Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Freisinnige Sünden.

Die ängstliche Warnung davor, einem Sterblichen die Rolle der Vorsehung
zuzuleiten, hat aber einen tieferen Grund. Die Rolle der Vorsehung spielt der¬
jenige, welcher im Bewußtsein seiner geistigen Überlegenheit einem andern die
Sorge für sein Wohl ganz oder teilweise abnimmt. Nun ist es aber ein demo¬
kratisches Axiom, daß für sein eignes Wohl im allgemeinen der Betreffende am
besten selber sorge. Dies ist nun nicht einmal in bezug auf den Einzelnen
immer richtig, denn um sein wahres Wohl zu erkennen, dazu gehört schon eine
gewisse Erfahrung und Reife des Urteils, die man nicht ohne weiteres jeder¬
mann zutrauen kann. Noch weniger aber ist die Nichtigkeit dieses Axioms zu¬
zugeben, wenn es sich um ein ganzes Volk handelt. Denn ein Volk besteht
aus vielen Einzelnen, von denen jeder sein bestimmtes, von dem der andern ver-
schiednes und oft ihm geradezu entgegengesetztes Interesse hat. In dem Streite
der verschiednen Interessen diejenigen, welche für die Gesamtheit im Augenblicke
und auf die Dauer die meiste Wichtigkeit besitzen, herauszufinden, das vermögen
weder die einzelnen Interessenten als solche, noch die Gesamtheit derselben, deren
Meinung sich ja naturgemäß nur durch Majoritätsbeschlüsse kundthun kann.
Denn die Majorität eines Volkes Pflegt für die selbständige Lösung derartiger
schwierigen Fragen weder hinreichende Reife des Urteils noch die gehörige Er¬
fahrung zu besitzen. Was das wahre Interesse einer Nation ist, versteht nur
der in genügendem Maße zu beurteilen, der sich mit den Angelegenheiten und
Bedürfnissen derselben eine Zeit lang beschäftigt hat. und zwar nicht bloß in
theoretischer Weise, sondern auch praktisch. Denn in der Politik kommt es nicht
lediglich darauf an, gewisse Regeln festzustellen, mit deren strikter Befolgung
dann alles abgethan ist, sondern die Hauptsache ist, in jedem Falle genau zu
prüfen, welche Regel und wieweit dieselbe anzuwenden sei. Die Politik ist mit
einem Worte, wie mich Fürst Bismarck neuerdings wieder einmal hervorgehoben,
keine Wissenschaft, sondern eine Kunst. Jeder Künstler aber unterscheidet sich
von denen, welche es nicht sind, nicht in quantitativer Weise, sodaß z. B. viele
Dilettanten einem Künstler gleichkämen, sondern qualitativ. Selbst der mittel¬
müßige Künstler, der mittelmäßige Staatsmann hat vor dem Laien einen un¬
schätzbaren Vorteil voraus, die Beherrschung des Technischen; bei dem Meister
gesellt sich als zweites noch eine mehr oder minder hohe Begabung hinzu.

Ein gewisses Maß solcher Begabung gestehen ja nnn unsre Demokraten
dem Reichskanzler auch zu; siud sie doch sogar so gütig, denselben, wie
dies beispielsweise in der am 17. Januar d. I. ausgegebenen Nummer der
"Nation" geschieht, als einen "hervorragenden Diplomaten" zu bezeichnen.
Leider hat gerade diese Bezeichnung in demokratischen Munde einen etwas fa¬
talen Beigeschmack. Wenn wir nicht irren, war es Herr Virchow, der einmal
erklärte, Bismarck sei ja ein ganz guter Diplomat, aber er gehöre als solcher
doch einer MenschenKasse an. die sich eigentlich überlebt habe. In Zukunft,
meinte er, werde es zur Regelung internationaler Angelegenheiten der Kniffe


Freisinnige Sünden.

