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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Wer ist nun aber dieser Geist, der über die Menge ausgegossen wird und
sie erleuchtet, der unter den Vielen eine Einheit herstellt, oder, um auf ein schon
gebrauchtes Gleichnis zurückzukommen, dieser elektrische Funke, der die trübe,
chaotische Substanz mit einem Schlage in ein reines, krystallinisches Gebilde
verwandelt? Kein andrer ist dieser Geist, als der in jedem Menschen wohnt,
der immer da ist, aber oft schlummernd, sein selbst uicht bewußt, unklar, ge¬
hemmt in seinen Neigungen nud Kundgebungen durch allerlei egoistische Triebe
und Empfindungen, durch Stolz, Kummer, Sorge -- der Menschengeist, Und
was diesen Geist plötzlich erweckt, ihn zum Bewußtsein bringt, ihm eine Stimme
giebt, ihn von allen Fesseln befreit, das ist wieder der Menschengeist, und zwar
der, der im Genie, im Künstler wohnt und durch deu Mund dieses Auserwählten
den freudigen Weckruf ertönen läßt,

Und in diesem Sinne weist Goethe die frivole Ansicht vom Publikum, die
er selbst den spekulativem Theaterdirektor hat aussprechen lassen, zurück, indem
er den Dichter endlich in heiliger Entrüstung ausrufen läßt:


Geh hin und such' dir einen andern Knecht!
Der Dichter sollte wohl das höchste Recht,
Das Menschenrecht, das ihn: Natur vergönnt,
Um deinetwillen freventlich verscherzen!
Wodurch bewegt er alle Herzen?
Wodurch besiegt er jedes Element?
Ist es der Einklang nicht, der aus dem Busen bring!
Und in sein Herz die Welt znrnckeschlingt?
Wenn die Natur des Fadens co'ge Länge,
Gleichgiltig drehend, auf die Spindel zwingt,
Wenn aller Wesen unharmvn'sche Menge
Verdrießlich durch einander klingt;
Wer teilt die fließend immer gleiche Reihe
Belebend ub, daß sie sich rhythmisch regt?
Wer ruft das Einzelne zur allgemeinen Weihe,
Wo es in herrlichen Akkorden schlägt?
Wer läßt den Sturm der Leidenschaften wüten?
Das Abendrot im ernsten Sinne glühn?
Wer schüttet alle schönen Frnhlüigsblüten
Auf der Geliebten Pfade hin?
Wer flicht die unbedeutend grünen Blätter
Zum Ehrenkranz Verdiensten jeder Art?
Wer sichert den Olhmp, vereinet Götter?
Des Menschen Kraft, im Dichter offenbart!

Das Höchste, das Beste, des Menschen Kraft ist es also, wodurch der
Künstler auf die Menge wirken soll; den Menschen soll er in ihr erwecken, und
er könnte diese Aufgabe nie erfüllen, wenn nicht in jedem des Menschen Kraft
lebendig wäre. Und der Künstler selbst ist es, der ans der Menge ein Pu¬
blikum macht, sein Publikum, und in je weitere Kreise seine Stimme dringt,


Grenzboten I. 1885.. 19

Wer ist nun aber dieser Geist, der über die Menge ausgegossen wird und
sie erleuchtet, der unter den Vielen eine Einheit herstellt, oder, um auf ein schon
gebrauchtes Gleichnis zurückzukommen, dieser elektrische Funke, der die trübe,
chaotische Substanz mit einem Schlage in ein reines, krystallinisches Gebilde
verwandelt? Kein andrer ist dieser Geist, als der in jedem Menschen wohnt,
der immer da ist, aber oft schlummernd, sein selbst uicht bewußt, unklar, ge¬
hemmt in seinen Neigungen nud Kundgebungen durch allerlei egoistische Triebe
und Empfindungen, durch Stolz, Kummer, Sorge — der Menschengeist, Und
was diesen Geist plötzlich erweckt, ihn zum Bewußtsein bringt, ihm eine Stimme
giebt, ihn von allen Fesseln befreit, das ist wieder der Menschengeist, und zwar
der, der im Genie, im Künstler wohnt und durch deu Mund dieses Auserwählten
den freudigen Weckruf ertönen läßt,

Und in diesem Sinne weist Goethe die frivole Ansicht vom Publikum, die
er selbst den spekulativem Theaterdirektor hat aussprechen lassen, zurück, indem
er den Dichter endlich in heiliger Entrüstung ausrufen läßt:


