Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Hermann Lettners Aleine Schriften.

jede Kunsttheorie in die Geschichte hinüberführt. Die spekulative Ästhetik muß
daher in die Kunstgeschichte, in die Geschichte der Künste in ihrer ganzen Breite,
in ihrer äußerlichen Abhängigkeit von Religion und Nationalsitte münden.
"Dadurch hört die Trennung einer philosophischen und empirischen Kunstwissen¬
schaft auf. Auf der einen Seite steht nicht die Philosophie, auf der andern
die Empirie, technische, historische, positive Kunstgelehrsamkeit, die sich feind¬
selig ausschließe", sondern beide sind wesentlich eins, wie ihr Gegenstand nur
einer lind ein- und derselbe ist." Auf dem Boden dieser Anschauung bewegen
sich nun schou die ältesten kunst- und literarhistorische" Versuche Hettners: "Die
neapolitanische Mnlerschule" und die "Drangsale und Hoffnungen der modernen
Plastik" (Schweglers Jahrbücher 1846) und die Abhandlung über "Die alt-
frnnzösischc Tragödie" (Blätter für literarische Unterhaltung, 1850). Besonders
interessant ist der in Rom geschriebene Aufsatz über die moderne Plastik. Er
spricht aus, daß die moderne Plastik seit Thorwnldsen wieder Stil habe, wenn
man das Wort "Stil" ausschließlich auf das Sichfügen in die Forderungen
des Materials beschränke. Allein Stil bedeute auch das in Formen verkörperte
Empfindungsvermögen einer bestimmten Zeit. Und hier müsse der modernen
Plastik der Stil ganz und gar abgesprochen werden. "Auffassung und Be¬
handlung ist in ihr nicht unsre eigenste unmittelbarste Denk- und Gefühlsweise,
die wir rückhaltlos verkörpern, sondern eine durch Reflexion erzeugte, durch viel¬
fache Bildung künstlich erlernte, gewaltsam aufgedrungene." Die Plastik dürfe
nicht länger in ihrer vornehm isolirten Stellung, ihrer kaltabweisenden Idealität,
in der abstrakten Reproduktion einer vergangnen Weltanschauung verharren.
Namentlich für die Monnmentalplnstik wendet sich Hettner gegen alles falsche
Gräzisiren und fordert "die individuellere, detaillirtere, wenn man will im
Verhältnis zu den Griechen mehr porträtartige naturalistische Darstellung." Der
junge Ästhetiker kannte damals weder die Entwürfe zu Rauchs Friedrichs¬
denkmal, noch wußte er, unter welchen innern und äußern Kämpfen Rietschel
soeben seinen Lessing schuf. Man wird ihm also einen entschiednen Instinkt
für das, was Not that und sich vorbereitete, nicht absprechen.

Seit den ersten fünfziger Jahren, um die Zeit der Berufung nach Jena, war
für Hettner die Zeit der vollen Reife gekommen. Wie glücklich er mich später im
einzelnen erkennen und urteilen mochte, und obschon in seiner "Geschichte der
Literatur des achtzehnten Jahrhunderts" eine gewisse Vertiefung der spätern
gegenüber den zuerstgezeichneten Charakterbildern erkennbar ist, und die "Italie¬
nischen Studien" eine Annäherung an die strengere Methode der neuern Spe-
zialforschung verraten, so hat sich doch die Gesäme- und Grundanschauung Hettners
seit der angegebenen Zeit weder erweitert noch im wesentlichen verändert. Sei"
Anteil an den Einzelerscheinungen und Einzelschöpfungen war im höchsten Grade
frisch "ut lebendig, wenn diese Naturen und Schöpfungen den Maßstäben ge¬
wachsen erschienen, die ihm unerläßlich dünkten. Dies tritt deutlich aus den


Hermann Lettners Aleine Schriften.

