idealismus, zu dem er sich in dieser Form bekennt,
als der wirkliche Realismus.

Auch aus den als sechstes Buch in den Roman eingeschobenen Bekennt¬
nisse» „Aus den Unterhaltungen und Lehren des Staretz Svssima" (eines im
Gerüche der Heiligkeit stehenden geistlichen Weisen) darf man die eigne An¬
schauung des Dichters herauslesen; sie enthalten seine Ethik. Und da heißt es
u. a.: „Brüder, scheut nicht zurück vor der Sünde der Menschen, liebet die
Menschen auch in ihrer Sünde, denn das ist das Ebenbild der göttlichen Liebe
und der Gipfel der Liebe auf Erden. Liebet die ganze Schöpfung Gottes, wie
das Ganze, so auch jedes Sandkörnchen. Liebet jedes Blättchen, jeden Licht¬
strahl Gottes. Liebt die Tiere, liebt die Pflanzen, liebt jegliches Ding. Liebst
du jegliches Ding, so wird sich dir Gottes Geheimnis in den Dingen offenbaren.
Einstmals wird es dir offenbar werden, und dann wirst du es Tag für Tag
immer mehr erkennen. Und schließlich wirst du das ganze Weltall lieben mit
alles umfassender, alles umspannender Liebe. Liebet die Tiere. Gott hat ihnen
das Prinzip des Denkens und harmlose Freudigkeit verliehen. Stört sie nicht,
quält sie nicht, nehmt ihnen nicht den Frohsinn, handelt nicht dem Gedanken
Gottes zuwider. Der Mensch überhebe sich nicht den Tieren gegenüber; sie
sind sündlos, er aber in seiner Größe versetzt die Erde durch seine Erscheinung
in Fäulnis und läßt seine faulige Spur hinter sich — v weh, fast jeder voll
uus. Liebet besonders die Kinder, denn auch sie sind sttudlos, gleich den Engeln,
sie leben zu unsrer Demütigung, zur Reinigung unsrer Herzen und gleichsam
als Beispiel für uns. Fluch dem, der ein Kind gekränkt hat. Mich hat der
Pater Anfim (sein Begleiter beim Pilgern) gelehrt, die Kinder zu lieben. Auf
unsern Wanderungen hat dieser liebe Schweiger ihnen für geschenkte Groschen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/358>, abgerufen am 23.07.2024.