Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
F. M, Dostojewsky.

So tief also reichen die Unterschiede zwischen den beiden größten Dichtern,
welche wir bis jetzt aus der russischen Literatur kennen gelernt haben. Tur¬
genjew ist Kosmopolit als Künstler und lebt die ganze Zeit seines Lebens
im Auslande; Dostojewsky geht ganz aus im Studium seines eignen Volkes
und hält es für unmöglich, das heilige Rußland je verlassen zu können, Tur¬
genjew ist ein Weltmann, im besten Sinne des Wortes; Dostojewsky hat die
Alliiren eines Apostels, eines religiös Begeisterten. Turgenjew ist ein meta¬
physischer und sozialer Pessimist; Dostojewski) verzweifelt nicht uur nicht an der
Zukunft seines Volkes, sondern legt mit Hand an das Werk der Reformation,
wenigstens in religiöser Beziehung. Turgenjew vertritt den Weltschmerz;
Dostojewski) die Weltfreude, deren Evangelium er direkt, in bewußter polemischer
Tendenz, verkündet; er ist positiver als jener. Turgenjews größtes Ruhmes¬
blatt ist sein Verdienst um die Aufhebung der Leibeigenschaft des russischen
Bauern; Dostojewskys als mächtig bezeugte Einwirkung ist minder leicht er¬
sichtlich, weil sie sich auf die innere Gesinnung seines Volkes erstreckt, die er
nicht bloß kritisirt, souderu befruchtet. Turgenjews Erzählungen sind oft ge¬
taucht in lyrische Stimmung; Dostojewskys, des Ethikers, Extrem liegt in der
Freude am Juristischen. Findet man in der Galerie Turgeujewscher Maunes-
gestalten kaum einen starken Charakter und straft er mit Nachdruck das Erb¬
übel deS russischen Volkes, den maßlosen Hang zur Lüge, sieht er also nichts
als moralische Feigheit und Schwäche, so weiß Dostojewski) auch lichte Seiten
seiner Volksseele zu schildern, er hebt den tiefen religiösen Sinn derselben
hervor, in seinen Dichtungen stehen neben den schwachen auch starke Männer,
neben den typischen Lügnern auch solche, die mit heißem Bemühen nach Wahrheit
streben, sein Weltbild ist reicher und harmonischer als das Turgenjews. Aber
freilich gewinnt dieser letztere durch seiue, aus dein Studium der Franzosen ge¬
wonnene Form, die er als Meister beherrscht, einen Vorsprung vor Dostojewsky,
der mit seinem Reichtum uicht Haus zu halten versteht und bei aller Bewun¬
derung, die nus sein Genie Seite für Seite abtrotzt, den Leser zuweilen ermüdet.

Einige Stellen aus dem vorliegenden Romane mögen diese Charakteristik
illustriren. Gleich im Beginne der "Brüder Karamasow," bei der Einführung
des jüngsten der drei, des Alexei, erklärt der Dichter in ganz eigenartiger Weise
seinen Begriff vom Realismus. Er bezeichnet nämlich Alexei, obwohl er da¬
mals im Kloster ist, um Mönch zu werden, als einen Realisten und fügt hinzu:
"O gewiß, im Kloster glaubte er vollkommen an Wunder, aber meines Trachtens
wird niemals ein Realist durch Wunder beunruhigt. Nicht Wunder machen den
Realisten zum Glauben geneigt. Der aufrichtige Realist, wenn er ungläubig
ist, findet in sich immer die Kraft und die Geschicklichkeit, an ein Wunder nicht
zu glauben, und wenn ein Wunder vor ihm steht als unabweisbare Thatsache,
so ist er schneller bereit, seinen Sinnen zu mißtrauen, als die Thatsache zu stci-
tuiren. Und wenn er sie statuirt, so statuirt er sie als natürliches Ereignis,


Grenzbvtt-n I. 1885. 44
F. M, Dostojewsky.