Geh hin und such' dir einen andern Knecht!
Der Dichter sollte wohl das höchste Recht,
Das Menschenrecht, das ihn: Natur vergönnt,
Um deinetwillen freventlich verscherzen!
Wodurch bewegt er alle Herzen?
Wodurch besiegt er jedes Element?
Ist es der Einklang nicht, der aus dem Busen bring!
Und in sein Herz die Welt znrnckeschlingt?
Wenn die Natur des Fadens co'ge Länge,
Gleichgiltig drehend, auf die Spindel zwingt,
Wenn aller Wesen unharmvn'sche Menge
Verdrießlich durch einander klingt;
Wer teilt die fließend immer gleiche Reihe
Belebend ub, daß sie sich rhythmisch regt?
Wer ruft das Einzelne zur allgemeinen Weihe,
Wo es in herrlichen Akkorden schlägt?
Wer läßt den Sturm der Leidenschaften wüten?
Das Abendrot im ernsten Sinne glühn?
Wer schüttet alle schönen Frnhlüigsblüten
Auf der Geliebten Pfade hin?
Wer flicht die unbedeutend grünen Blätter
Zum Ehrenkranz Verdiensten jeder Art?
Wer sichert den Olhmp, vereinet Götter?
Des Menschen Kraft, im Dichter offenbart!

Das Höchste, das Beste, des Menschen Kraft ist es also, wodurch der
Künstler auf die Menge wirken soll; den Menschen soll er in ihr erwecken, und
er könnte diese Aufgabe nie erfüllen, wenn nicht in jedem des Menschen Kraft
lebendig wäre. Und der Künstler selbst ist es, der ans der Menge ein Pu¬
blikum macht, sein Publikum, und in je weitere Kreise seine Stimme dringt,


Grenzboten I. 1885.. 19
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[0157] Wer ist nun aber dieser Geist, der über die Menge ausgegossen wird und sie erleuchtet, der unter den Vielen eine Einheit herstellt, oder, um auf ein schon gebrauchtes Gleichnis zurückzukommen, dieser elektrische Funke, der die trübe, chaotische Substanz mit einem Schlage in ein reines, krystallinisches Gebilde verwandelt? Kein andrer ist dieser Geist, als der in jedem Menschen wohnt, der immer da ist, aber oft schlummernd, sein selbst uicht bewußt, unklar, ge¬ hemmt in seinen Neigungen nud Kundgebungen durch allerlei egoistische Triebe und Empfindungen, durch Stolz, Kummer, Sorge — der Menschengeist, Und was diesen Geist plötzlich erweckt, ihn zum Bewußtsein bringt, ihm eine Stimme giebt, ihn von allen Fesseln befreit, das ist wieder der Menschengeist, und zwar der, der im Genie, im Künstler wohnt und durch deu Mund dieses Auserwählten den freudigen Weckruf ertönen läßt, Und in diesem Sinne weist Goethe die frivole Ansicht vom Publikum, die er selbst den spekulativem Theaterdirektor hat aussprechen lassen, zurück, indem er den Dichter endlich in heiliger Entrüstung ausrufen läßt: Geh hin und such' dir einen andern Knecht! Der Dichter sollte wohl das höchste Recht, Das Menschenrecht, das ihn: Natur vergönnt, Um deinetwillen freventlich verscherzen! Wodurch bewegt er alle Herzen? Wodurch besiegt er jedes Element? Ist es der Einklang nicht, der aus dem Busen bring! Und in sein Herz die Welt znrnckeschlingt? Wenn die Natur des Fadens co'ge Länge, Gleichgiltig drehend, auf die Spindel zwingt, Wenn aller Wesen unharmvn'sche Menge Verdrießlich durch einander klingt; Wer teilt die fließend immer gleiche Reihe Belebend ub, daß sie sich rhythmisch regt? Wer ruft das Einzelne zur allgemeinen Weihe, Wo es in herrlichen Akkorden schlägt? Wer läßt den Sturm der Leidenschaften wüten? Das Abendrot im ernsten Sinne glühn? Wer schüttet alle schönen Frnhlüigsblüten Auf der Geliebten Pfade hin? Wer flicht die unbedeutend grünen Blätter Zum Ehrenkranz Verdiensten jeder Art? Wer sichert den Olhmp, vereinet Götter? Des Menschen Kraft, im Dichter offenbart! Das Höchste, das Beste, des Menschen Kraft ist es also, wodurch der Künstler auf die Menge wirken soll; den Menschen soll er in ihr erwecken, und er könnte diese Aufgabe nie erfüllen, wenn nicht in jedem des Menschen Kraft lebendig wäre. Und der Künstler selbst ist es, der ans der Menge ein Pu¬ blikum macht, sein Publikum, und in je weitere Kreise seine Stimme dringt, Grenzboten I. 1885.. 19

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/157>, abgerufen am 22.07.2024.