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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Das Publikum,

Heer von Sklaven um sich. Und ein Wagner-Opus soll man sich ganz allein
schmecken lassen! In der Strafrechtspflege betrachtet man es als die härteste
Strafe, einen Menschen vom Verkehr mit seinesgleichen auszuschließen. Sogar
ihre Andacht müssen die Unglücklichen allein verrichten; sie werden in der
Kirche so gesetzt, daß sie nur den Geistlichen sehen. Es soll furchtbar sein.
Wagner hat die Zellengefänguistheorie auf die dramatische Kunst übertragen.
Es fehlt nur noch die Gesichtsmaske, Ich kann mir nicht helfen, ich finde das
barbarisch, ja ich finde es geschmacklos."

Das war allerdings ein subjektives Urteil, Aber in jedem auch noch so
subjektiven Urteil steckt doch ein Körnchen allgemeine Wahrheit -- und um
dieses Körnchens willen und weil außerdem dieses subjektive Urteil mit dem
meinigen so ziemlich übereinstimmt, will ich versuchen, dasselbe hier zu erklären
und zu begründen.

Wir werden uns wohl am ehesten verständigen, wenn wir uns einmal
darüber Rechenschaft zu geben suchen, was das eigentlich ist, was man Pu-
blikum nennt.

"Die erste beste Menschenmasse," wird mir jemand zurufen. Gewiß; jeden¬
falls gehört eine Masse Menschen dazu, um ein Publikum zu bilden, vielleicht
eine recht große Masse, die Menschen aller Zeiten und Länder, oder auch kleinere,
gesonderte Massen, Es giebt ein Publikum der Gebildeten und ein Publikum
der Ungebildeten, wie es ein deutsches und ein französisches Publikum giebt;
ja mau kann noch weiter gehen und sagen, nicht nnr jedes Land und jede Zeit,
jede Bildungsklasse und jede Gesellschaftsklasse bilden ein Publikum für sich,
nein, das große allgemeine Publikum zerteilt sich in noch viel kleinere Kreise,
jede Kunst, jede Kunstrichtung, ja jeder bedeutende Künstler hat sein Publikum
für sich, und wie es ein musikalisches Publikum und ein Publikum sür italie¬
nische Musik giebt, so giebt es auch ein Schumann- und Brahms-Publikum,
die sich von jedem andern Publikum scharf unterscheiden, jedes ein Publikum
für sich bilden, manchmal ein recht sonderbares, wie das Publikum, von dem
hier speziell die Rede ist: das Wagner-Publikum.

Aber obwohl zum Publikum immer eine größere oder kleinere Masse ge¬
hört, der Massenbegriff ist nicht das, was den Begriff "Publikum" allein be¬
stimmt; es muß noch eine andre, entscheidendere Bestimmung dazu kommen,
eine höhere Einheit, ein Ereignis, durch dessen Einfluß die Bestandteile der
formlosen, breiigen Masse zu festen, krystallinischen Gebilden zusammen¬
schießen.

Die meisten Menschen, besonders Künstler und Dichter, wenn sie vom Pu¬
blikum sprechen, thun dies unter dem Einflüsse irgendeiner Stimmung, gewöhn¬
lich Verstimmung. Sogar Goethe war von solchen Velleitäten nicht frei.


O sprich mir nicht von jener bunten Menge,
Bei deren Anblick uns der Geist entflieht!

Das Publikum,

Heer von Sklaven um sich. Und ein Wagner-Opus soll man sich ganz allein
schmecken lassen! In der Strafrechtspflege betrachtet man es als die härteste
Strafe, einen Menschen vom Verkehr mit seinesgleichen auszuschließen. Sogar
ihre Andacht müssen die Unglücklichen allein verrichten; sie werden in der
Kirche so gesetzt, daß sie nur den Geistlichen sehen. Es soll furchtbar sein.
Wagner hat die Zellengefänguistheorie auf die dramatische Kunst übertragen.
Es fehlt nur noch die Gesichtsmaske, Ich kann mir nicht helfen, ich finde das
barbarisch, ja ich finde es geschmacklos."

Das war allerdings ein subjektives Urteil, Aber in jedem auch noch so
subjektiven Urteil steckt doch ein Körnchen allgemeine Wahrheit — und um
dieses Körnchens willen und weil außerdem dieses subjektive Urteil mit dem
meinigen so ziemlich übereinstimmt, will ich versuchen, dasselbe hier zu erklären
und zu begründen.

Wir werden uns wohl am ehesten verständigen, wenn wir uns einmal
darüber Rechenschaft zu geben suchen, was das eigentlich ist, was man Pu-
blikum nennt.