So tief also reichen die Unterschiede zwischen den beiden größten Dichtern,
welche wir bis jetzt aus der russischen Literatur kennen gelernt haben. Tur¬
genjew ist Kosmopolit als Künstler und lebt die ganze Zeit seines Lebens
im Auslande; Dostojewsky geht ganz aus im Studium seines eignen Volkes
und hält es für unmöglich, das heilige Rußland je verlassen zu können, Tur¬
genjew ist ein Weltmann, im besten Sinne des Wortes; Dostojewsky hat die
Alliiren eines Apostels, eines religiös Begeisterten. Turgenjew ist ein meta¬
physischer und sozialer Pessimist; Dostojewski) verzweifelt nicht uur nicht an der
Zukunft seines Volkes, sondern legt mit Hand an das Werk der Reformation,
wenigstens in religiöser Beziehung. Turgenjew vertritt den Weltschmerz;
Dostojewski) die Weltfreude, deren Evangelium er direkt, in bewußter polemischer
Tendenz, verkündet; er ist positiver als jener. Turgenjews größtes Ruhmes¬
blatt ist sein Verdienst um die Aufhebung der Leibeigenschaft des russischen
Bauern; Dostojewskys als mächtig bezeugte Einwirkung ist minder leicht er¬
sichtlich, weil sie sich auf die innere Gesinnung seines Volkes erstreckt, die er
nicht bloß kritisirt, souderu befruchtet. Turgenjews Erzählungen sind oft ge¬
taucht in lyrische Stimmung; Dostojewskys, des Ethikers, Extrem liegt in der
Freude am Juristischen. Findet man in der Galerie Turgeujewscher Maunes-
gestalten kaum einen starken Charakter und straft er mit Nachdruck das Erb¬
übel deS russischen Volkes, den maßlosen Hang zur Lüge, sieht er also nichts
als moralische Feigheit und Schwäche, so weiß Dostojewski) auch lichte Seiten
seiner Volksseele zu schildern, er hebt den tiefen religiösen Sinn derselben
hervor, in seinen Dichtungen stehen neben den schwachen auch starke Männer,
neben den typischen Lügnern auch solche, die mit heißem Bemühen nach Wahrheit
streben, sein Weltbild ist reicher und harmonischer als das Turgenjews. Aber
freilich gewinnt dieser letztere durch seiue, aus dein Studium der Franzosen ge¬
wonnene Form, die er als Meister beherrscht, einen Vorsprung vor Dostojewsky,
der mit seinem Reichtum uicht Haus zu halten versteht und bei aller Bewun¬
derung, die nus sein Genie Seite für Seite abtrotzt, den Leser zuweilen ermüdet.

Einige Stellen aus dem vorliegenden Romane mögen diese Charakteristik
illustriren. Gleich im Beginne der „Brüder Karamasow," bei der Einführung
des jüngsten der drei, des Alexei, erklärt der Dichter in ganz eigenartiger Weise
seinen Begriff vom Realismus. Er bezeichnet nämlich Alexei, obwohl er da¬
mals im Kloster ist, um Mönch zu werden, als einen Realisten und fügt hinzu:
„O gewiß, im Kloster glaubte er vollkommen an Wunder, aber meines Trachtens
wird niemals ein Realist durch Wunder beunruhigt. Nicht Wunder machen den
Realisten zum Glauben geneigt. Der aufrichtige Realist, wenn er ungläubig
ist, findet in sich immer die Kraft und die Geschicklichkeit, an ein Wunder nicht
zu glauben, und wenn ein Wunder vor ihm steht als unabweisbare Thatsache,
so ist er schneller bereit, seinen Sinnen zu mißtrauen, als die Thatsache zu stci-
tuiren. Und wenn er sie statuirt, so statuirt er sie als natürliches Ereignis,


