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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Hermann Lettners Kleine Schriften.

Wenige Aufsätze ausgenommen, in denen sich der Archäolog und Kunst¬
historiker ausschließlich an seine Fachgenossen wandte, hatte Hettner bei allen
seinen historischen und ästhetischen Bestrebungen jederzeit die größern Kreise der
allgemeinen Bildung im Auge. Nur daß er den Begriff der allgemeinen Bil¬
dung anders faßte, als die große Mehrzahl der Schriftsteller, welche angeblich
dieser Bildung diente und sich auf sie berief. Für den wissenschaftlich geschulten,
ebenso ernsten wie geistvollen Ästhetiker galten ein ununterbrochener Anteil und
eine tiefere Hingabe an die Erscheinungen der Literatur und Kunst, ein leben¬
diges und jederzeit reges Interesse am historischen Werden der Dinge, eine ge¬
wisse Vielseitigkeit des Blicks als Voraussetzungen der eignen Thätigkeit und
Wirkung. Wenn bei Hettncrs Abneigung gegen alle Pedanterie, gegen falsche
Feierlichkeit wie gegen geistlose und unkritische Materialanhäufuug, bei seiner
unleugbaren Gleichgültigkeit in Fragen philologischer Mikrologie die Gegner
sich bis zu der Beschuldigung verstiegen, er habe mehr wie ein Belletrist
oder Journalist denn wie ein Gelehrter geschrieben, so hat doch auch der bit¬
terste Feind nie gewagt, ihm Flachheit und arbeitsscheue Schnellfertigkeit vor¬
zuwerfen, die den Schriftsteller nur allzuleicht bedrohen, welcher die Resultate
seiner Forschung und seiner Kritik einem großen Kreise zugänglich machen will.
Auch die Sammlung der "Kleinen Schriften," so verschieden sie ihrem Zwecke
und Werte nach sind, legt im ganzen für die umfassende Bildung, den Ernst,
die geistvolle Schärfe und die Vornehmheit der literarischen und künstlerischen
Anschauungen Hettncrs vollgiltiges Zeugnis ab.

Die ältesten Aufsätze interessiren uns hauptsächlich als Merksteine an dein
Wege, auf welchem Hettner zu den Grundanschauungen gediehen ist, die
uns aus den besten und innerlich reichhaltigsten Gaben dieses Buches im Einklang
mit den Anschauungen der größern Werke ansprechen. Die Abhandlung "Gegen
die spekulative Ästhetik" (aus Wigcmds Vierteljahrsschrift von 1845) erscheint
hierfür besonders wichtig. Überall verrät sich hier noch der Ausgang Hettners
von der Hegelschen Philosophie, und wenn sich der Autor auch von den An¬
schauungen der Schule losgerungen hat, so bewegt er sich doch noch mehr als
billig in der abstrakten Schulsprache. Die Hauptsätze der Abhandlung laufen
auf die Forderung einer neuen Theorie des Stiles hinaus. Es wird aus¬
gesprochen, daß eine Formeuemteilung, die durch alle Künste gleichmäßig hindurch¬
geht, der Kunst Gewalt anthue, nichts sei und bleibe als logischer Schematismus,
daß die Betrachtung der einzelnen Künste sich daher um ein solches durch¬
gehendes Einteilungsprinzip nicht ferner zu kümmern habe, "selbst ans die Gefahr
hin,, daß sie als bloße Empirie erscheinen werde." Da aber die Formen, die
unmittelbar durch den Begriff der Kunst und die Natur des Materials vor¬
gezeichnet sind, ihrer Natur "ach äußerlich, abstrakt und unlebendig erscheinen,
Leben erst durch den Inhalt, den lebendigen Hauch des Individuums bekommen,
der in ihnen schöpferisch wirkt, so ist dies ein tieferer Grund, warum notwendig


Hermann Lettners Kleine Schriften.

Wenige Aufsätze ausgenommen, in denen sich der Archäolog und Kunst¬
historiker ausschließlich an seine Fachgenossen wandte, hatte Hettner bei allen
seinen historischen und ästhetischen Bestrebungen jederzeit die größern Kreise der
allgemeinen Bildung im Auge. Nur daß er den Begriff der allgemeinen Bil¬
dung anders faßte, als die große Mehrzahl der Schriftsteller, welche angeblich
dieser Bildung diente und sich auf sie berief. Für den wissenschaftlich geschulten,
ebenso ernsten wie geistvollen Ästhetiker galten ein ununterbrochener Anteil und
eine tiefere Hingabe an die Erscheinungen der Literatur und Kunst, ein leben¬
diges und jederzeit reges Interesse am historischen Werden der Dinge, eine ge¬
wisse Vielseitigkeit des Blicks als Voraussetzungen der eignen Thätigkeit und
Wirkung. Wenn bei Hettncrs Abneigung gegen alle Pedanterie, gegen falsche
Feierlichkeit wie gegen geistlose und unkritische Materialanhäufuug, bei seiner
unleugbaren Gleichgültigkeit in Fragen philologischer Mikrologie die Gegner
sich bis zu der Beschuldigung verstiegen, er habe mehr wie ein Belletrist
oder Journalist denn wie ein Gelehrter geschrieben, so hat doch auch der bit¬
terste Feind nie gewagt, ihm Flachheit und arbeitsscheue Schnellfertigkeit vor¬
zuwerfen, die den Schriftsteller nur allzuleicht bedrohen, welcher die Resultate
seiner Forschung und seiner Kritik einem großen Kreise zugänglich machen will.
Auch die Sammlung der „Kleinen Schriften," so verschieden sie ihrem Zwecke
und Werte nach sind, legt im ganzen für die umfassende Bildung, den Ernst,
die geistvolle Schärfe und die Vornehmheit der literarischen und künstlerischen
Anschauungen Hettncrs vollgiltiges Zeugnis ab.

Die ältesten Aufsätze interessiren uns hauptsächlich als Merksteine an dein
Wege, auf welchem Hettner zu den Grundanschauungen gediehen ist, die
uns aus den besten und innerlich reichhaltigsten Gaben dieses Buches im Einklang
mit den Anschauungen der größern Werke ansprechen. Die Abhandlung „Gegen
die spekulative Ästhetik" (aus Wigcmds Vierteljahrsschrift von 1845) erscheint
hierfür besonders wichtig. Überall verrät sich hier noch der Ausgang Hettners
von der Hegelschen Philosophie, und wenn sich der Autor auch von den An¬
schauungen der Schule losgerungen hat, so bewegt er sich doch noch mehr als
billig in der abstrakten Schulsprache. Die Hauptsätze der Abhandlung laufen
auf die Forderung einer neuen Theorie des Stiles hinaus. Es wird aus¬
gesprochen, daß eine Formeuemteilung, die durch alle Künste gleichmäßig hindurch¬
geht, der Kunst Gewalt anthue, nichts sei und bleibe als logischer Schematismus,
daß die Betrachtung der einzelnen Künste sich daher um ein solches durch¬
gehendes Einteilungsprinzip nicht ferner zu kümmern habe, „selbst ans die Gefahr
hin,, daß sie als bloße Empirie erscheinen werde." Da aber die Formen, die
unmittelbar durch den Begriff der Kunst und die Natur des Materials vor¬
gezeichnet sind, ihrer Natur »ach äußerlich, abstrakt und unlebendig erscheinen,
Leben erst durch den Inhalt, den lebendigen Hauch des Individuums bekommen,
der in ihnen schöpferisch wirkt, so ist dies ein tieferer Grund, warum notwendig


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/660>, abgerufen am 01.07.2024.