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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Neue Erzählungen von Wilhelm Raabe.

rode ähnliches Industrie-Etablissement aufgerichtet werden soll; Doktor Asche er¬
richtet eine eigne Fabrik zur Reinigung schmutziger Wäsche, in der es fürchterlich --
riecht. Die letzten Wochen, bevor mit dem Neubau begonnen wird, verbringt
der Philologe Pfister auf seinem väterlichen Grundstück, "und wie mich diese
guten Sommertage, so zwischen Traum und Wachen, zwischen Gegenwart und
Vergangenheit gleich leise schaukelnden Wellen getragen haben bis an das Ende
meiner Schulferien und den Beschluß der Geschichte von Pfisters Mühle" -- in
diesem seligen Zustande, an der Seite seiner vor kurzem angetrauten jungen Frau
erzählt er die Geschichte. Diese selige Ferien- lind Honigwochenstimmung lagert
über dem ganzen "Sommerferienheft" von Pfisters Mühle. In Gestalten, die
wir hier nicht weiter anführen können, wird die Szene bereichert und das Idyl¬
lische zum sozialen Bilde der Gegenwart erweitert. Man wird "Pfisters Mühle"
ohne Frage zu den anmutigsten und zugleich geistvollsten Schöpfungen Wil¬
helm Randes rechnen dürfen.

Wenn wir uns etwas weniger enthusiastisch über das zweite neue Werk
des Dichters, die "Villa Schönow" äußern, so möge man uns nicht der Par¬
teilichkeit zeihen; denn wir glauben, daß diese letztere Erzählung, wenn sie auch
in mancher Beziehung "Pfisters Mühle" überragt, doch im ganzen hinter ihr
zurückstehe. Und zwar darum, weil der Dichter, wie uus bedünkt, sich etwas
zu sehr in dem humoristischen Behagen gefällt, seinen Helden im unverfälschten
Berliner Dialekt vorzuführen. Die Lektüre der Erzählung wird dadurch etwas
erschwert, und mau hat hie und da Mühe, sein Interesse lebendig zu erhalten.
Und doch, wenn dies gelingt, und es geht bei einiger Geduld, welche liebens¬
würdigen Geschöpfe einer tief gemütvollen Phantasie lernt man auch hier
kennen! Wie hat sie der Dichter mit dem ganzen Reichtume seines Herzens
und der ganzen Fülle seiner sich in fortwährenden Kontrasten bewegenden Phan¬
tasie ausgestattet!

Um Nestmachen im eigentlichen Wortsinne handelt es sich in der "Villa
Schönow," auch hier und ganz eigentlich weitet sich der Humor der Idylle aufs
Ganze der Welt aus. Das Hauptinteresse wendet sich dabei mehr der meister¬
lichen Schilderung komischer und sonstiger liebenswürdigen Charaktere als den an
sich ernsteren Vorgängen zu. In der Mitte steht natürlich Herr W. Schönow,
"Berliner Hausbesitzer, Provinzialfteinbruchbesitzer, k. k. Unteroffizier a. D. und
no ^ allerlei Kurioses," wie er sich selbst unterzeichnet, das "alte Krokodil," der
"olle Potsdamer," wie ihn andre bezeichnen, der treuherzigste, rührungsreichste,
bravste, praktischste und maliziöseste Mensch des ganzen neuen deutschen Reiches;
er und mit ihm das Fräulein Julie Kiebitz. Die letzte Hegelianerin Berlins, die
häßliche, magere, pergamentfarbige, sehr gelehrte alte Jungfer, eine Tochter des
Zeitgenossen der großen Hegelschen Schule, des Universitätsprofessors Dr. Kiebitz,
und doch, wie Schönow ganz richtig bemerkt, eine "Fürstin, die immer In¬
kognito auf der Erde wandelt," eine "hohe Julia," wie sie der Dichter selbst


Neue Erzählungen von Wilhelm Raabe.

rode ähnliches Industrie-Etablissement aufgerichtet werden soll; Doktor Asche er¬
richtet eine eigne Fabrik zur Reinigung schmutziger Wäsche, in der es fürchterlich —
riecht. Die letzten Wochen, bevor mit dem Neubau begonnen wird, verbringt
der Philologe Pfister auf seinem väterlichen Grundstück, „und wie mich diese
guten Sommertage, so zwischen Traum und Wachen, zwischen Gegenwart und
Vergangenheit gleich leise schaukelnden Wellen getragen haben bis an das Ende
meiner Schulferien und den Beschluß der Geschichte von Pfisters Mühle" — in
diesem seligen Zustande, an der Seite seiner vor kurzem angetrauten jungen Frau
erzählt er die Geschichte. Diese selige Ferien- lind Honigwochenstimmung lagert
über dem ganzen „Sommerferienheft" von Pfisters Mühle. In Gestalten, die
wir hier nicht weiter anführen können, wird die Szene bereichert und das Idyl¬
lische zum sozialen Bilde der Gegenwart erweitert. Man wird „Pfisters Mühle"
ohne Frage zu den anmutigsten und zugleich geistvollsten Schöpfungen Wil¬
helm Randes rechnen dürfen.

Wenn wir uns etwas weniger enthusiastisch über das zweite neue Werk
des Dichters, die „Villa Schönow" äußern, so möge man uns nicht der Par¬
teilichkeit zeihen; denn wir glauben, daß diese letztere Erzählung, wenn sie auch
in mancher Beziehung „Pfisters Mühle" überragt, doch im ganzen hinter ihr
zurückstehe. Und zwar darum, weil der Dichter, wie uus bedünkt, sich etwas
zu sehr in dem humoristischen Behagen gefällt, seinen Helden im unverfälschten
Berliner Dialekt vorzuführen. Die Lektüre der Erzählung wird dadurch etwas
erschwert, und mau hat hie und da Mühe, sein Interesse lebendig zu erhalten.
Und doch, wenn dies gelingt, und es geht bei einiger Geduld, welche liebens¬
würdigen Geschöpfe einer tief gemütvollen Phantasie lernt man auch hier
kennen! Wie hat sie der Dichter mit dem ganzen Reichtume seines Herzens
und der ganzen Fülle seiner sich in fortwährenden Kontrasten bewegenden Phan¬
tasie ausgestattet!