Die ängstliche Warnung davor, einem Sterblichen die Rolle der Vorsehung
zuzuleiten, hat aber einen tieferen Grund. Die Rolle der Vorsehung spielt der¬
jenige, welcher im Bewußtsein seiner geistigen Überlegenheit einem andern die
Sorge für sein Wohl ganz oder teilweise abnimmt. Nun ist es aber ein demo¬
kratisches Axiom, daß für sein eignes Wohl im allgemeinen der Betreffende am
besten selber sorge. Dies ist nun nicht einmal in bezug auf den Einzelnen
immer richtig, denn um sein wahres Wohl zu erkennen, dazu gehört schon eine
gewisse Erfahrung und Reife des Urteils, die man nicht ohne weiteres jeder¬
mann zutrauen kann. Noch weniger aber ist die Nichtigkeit dieses Axioms zu¬
zugeben, wenn es sich um ein ganzes Volk handelt. Denn ein Volk besteht
aus vielen Einzelnen, von denen jeder sein bestimmtes, von dem der andern ver-
schiednes und oft ihm geradezu entgegengesetztes Interesse hat. In dem Streite
der verschiednen Interessen diejenigen, welche für die Gesamtheit im Augenblicke
und auf die Dauer die meiste Wichtigkeit besitzen, herauszufinden, das vermögen
weder die einzelnen Interessenten als solche, noch die Gesamtheit derselben, deren
Meinung sich ja naturgemäß nur durch Majoritätsbeschlüsse kundthun kann.
Denn die Majorität eines Volkes Pflegt für die selbständige Lösung derartiger
schwierigen Fragen weder hinreichende Reife des Urteils noch die gehörige Er¬
fahrung zu besitzen. Was das wahre Interesse einer Nation ist, versteht nur
der in genügendem Maße zu beurteilen, der sich mit den Angelegenheiten und
Bedürfnissen derselben eine Zeit lang beschäftigt hat. und zwar nicht bloß in
theoretischer Weise, sondern auch praktisch. Denn in der Politik kommt es nicht
lediglich darauf an, gewisse Regeln festzustellen, mit deren strikter Befolgung
dann alles abgethan ist, sondern die Hauptsache ist, in jedem Falle genau zu
prüfen, welche Regel und wieweit dieselbe anzuwenden sei. Die Politik ist mit
einem Worte, wie mich Fürst Bismarck neuerdings wieder einmal hervorgehoben,
keine Wissenschaft, sondern eine Kunst. Jeder Künstler aber unterscheidet sich
von denen, welche es nicht sind, nicht in quantitativer Weise, sodaß z. B. viele
Dilettanten einem Künstler gleichkämen, sondern qualitativ. Selbst der mittel¬
müßige Künstler, der mittelmäßige Staatsmann hat vor dem Laien einen un¬
schätzbaren Vorteil voraus, die Beherrschung des Technischen; bei dem Meister
gesellt sich als zweites noch eine mehr oder minder hohe Begabung hinzu.

Ein gewisses Maß solcher Begabung gestehen ja nnn unsre Demokraten
dem Reichskanzler auch zu; siud sie doch sogar so gütig, denselben, wie
dies beispielsweise in der am 17. Januar d. I. ausgegebenen Nummer der
„Nation" geschieht, als einen „hervorragenden Diplomaten" zu bezeichnen.
