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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Die Sage vom ewigen Juden.

Joh. 21, 20 ff" lautet: "Petrus wandte sich um und sah den Jünger folgen,
welchen Jesus lieb hatte, der auch beim Abendmahl an seiner Brust gelegen
"ut gesagt hatte: Herr, wer ist es, der dich verrät? Da Petrus diesen sah,
spricht er zu Jesus: Herr, was soll aber dieser? Jesus spricht zu ihm: So ich
will, daß er bleibe, bis ich komme, was geht es dich an? Folge du mir nach.
Da ging eine Rede aus unter den Brüdern: Dieser Jünger stirbt nicht." Daraus
hauptsächlich entstand in späterer Zeit das Legcndenbild eines ewigen Wanderers.
Derselbe war anfangs der Apostel Johannes. Schon Tertullian fand sich be¬
wogen, die Ansicht, daß der Licblingsjünger Jesu noch fortlebe, zu bestreikn.
Um das Jahr 400 berichtet der Kirchenlehrer Sulpicius Severus von einem
Menschen, der sich im Orient für den Apostel Johannes ausgegeben habe. Etwa
siebenhundert Jahre nachher meldet der bulgarische Erzbischof Theophylaktus,
es herrsche die Meinung, daß Johannes nicht gestorben sei, sondern zugleich mit
Elias erst durch den Antichrist seinen Tod finden werde. Wieder dreihundert
Jahre später verfaßte der byzantinische Philolog Georg von Trapezunt eine
Schrift, in welcher er nachzuweisen suchte, daß Johannes noch am Leben sei.
Gegen das Ende des sechzehnten Jahrhunderts wurde in Frankreich ein Be¬
trüger verbrannt, welcher behauptet hatte, er sei dieser unsterbliche Apostel, und
in England existirte hundert Jahre später eine Sekte, welche von der Wieder¬
kunft des Johannes eine kirchliche Neugestaltung hoffte.

In der Passionsgeschichte des vierten Evangeliums wird ferner berichtet,
daß ein Diener des Hohenpriesters Kaiphas Christo einen Backenstreich versetzt
habe. Die spätere Tradition identifizirt diesen Mann mit jenem Malchus, dem
Petrus im Garten von Gethsemane ein Ohr abgehauen hatte. Nach einer alten
italienischen Legende, in welcher derselbe Markus heißt, traf den Verbrecher die
Strafe, unter der Erde fortzuleben und unaufhörlich um die Säule zu laufen,
an der Jesus vor seiner Kreuzigung gegeißelt wurde. Nach einer im siebzehnten
Jahrhunderte verfaßten "Relation" eines Danzigers heißt der Verurteilte weder
Mnlchus noch Markus, sondern Josef, und man hat ihn einem venetianischen Pa¬
trizier aus dem Geschlechte der Bianchi zu Jerusalem "in einem verborgenen
gepflasterten Saale" gezeigt, "woselbst er von den Türken als etwas besondres
in steter Verwahrung gehalten worden. . . . Alldar der Gefangene in seinem
alten römischen Habit ... in dem Saal aus- und niedergangen und ohne Wort
sprechen sonst nichts gethan, als mit der Hand zuweilen an die Wand, zuweilen
an die Brust geschlagen, zum Zeugnis, daß er Christum unverschuldet in sein
heiliges Angesicht geschlagen."

Aus diesen Überlieferungen über den zur Belohnung im Leben gelassenen
Johannes und den zur Strafe der Ruhe im Grabe entzogenen Malchus ent¬
stand nach der Ansicht des Verfassers unsrer Schrift die Figur, in der wir das
Urbild des "ewigen Juden" erblicken dürfen. Wahrscheinlich wirkten dabei
apologetische Tendenzen mit, indem man während des Mittelalters die evan-


Die Sage vom ewigen Juden.