Um Nestmachen im eigentlichen Wortsinne handelt es sich in der „Villa
Schönow," auch hier und ganz eigentlich weitet sich der Humor der Idylle aufs
Ganze der Welt aus. Das Hauptinteresse wendet sich dabei mehr der meister¬
lichen Schilderung komischer und sonstiger liebenswürdigen Charaktere als den an
sich ernsteren Vorgängen zu. In der Mitte steht natürlich Herr W. Schönow,
„Berliner Hausbesitzer, Provinzialfteinbruchbesitzer, k. k. Unteroffizier a. D. und
no ^ allerlei Kurioses," wie er sich selbst unterzeichnet, das „alte Krokodil," der
„olle Potsdamer," wie ihn andre bezeichnen, der treuherzigste, rührungsreichste,
bravste, praktischste und maliziöseste Mensch des ganzen neuen deutschen Reiches;
er und mit ihm das Fräulein Julie Kiebitz. Die letzte Hegelianerin Berlins, die
häßliche, magere, pergamentfarbige, sehr gelehrte alte Jungfer, eine Tochter des
Zeitgenossen der großen Hegelschen Schule, des Universitätsprofessors Dr. Kiebitz,
und doch, wie Schönow ganz richtig bemerkt, eine „Fürstin, die immer In¬
kognito auf der Erde wandelt," eine „hohe Julia," wie sie der Dichter selbst


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[0247] Neue Erzählungen von Wilhelm Raabe. rode ähnliches Industrie-Etablissement aufgerichtet werden soll; Doktor Asche er¬ richtet eine eigne Fabrik zur Reinigung schmutziger Wäsche, in der es fürchterlich — riecht. Die letzten Wochen, bevor mit dem Neubau begonnen wird, verbringt der Philologe Pfister auf seinem väterlichen Grundstück, „und wie mich diese guten Sommertage, so zwischen Traum und Wachen, zwischen Gegenwart und Vergangenheit gleich leise schaukelnden Wellen getragen haben bis an das Ende meiner Schulferien und den Beschluß der Geschichte von Pfisters Mühle" — in diesem seligen Zustande, an der Seite seiner vor kurzem angetrauten jungen Frau erzählt er die Geschichte. Diese selige Ferien- lind Honigwochenstimmung lagert über dem ganzen „Sommerferienheft" von Pfisters Mühle. In Gestalten, die wir hier nicht weiter anführen können, wird die Szene bereichert und das Idyl¬ lische zum sozialen Bilde der Gegenwart erweitert. Man wird „Pfisters Mühle" ohne Frage zu den anmutigsten und zugleich geistvollsten Schöpfungen Wil¬ helm Randes rechnen dürfen. Wenn wir uns etwas weniger enthusiastisch über das zweite neue Werk des Dichters, die „Villa Schönow" äußern, so möge man uns nicht der Par¬ teilichkeit zeihen; denn wir glauben, daß diese letztere Erzählung, wenn sie auch in mancher Beziehung „Pfisters Mühle" überragt, doch im ganzen hinter ihr zurückstehe. Und zwar darum, weil der Dichter, wie uus bedünkt, sich etwas zu sehr in dem humoristischen Behagen gefällt, seinen Helden im unverfälschten Berliner Dialekt vorzuführen. Die Lektüre der Erzählung wird dadurch etwas erschwert, und mau hat hie und da Mühe, sein Interesse lebendig zu erhalten. Und doch, wenn dies gelingt, und es geht bei einiger Geduld, welche liebens¬ würdigen Geschöpfe einer tief gemütvollen Phantasie lernt man auch hier kennen! Wie hat sie der Dichter mit dem ganzen Reichtume seines Herzens und der ganzen Fülle seiner sich in fortwährenden Kontrasten bewegenden Phan¬ tasie ausgestattet! Um Nestmachen im eigentlichen Wortsinne handelt es sich in der „Villa Schönow," auch hier und ganz eigentlich weitet sich der Humor der Idylle aufs Ganze der Welt aus. Das Hauptinteresse wendet sich dabei mehr der meister¬ lichen Schilderung komischer und sonstiger liebenswürdigen Charaktere als den an sich ernsteren Vorgängen zu. In der Mitte steht natürlich Herr W. Schönow, „Berliner Hausbesitzer, Provinzialfteinbruchbesitzer, k. k. Unteroffizier a. D. und no ^ allerlei Kurioses," wie er sich selbst unterzeichnet, das „alte Krokodil," der „olle Potsdamer," wie ihn andre bezeichnen, der treuherzigste, rührungsreichste, bravste, praktischste und maliziöseste Mensch des ganzen neuen deutschen Reiches; er und mit ihm das Fräulein Julie Kiebitz. Die letzte Hegelianerin Berlins, die häßliche, magere, pergamentfarbige, sehr gelehrte alte Jungfer, eine Tochter des Zeitgenossen der großen Hegelschen Schule, des Universitätsprofessors Dr. Kiebitz, und doch, wie Schönow ganz richtig bemerkt, eine „Fürstin, die immer In¬ kognito auf der Erde wandelt," eine „hohe Julia," wie sie der Dichter selbst

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/247>, abgerufen am 22.07.2024.