Grenzbvtt-n I. 1885. 44
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0357" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/195033"/>
          <fw type="header" place="top"> F. M, Dostojewsky.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1283"> So tief also reichen die Unterschiede zwischen den beiden größten Dichtern,<lb/>
welche wir bis jetzt aus der russischen Literatur kennen gelernt haben. Tur¬<lb/>
genjew ist Kosmopolit als Künstler und lebt die ganze Zeit seines Lebens<lb/>
im Auslande; Dostojewsky geht ganz aus im Studium seines eignen Volkes<lb/>
und hält es für unmöglich, das heilige Rußland je verlassen zu können, Tur¬<lb/>
genjew ist ein Weltmann, im besten Sinne des Wortes; Dostojewsky hat die<lb/>
Alliiren eines Apostels, eines religiös Begeisterten. Turgenjew ist ein meta¬<lb/>
physischer und sozialer Pessimist; Dostojewski) verzweifelt nicht uur nicht an der<lb/>
Zukunft seines Volkes, sondern legt mit Hand an das Werk der Reformation,<lb/>
wenigstens in religiöser Beziehung. Turgenjew vertritt den Weltschmerz;<lb/>
Dostojewski) die Weltfreude, deren Evangelium er direkt, in bewußter polemischer<lb/>
Tendenz, verkündet; er ist positiver als jener. Turgenjews größtes Ruhmes¬<lb/>
blatt ist sein Verdienst um die Aufhebung der Leibeigenschaft des russischen<lb/>
Bauern; Dostojewskys als mächtig bezeugte Einwirkung ist minder leicht er¬<lb/>
sichtlich, weil sie sich auf die innere Gesinnung seines Volkes erstreckt, die er<lb/>
nicht bloß kritisirt, souderu befruchtet. Turgenjews Erzählungen sind oft ge¬<lb/>
taucht in lyrische Stimmung; Dostojewskys, des Ethikers, Extrem liegt in der<lb/>
Freude am Juristischen. Findet man in der Galerie Turgeujewscher Maunes-<lb/>
gestalten kaum einen starken Charakter und straft er mit Nachdruck das Erb¬<lb/>
übel deS russischen Volkes, den maßlosen Hang zur Lüge, sieht er also nichts<lb/>
als moralische Feigheit und Schwäche, so weiß Dostojewski) auch lichte Seiten<lb/>
seiner Volksseele zu schildern, er hebt den tiefen religiösen Sinn derselben<lb/>
hervor, in seinen Dichtungen stehen neben den schwachen auch starke Männer,<lb/>
neben den typischen Lügnern auch solche, die mit heißem Bemühen nach Wahrheit<lb/>
streben, sein Weltbild ist reicher und harmonischer als das Turgenjews. Aber<lb/>
freilich gewinnt dieser letztere durch seiue, aus dein Studium der Franzosen ge¬<lb/>
wonnene Form, die er als Meister beherrscht, einen Vorsprung vor Dostojewsky,<lb/>
der mit seinem Reichtum uicht Haus zu halten versteht und bei aller Bewun¬<lb/>
derung, die nus sein Genie Seite für Seite abtrotzt, den Leser zuweilen ermüdet.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1284" next="#ID_1285"> Einige Stellen aus dem vorliegenden Romane mögen diese Charakteristik<lb/>
illustriren. Gleich im Beginne der &#x201E;Brüder Karamasow," bei der Einführung<lb/>
des jüngsten der drei, des Alexei, erklärt der Dichter in ganz eigenartiger Weise<lb/>
seinen Begriff vom Realismus. Er bezeichnet nämlich Alexei, obwohl er da¬<lb/>
mals im Kloster ist, um Mönch zu werden, als einen Realisten und fügt hinzu:<lb/>
&#x201E;O gewiß, im Kloster glaubte er vollkommen an Wunder, aber meines Trachtens<lb/>
wird niemals ein Realist durch Wunder beunruhigt. Nicht Wunder machen den<lb/>
Realisten zum Glauben geneigt. Der aufrichtige Realist, wenn er ungläubig<lb/>
ist, findet in sich immer die Kraft und die Geschicklichkeit, an ein Wunder nicht<lb/>
zu glauben, und wenn ein Wunder vor ihm steht als unabweisbare Thatsache,<lb/>
so ist er schneller bereit, seinen Sinnen zu mißtrauen, als die Thatsache zu stci-<lb/>