jede Kunsttheorie in die Geschichte hinüberführt. Die spekulative Ästhetik muß
daher in die Kunstgeschichte, in die Geschichte der Künste in ihrer ganzen Breite,
in ihrer äußerlichen Abhängigkeit von Religion und Nationalsitte münden.
„Dadurch hört die Trennung einer philosophischen und empirischen Kunstwissen¬
schaft auf. Auf der einen Seite steht nicht die Philosophie, auf der andern
die Empirie, technische, historische, positive Kunstgelehrsamkeit, die sich feind¬
selig ausschließe», sondern beide sind wesentlich eins, wie ihr Gegenstand nur
einer lind ein- und derselbe ist." Auf dem Boden dieser Anschauung bewegen
sich nun schou die ältesten kunst- und literarhistorische» Versuche Hettners: „Die
neapolitanische Mnlerschule" und die „Drangsale und Hoffnungen der modernen
Plastik" (Schweglers Jahrbücher 1846) und die Abhandlung über „Die alt-
frnnzösischc Tragödie" (Blätter für literarische Unterhaltung, 1850). Besonders
interessant ist der in Rom geschriebene Aufsatz über die moderne Plastik. Er
spricht aus, daß die moderne Plastik seit Thorwnldsen wieder Stil habe, wenn
man das Wort „Stil" ausschließlich auf das Sichfügen in die Forderungen
des Materials beschränke. Allein Stil bedeute auch das in Formen verkörperte
Empfindungsvermögen einer bestimmten Zeit. Und hier müsse der modernen
Plastik der Stil ganz und gar abgesprochen werden. „Auffassung und Be¬
handlung ist in ihr nicht unsre eigenste unmittelbarste Denk- und Gefühlsweise,
die wir rückhaltlos verkörpern, sondern eine durch Reflexion erzeugte, durch viel¬
fache Bildung künstlich erlernte, gewaltsam aufgedrungene." Die Plastik dürfe
nicht länger in ihrer vornehm isolirten Stellung, ihrer kaltabweisenden Idealität,
in der abstrakten Reproduktion einer vergangnen Weltanschauung verharren.
Namentlich für die Monnmentalplnstik wendet sich Hettner gegen alles falsche
Gräzisiren und fordert „die individuellere, detaillirtere, wenn man will im
Verhältnis zu den Griechen mehr porträtartige naturalistische Darstellung." Der
junge Ästhetiker kannte damals weder die Entwürfe zu Rauchs Friedrichs¬
denkmal, noch wußte er, unter welchen innern und äußern Kämpfen Rietschel
soeben seinen Lessing schuf. Man wird ihm also einen entschiednen Instinkt
für das, was Not that und sich vorbereitete, nicht absprechen.

Seit den ersten fünfziger Jahren, um die Zeit der Berufung nach Jena, war
für Hettner die Zeit der vollen Reife gekommen. Wie glücklich er mich später im
einzelnen erkennen und urteilen mochte, und obschon in seiner „Geschichte der
Literatur des achtzehnten Jahrhunderts" eine gewisse Vertiefung der spätern
gegenüber den zuerstgezeichneten Charakterbildern erkennbar ist, und die „Italie¬
nischen Studien" eine Annäherung an die strengere Methode der neuern Spe-
zialforschung verraten, so hat sich doch die Gesäme- und Grundanschauung Hettners
seit der angegebenen Zeit weder erweitert noch im wesentlichen verändert. Sei»
Anteil an den Einzelerscheinungen und Einzelschöpfungen war im höchsten Grade
frisch »ut lebendig, wenn diese Naturen und Schöpfungen den Maßstäben ge¬
wachsen erschienen, die ihm unerläßlich dünkten. Dies tritt deutlich aus den