„Die erste beste Menschenmasse," wird mir jemand zurufen. Gewiß; jeden¬
falls gehört eine Masse Menschen dazu, um ein Publikum zu bilden, vielleicht
eine recht große Masse, die Menschen aller Zeiten und Länder, oder auch kleinere,
gesonderte Massen, Es giebt ein Publikum der Gebildeten und ein Publikum
der Ungebildeten, wie es ein deutsches und ein französisches Publikum giebt;
ja mau kann noch weiter gehen und sagen, nicht nnr jedes Land und jede Zeit,
jede Bildungsklasse und jede Gesellschaftsklasse bilden ein Publikum für sich,
nein, das große allgemeine Publikum zerteilt sich in noch viel kleinere Kreise,
jede Kunst, jede Kunstrichtung, ja jeder bedeutende Künstler hat sein Publikum
für sich, und wie es ein musikalisches Publikum und ein Publikum sür italie¬
nische Musik giebt, so giebt es auch ein Schumann- und Brahms-Publikum,
die sich von jedem andern Publikum scharf unterscheiden, jedes ein Publikum
für sich bilden, manchmal ein recht sonderbares, wie das Publikum, von dem
hier speziell die Rede ist: das Wagner-Publikum.

Aber obwohl zum Publikum immer eine größere oder kleinere Masse ge¬
hört, der Massenbegriff ist nicht das, was den Begriff „Publikum" allein be¬
stimmt; es muß noch eine andre, entscheidendere Bestimmung dazu kommen,
eine höhere Einheit, ein Ereignis, durch dessen Einfluß die Bestandteile der
formlosen, breiigen Masse zu festen, krystallinischen Gebilden zusammen¬
schießen.

Die meisten Menschen, besonders Künstler und Dichter, wenn sie vom Pu¬
blikum sprechen, thun dies unter dem Einflüsse irgendeiner Stimmung, gewöhn¬
lich Verstimmung. Sogar Goethe war von solchen Velleitäten nicht frei.


O sprich mir nicht von jener bunten Menge,
Bei deren Anblick uns der Geist entflieht!

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[0154] Das Publikum, Heer von Sklaven um sich. Und ein Wagner-Opus soll man sich ganz allein schmecken lassen! In der Strafrechtspflege betrachtet man es als die härteste Strafe, einen Menschen vom Verkehr mit seinesgleichen auszuschließen. Sogar ihre Andacht müssen die Unglücklichen allein verrichten; sie werden in der Kirche so gesetzt, daß sie nur den Geistlichen sehen. Es soll furchtbar sein. Wagner hat die Zellengefänguistheorie auf die dramatische Kunst übertragen. Es fehlt nur noch die Gesichtsmaske, Ich kann mir nicht helfen, ich finde das barbarisch, ja ich finde es geschmacklos." Das war allerdings ein subjektives Urteil, Aber in jedem auch noch so subjektiven Urteil steckt doch ein Körnchen allgemeine Wahrheit — und um dieses Körnchens willen und weil außerdem dieses subjektive Urteil mit dem meinigen so ziemlich übereinstimmt, will ich versuchen, dasselbe hier zu erklären und zu begründen. Wir werden uns wohl am ehesten verständigen, wenn wir uns einmal darüber Rechenschaft zu geben suchen, was das eigentlich ist, was man Pu- blikum nennt. „Die erste beste Menschenmasse," wird mir jemand zurufen. Gewiß; jeden¬ falls gehört eine Masse Menschen dazu, um ein Publikum zu bilden, vielleicht eine recht große Masse, die Menschen aller Zeiten und Länder, oder auch kleinere, gesonderte Massen, Es giebt ein Publikum der Gebildeten und ein Publikum der Ungebildeten, wie es ein deutsches und ein französisches Publikum giebt; ja mau kann noch weiter gehen und sagen, nicht nnr jedes Land und jede Zeit, jede Bildungsklasse und jede Gesellschaftsklasse bilden ein Publikum für sich, nein, das große allgemeine Publikum zerteilt sich in noch viel kleinere Kreise, jede Kunst, jede Kunstrichtung, ja jeder bedeutende Künstler hat sein Publikum für sich, und wie es ein musikalisches Publikum und ein Publikum sür italie¬ nische Musik giebt, so giebt es auch ein Schumann- und Brahms-Publikum, die sich von jedem andern Publikum scharf unterscheiden, jedes ein Publikum für sich bilden, manchmal ein recht sonderbares, wie das Publikum, von dem hier speziell die Rede ist: das Wagner-Publikum. Aber obwohl zum Publikum immer eine größere oder kleinere Masse ge¬ hört, der Massenbegriff ist nicht das, was den Begriff „Publikum" allein be¬ stimmt; es muß noch eine andre, entscheidendere Bestimmung dazu kommen, eine höhere Einheit, ein Ereignis, durch dessen Einfluß die Bestandteile der formlosen, breiigen Masse zu festen, krystallinischen Gebilden zusammen¬ schießen. Die meisten Menschen, besonders Künstler und Dichter, wenn sie vom Pu¬ blikum sprechen, thun dies unter dem Einflüsse irgendeiner Stimmung, gewöhn¬ lich Verstimmung. Sogar Goethe war von solchen Velleitäten nicht frei. O sprich mir nicht von jener bunten Menge, Bei deren Anblick uns der Geist entflieht!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/154>, abgerufen am 22.07.2024.