Leider hat gerade diese Bezeichnung in demokratischen Munde einen etwas fa¬
talen Beigeschmack. Wenn wir nicht irren, war es Herr Virchow, der einmal
erklärte, Bismarck sei ja ein ganz guter Diplomat, aber er gehöre als solcher
doch einer MenschenKasse an. die sich eigentlich überlebt habe. In Zukunft,
meinte er, werde es zur Regelung internationaler Angelegenheiten der Kniffe


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0225" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/194901"/>
          <fw type="header" place="top"> Freisinnige Sünden.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_741"> Die ängstliche Warnung davor, einem Sterblichen die Rolle der Vorsehung<lb/>
zuzuleiten, hat aber einen tieferen Grund. Die Rolle der Vorsehung spielt der¬<lb/>
jenige, welcher im Bewußtsein seiner geistigen Überlegenheit einem andern die<lb/>
Sorge für sein Wohl ganz oder teilweise abnimmt. Nun ist es aber ein demo¬<lb/>
kratisches Axiom, daß für sein eignes Wohl im allgemeinen der Betreffende am<lb/>
besten selber sorge. Dies ist nun nicht einmal in bezug auf den Einzelnen<lb/>
immer richtig, denn um sein wahres Wohl zu erkennen, dazu gehört schon eine<lb/>
gewisse Erfahrung und Reife des Urteils, die man nicht ohne weiteres jeder¬<lb/>
mann zutrauen kann. Noch weniger aber ist die Nichtigkeit dieses Axioms zu¬<lb/>
zugeben, wenn es sich um ein ganzes Volk handelt. Denn ein Volk besteht<lb/>
aus vielen Einzelnen, von denen jeder sein bestimmtes, von dem der andern ver-<lb/>
schiednes und oft ihm geradezu entgegengesetztes Interesse hat. In dem Streite<lb/>
der verschiednen Interessen diejenigen, welche für die Gesamtheit im Augenblicke<lb/>
und auf die Dauer die meiste Wichtigkeit besitzen, herauszufinden, das vermögen<lb/>
weder die einzelnen Interessenten als solche, noch die Gesamtheit derselben, deren<lb/>
Meinung sich ja naturgemäß nur durch Majoritätsbeschlüsse kundthun kann.<lb/>
Denn die Majorität eines Volkes Pflegt für die selbständige Lösung derartiger<lb/>
schwierigen Fragen weder hinreichende Reife des Urteils noch die gehörige Er¬<lb/>
fahrung zu besitzen. Was das wahre Interesse einer Nation ist, versteht nur<lb/>
der in genügendem Maße zu beurteilen, der sich mit den Angelegenheiten und<lb/>
Bedürfnissen derselben eine Zeit lang beschäftigt hat. und zwar nicht bloß in<lb/>
theoretischer Weise, sondern auch praktisch. Denn in der Politik kommt es nicht<lb/>
lediglich darauf an, gewisse Regeln festzustellen, mit deren strikter Befolgung<lb/>
dann alles abgethan ist, sondern die Hauptsache ist, in jedem Falle genau zu<lb/>
prüfen, welche Regel und wieweit dieselbe anzuwenden sei. Die Politik ist mit<lb/>
einem Worte, wie mich Fürst Bismarck neuerdings wieder einmal hervorgehoben,<lb/>
keine Wissenschaft, sondern eine Kunst. Jeder Künstler aber unterscheidet sich<lb/>
von denen, welche es nicht sind, nicht in quantitativer Weise, sodaß z. B. viele<lb/>
Dilettanten einem Künstler gleichkämen, sondern qualitativ. Selbst der mittel¬<lb/>
müßige Künstler, der mittelmäßige Staatsmann hat vor dem Laien einen un¬<lb/>
schätzbaren Vorteil voraus, die Beherrschung des Technischen; bei dem Meister<lb/>
gesellt sich als zweites noch eine mehr oder minder hohe Begabung hinzu.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_742" next="#ID_743"> Ein gewisses Maß solcher Begabung gestehen ja nnn unsre Demokraten<lb/>
dem Reichskanzler auch zu; siud sie doch sogar so gütig, denselben, wie<lb/>
dies beispielsweise in der am 17. Januar d. I. ausgegebenen Nummer der<lb/>
&#x201E;Nation" geschieht, als einen &#x201E;hervorragenden Diplomaten" zu bezeichnen.<lb/>
Leider hat gerade diese Bezeichnung in demokratischen Munde einen etwas fa¬<lb/>