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0661" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/155544"/>
          <fw type="header" place="top"> Hermann Lettners Aleine Schriften.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2586" prev="#ID_2585"> jede Kunsttheorie in die Geschichte hinüberführt. Die spekulative Ästhetik muß<lb/>
daher in die Kunstgeschichte, in die Geschichte der Künste in ihrer ganzen Breite,<lb/>
in ihrer äußerlichen Abhängigkeit von Religion und Nationalsitte münden.<lb/>
&#x201E;Dadurch hört die Trennung einer philosophischen und empirischen Kunstwissen¬<lb/>
schaft auf. Auf der einen Seite steht nicht die Philosophie, auf der andern<lb/>
die Empirie, technische, historische, positive Kunstgelehrsamkeit, die sich feind¬<lb/>
selig ausschließe», sondern beide sind wesentlich eins, wie ihr Gegenstand nur<lb/>
einer lind ein- und derselbe ist." Auf dem Boden dieser Anschauung bewegen<lb/>
sich nun schou die ältesten kunst- und literarhistorische» Versuche Hettners: &#x201E;Die<lb/>
neapolitanische Mnlerschule" und die &#x201E;Drangsale und Hoffnungen der modernen<lb/>
Plastik" (Schweglers Jahrbücher 1846) und die Abhandlung über &#x201E;Die alt-<lb/>
frnnzösischc Tragödie" (Blätter für literarische Unterhaltung, 1850). Besonders<lb/>
interessant ist der in Rom geschriebene Aufsatz über die moderne Plastik. Er<lb/>
spricht aus, daß die moderne Plastik seit Thorwnldsen wieder Stil habe, wenn<lb/>
man das Wort &#x201E;Stil" ausschließlich auf das Sichfügen in die Forderungen<lb/>
des Materials beschränke. Allein Stil bedeute auch das in Formen verkörperte<lb/>
Empfindungsvermögen einer bestimmten Zeit. Und hier müsse der modernen<lb/>
Plastik der Stil ganz und gar abgesprochen werden. &#x201E;Auffassung und Be¬<lb/>
handlung ist in ihr nicht unsre eigenste unmittelbarste Denk- und Gefühlsweise,<lb/>
die wir rückhaltlos verkörpern, sondern eine durch Reflexion erzeugte, durch viel¬<lb/>
fache Bildung künstlich erlernte, gewaltsam aufgedrungene." Die Plastik dürfe<lb/>
nicht länger in ihrer vornehm isolirten Stellung, ihrer kaltabweisenden Idealität,<lb/>
in der abstrakten Reproduktion einer vergangnen Weltanschauung verharren.<lb/>
Namentlich für die Monnmentalplnstik wendet sich Hettner gegen alles falsche<lb/>
Gräzisiren und fordert &#x201E;die individuellere, detaillirtere, wenn man will im<lb/>
Verhältnis zu den Griechen mehr porträtartige naturalistische Darstellung." Der<lb/>
junge Ästhetiker kannte damals weder die Entwürfe zu Rauchs Friedrichs¬<lb/>
denkmal, noch wußte er, unter welchen innern und äußern Kämpfen Rietschel<lb/>
soeben seinen Lessing schuf. Man wird ihm also einen entschiednen Instinkt<lb/>
für das, was Not that und sich vorbereitete, nicht absprechen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2587" next="#ID_2588"> Seit den ersten fünfziger Jahren, um die Zeit der Berufung nach Jena, war<lb/>
für Hettner die Zeit der vollen Reife gekommen. Wie glücklich er mich später im<lb/>
einzelnen erkennen und urteilen mochte, und obschon in seiner &#x201E;Geschichte der<lb/>
Literatur des achtzehnten Jahrhunderts" eine gewisse Vertiefung der spätern<lb/>
gegenüber den zuerstgezeichneten Charakterbildern erkennbar ist, und die &#x201E;Italie¬<lb/>
nischen Studien" eine Annäherung an die strengere Methode der neuern Spe-<lb/>
zialforschung verraten, so hat sich doch die Gesäme- und Grundanschauung Hettners<lb/>
seit der angegebenen Zeit weder erweitert noch im wesentlichen verändert. Sei»<lb/>
Anteil an den Einzelerscheinungen und Einzelschöpfungen war im höchsten Grade<lb/>