tuiren.  Und wenn er sie statuirt, so statuirt er sie als natürliches Ereignis,</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzbvtt-n I. 1885. 44</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0357] F. M, Dostojewsky. So tief also reichen die Unterschiede zwischen den beiden größten Dichtern, welche wir bis jetzt aus der russischen Literatur kennen gelernt haben. Tur¬ genjew ist Kosmopolit als Künstler und lebt die ganze Zeit seines Lebens im Auslande; Dostojewsky geht ganz aus im Studium seines eignen Volkes und hält es für unmöglich, das heilige Rußland je verlassen zu können, Tur¬ genjew ist ein Weltmann, im besten Sinne des Wortes; Dostojewsky hat die Alliiren eines Apostels, eines religiös Begeisterten. Turgenjew ist ein meta¬ physischer und sozialer Pessimist; Dostojewski) verzweifelt nicht uur nicht an der Zukunft seines Volkes, sondern legt mit Hand an das Werk der Reformation, wenigstens in religiöser Beziehung. Turgenjew vertritt den Weltschmerz; Dostojewski) die Weltfreude, deren Evangelium er direkt, in bewußter polemischer Tendenz, verkündet; er ist positiver als jener. Turgenjews größtes Ruhmes¬ blatt ist sein Verdienst um die Aufhebung der Leibeigenschaft des russischen Bauern; Dostojewskys als mächtig bezeugte Einwirkung ist minder leicht er¬ sichtlich, weil sie sich auf die innere Gesinnung seines Volkes erstreckt, die er nicht bloß kritisirt, souderu befruchtet. Turgenjews Erzählungen sind oft ge¬ taucht in lyrische Stimmung; Dostojewskys, des Ethikers, Extrem liegt in der Freude am Juristischen. Findet man in der Galerie Turgeujewscher Maunes- gestalten kaum einen starken Charakter und straft er mit Nachdruck das Erb¬ übel deS russischen Volkes, den maßlosen Hang zur Lüge, sieht er also nichts als moralische Feigheit und Schwäche, so weiß Dostojewski) auch lichte Seiten seiner Volksseele zu schildern, er hebt den tiefen religiösen Sinn derselben hervor, in seinen Dichtungen stehen neben den schwachen auch starke Männer, neben den typischen Lügnern auch solche, die mit heißem Bemühen nach Wahrheit streben, sein Weltbild ist reicher und harmonischer als das Turgenjews. Aber freilich gewinnt dieser letztere durch seiue, aus dein Studium der Franzosen ge¬ wonnene Form, die er als Meister beherrscht, einen Vorsprung vor Dostojewsky, der mit seinem Reichtum uicht Haus zu halten versteht und bei aller Bewun¬ derung, die nus sein Genie Seite für Seite abtrotzt, den Leser zuweilen ermüdet. Einige Stellen aus dem vorliegenden Romane mögen diese Charakteristik illustriren. Gleich im Beginne der „Brüder Karamasow," bei der Einführung des jüngsten der drei, des Alexei, erklärt der Dichter in ganz eigenartiger Weise seinen Begriff vom Realismus. Er bezeichnet nämlich Alexei, obwohl er da¬ mals im Kloster ist, um Mönch zu werden, als einen Realisten und fügt hinzu: „O gewiß, im Kloster glaubte er vollkommen an Wunder, aber meines Trachtens wird niemals ein Realist durch Wunder beunruhigt. Nicht Wunder machen den Realisten zum Glauben geneigt. Der aufrichtige Realist, wenn er ungläubig ist, findet in sich immer die Kraft und die Geschicklichkeit, an ein Wunder nicht zu glauben, und wenn ein Wunder vor ihm steht als unabweisbare Thatsache, so ist er schneller bereit, seinen Sinnen zu mißtrauen, als die Thatsache zu stci- tuiren. Und wenn er sie statuirt, so statuirt er sie als natürliches Ereignis, Grenzbvtt-n I. 1885. 44

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/357
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/357>, abgerufen am 21.06.2024.