talen Beigeschmack. Wenn wir nicht irren, war es Herr Virchow, der einmal<lb/>
erklärte, Bismarck sei ja ein ganz guter Diplomat, aber er gehöre als solcher<lb/>
doch einer MenschenKasse an. die sich eigentlich überlebt habe. In Zukunft,<lb/>
meinte er, werde es zur Regelung internationaler Angelegenheiten der Kniffe</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0225] Freisinnige Sünden. Die ängstliche Warnung davor, einem Sterblichen die Rolle der Vorsehung zuzuleiten, hat aber einen tieferen Grund. Die Rolle der Vorsehung spielt der¬ jenige, welcher im Bewußtsein seiner geistigen Überlegenheit einem andern die Sorge für sein Wohl ganz oder teilweise abnimmt. Nun ist es aber ein demo¬ kratisches Axiom, daß für sein eignes Wohl im allgemeinen der Betreffende am besten selber sorge. Dies ist nun nicht einmal in bezug auf den Einzelnen immer richtig, denn um sein wahres Wohl zu erkennen, dazu gehört schon eine gewisse Erfahrung und Reife des Urteils, die man nicht ohne weiteres jeder¬ mann zutrauen kann. Noch weniger aber ist die Nichtigkeit dieses Axioms zu¬ zugeben, wenn es sich um ein ganzes Volk handelt. Denn ein Volk besteht aus vielen Einzelnen, von denen jeder sein bestimmtes, von dem der andern ver- schiednes und oft ihm geradezu entgegengesetztes Interesse hat. In dem Streite der verschiednen Interessen diejenigen, welche für die Gesamtheit im Augenblicke und auf die Dauer die meiste Wichtigkeit besitzen, herauszufinden, das vermögen weder die einzelnen Interessenten als solche, noch die Gesamtheit derselben, deren Meinung sich ja naturgemäß nur durch Majoritätsbeschlüsse kundthun kann. Denn die Majorität eines Volkes Pflegt für die selbständige Lösung derartiger schwierigen Fragen weder hinreichende Reife des Urteils noch die gehörige Er¬ fahrung zu besitzen. Was das wahre Interesse einer Nation ist, versteht nur der in genügendem Maße zu beurteilen, der sich mit den Angelegenheiten und Bedürfnissen derselben eine Zeit lang beschäftigt hat. und zwar nicht bloß in theoretischer Weise, sondern auch praktisch. Denn in der Politik kommt es nicht lediglich darauf an, gewisse Regeln festzustellen, mit deren strikter Befolgung dann alles abgethan ist, sondern die Hauptsache ist, in jedem Falle genau zu prüfen, welche Regel und wieweit dieselbe anzuwenden sei. Die Politik ist mit einem Worte, wie mich Fürst Bismarck neuerdings wieder einmal hervorgehoben, keine Wissenschaft, sondern eine Kunst. Jeder Künstler aber unterscheidet sich von denen, welche es nicht sind, nicht in quantitativer Weise, sodaß z. B. viele Dilettanten einem Künstler gleichkämen, sondern qualitativ. Selbst der mittel¬ müßige Künstler, der mittelmäßige Staatsmann hat vor dem Laien einen un¬ schätzbaren Vorteil voraus, die Beherrschung des Technischen; bei dem Meister gesellt sich als zweites noch eine mehr oder minder hohe Begabung hinzu. Ein gewisses Maß solcher Begabung gestehen ja nnn unsre Demokraten dem Reichskanzler auch zu; siud sie doch sogar so gütig, denselben, wie dies beispielsweise in der am 17. Januar d. I. ausgegebenen Nummer der „Nation" geschieht, als einen „hervorragenden Diplomaten" zu bezeichnen. Leider hat gerade diese Bezeichnung in demokratischen Munde einen etwas fa¬ talen Beigeschmack. Wenn wir nicht irren, war es Herr Virchow, der einmal erklärte, Bismarck sei ja ein ganz guter Diplomat, aber er gehöre als solcher doch einer MenschenKasse an. die sich eigentlich überlebt habe. In Zukunft, meinte er, werde es zur Regelung internationaler Angelegenheiten der Kniffe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/225
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/225>, abgerufen am 22.07.2024.