frisch »ut lebendig, wenn diese Naturen und Schöpfungen den Maßstäben ge¬<lb/>
wachsen erschienen, die ihm unerläßlich dünkten. Dies tritt deutlich aus den</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0661] Hermann Lettners Aleine Schriften. jede Kunsttheorie in die Geschichte hinüberführt. Die spekulative Ästhetik muß daher in die Kunstgeschichte, in die Geschichte der Künste in ihrer ganzen Breite, in ihrer äußerlichen Abhängigkeit von Religion und Nationalsitte münden. „Dadurch hört die Trennung einer philosophischen und empirischen Kunstwissen¬ schaft auf. Auf der einen Seite steht nicht die Philosophie, auf der andern die Empirie, technische, historische, positive Kunstgelehrsamkeit, die sich feind¬ selig ausschließe», sondern beide sind wesentlich eins, wie ihr Gegenstand nur einer lind ein- und derselbe ist." Auf dem Boden dieser Anschauung bewegen sich nun schou die ältesten kunst- und literarhistorische» Versuche Hettners: „Die neapolitanische Mnlerschule" und die „Drangsale und Hoffnungen der modernen Plastik" (Schweglers Jahrbücher 1846) und die Abhandlung über „Die alt- frnnzösischc Tragödie" (Blätter für literarische Unterhaltung, 1850). Besonders interessant ist der in Rom geschriebene Aufsatz über die moderne Plastik. Er spricht aus, daß die moderne Plastik seit Thorwnldsen wieder Stil habe, wenn man das Wort „Stil" ausschließlich auf das Sichfügen in die Forderungen des Materials beschränke. Allein Stil bedeute auch das in Formen verkörperte Empfindungsvermögen einer bestimmten Zeit. Und hier müsse der modernen Plastik der Stil ganz und gar abgesprochen werden. „Auffassung und Be¬ handlung ist in ihr nicht unsre eigenste unmittelbarste Denk- und Gefühlsweise, die wir rückhaltlos verkörpern, sondern eine durch Reflexion erzeugte, durch viel¬ fache Bildung künstlich erlernte, gewaltsam aufgedrungene." Die Plastik dürfe nicht länger in ihrer vornehm isolirten Stellung, ihrer kaltabweisenden Idealität, in der abstrakten Reproduktion einer vergangnen Weltanschauung verharren. Namentlich für die Monnmentalplnstik wendet sich Hettner gegen alles falsche Gräzisiren und fordert „die individuellere, detaillirtere, wenn man will im Verhältnis zu den Griechen mehr porträtartige naturalistische Darstellung." Der junge Ästhetiker kannte damals weder die Entwürfe zu Rauchs Friedrichs¬ denkmal, noch wußte er, unter welchen innern und äußern Kämpfen Rietschel soeben seinen Lessing schuf. Man wird ihm also einen entschiednen Instinkt für das, was Not that und sich vorbereitete, nicht absprechen. Seit den ersten fünfziger Jahren, um die Zeit der Berufung nach Jena, war für Hettner die Zeit der vollen Reife gekommen. Wie glücklich er mich später im einzelnen erkennen und urteilen mochte, und obschon in seiner „Geschichte der Literatur des achtzehnten Jahrhunderts" eine gewisse Vertiefung der spätern gegenüber den zuerstgezeichneten Charakterbildern erkennbar ist, und die „Italie¬ nischen Studien" eine Annäherung an die strengere Methode der neuern Spe- zialforschung verraten, so hat sich doch die Gesäme- und Grundanschauung Hettners seit der angegebenen Zeit weder erweitert noch im wesentlichen verändert. Sei» Anteil an den Einzelerscheinungen und Einzelschöpfungen war im höchsten Grade frisch »ut lebendig, wenn diese Naturen und Schöpfungen den Maßstäben ge¬ wachsen erschienen, die ihm unerläßlich dünkten. Dies tritt deutlich aus den

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/661
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/661>, abgerufen am 02.07.2024.