Joh. 21, 20 ff„ lautet: „Petrus wandte sich um und sah den Jünger folgen,
welchen Jesus lieb hatte, der auch beim Abendmahl an seiner Brust gelegen
»ut gesagt hatte: Herr, wer ist es, der dich verrät? Da Petrus diesen sah,
spricht er zu Jesus: Herr, was soll aber dieser? Jesus spricht zu ihm: So ich
will, daß er bleibe, bis ich komme, was geht es dich an? Folge du mir nach.
Da ging eine Rede aus unter den Brüdern: Dieser Jünger stirbt nicht." Daraus
hauptsächlich entstand in späterer Zeit das Legcndenbild eines ewigen Wanderers.
Derselbe war anfangs der Apostel Johannes. Schon Tertullian fand sich be¬
wogen, die Ansicht, daß der Licblingsjünger Jesu noch fortlebe, zu bestreikn.
Um das Jahr 400 berichtet der Kirchenlehrer Sulpicius Severus von einem
Menschen, der sich im Orient für den Apostel Johannes ausgegeben habe. Etwa
siebenhundert Jahre nachher meldet der bulgarische Erzbischof Theophylaktus,
es herrsche die Meinung, daß Johannes nicht gestorben sei, sondern zugleich mit
Elias erst durch den Antichrist seinen Tod finden werde. Wieder dreihundert
Jahre später verfaßte der byzantinische Philolog Georg von Trapezunt eine
Schrift, in welcher er nachzuweisen suchte, daß Johannes noch am Leben sei.
Gegen das Ende des sechzehnten Jahrhunderts wurde in Frankreich ein Be¬
trüger verbrannt, welcher behauptet hatte, er sei dieser unsterbliche Apostel, und
in England existirte hundert Jahre später eine Sekte, welche von der Wieder¬
kunft des Johannes eine kirchliche Neugestaltung hoffte.

In der Passionsgeschichte des vierten Evangeliums wird ferner berichtet,
daß ein Diener des Hohenpriesters Kaiphas Christo einen Backenstreich versetzt
habe. Die spätere Tradition identifizirt diesen Mann mit jenem Malchus, dem
Petrus im Garten von Gethsemane ein Ohr abgehauen hatte. Nach einer alten
italienischen Legende, in welcher derselbe Markus heißt, traf den Verbrecher die
Strafe, unter der Erde fortzuleben und unaufhörlich um die Säule zu laufen,
an der Jesus vor seiner Kreuzigung gegeißelt wurde. Nach einer im siebzehnten
Jahrhunderte verfaßten „Relation" eines Danzigers heißt der Verurteilte weder
Mnlchus noch Markus, sondern Josef, und man hat ihn einem venetianischen Pa¬
trizier aus dem Geschlechte der Bianchi zu Jerusalem „in einem verborgenen
gepflasterten Saale" gezeigt, „woselbst er von den Türken als etwas besondres
in steter Verwahrung gehalten worden. . . . Alldar der Gefangene in seinem
alten römischen Habit ... in dem Saal aus- und niedergangen und ohne Wort
sprechen sonst nichts gethan, als mit der Hand zuweilen an die Wand, zuweilen
an die Brust geschlagen, zum Zeugnis, daß er Christum unverschuldet in sein
heiliges Angesicht geschlagen."

Aus diesen Überlieferungen über den zur Belohnung im Leben gelassenen
Johannes und den zur Strafe der Ruhe im Grabe entzogenen Malchus ent¬
stand nach der Ansicht des Verfassers unsrer Schrift die Figur, in der wir das
Urbild des „ewigen Juden" erblicken dürfen. Wahrscheinlich wirkten dabei
apologetische Tendenzen mit, indem man während des Mittelalters die evan-


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[0653] Die Sage vom ewigen Juden. Joh. 21, 20 ff„ lautet: „Petrus wandte sich um und sah den Jünger folgen, welchen Jesus lieb hatte, der auch beim Abendmahl an seiner Brust gelegen »ut gesagt hatte: Herr, wer ist es, der dich verrät? Da Petrus diesen sah, spricht er zu Jesus: Herr, was soll aber dieser? Jesus spricht zu ihm: So ich will, daß er bleibe, bis ich komme, was geht es dich an? Folge du mir nach. Da ging eine Rede aus unter den Brüdern: Dieser Jünger stirbt nicht." Daraus hauptsächlich entstand in späterer Zeit das Legcndenbild eines ewigen Wanderers. Derselbe war anfangs der Apostel Johannes. Schon Tertullian fand sich be¬ wogen, die Ansicht, daß der Licblingsjünger Jesu noch fortlebe, zu bestreikn. Um das Jahr 400 berichtet der Kirchenlehrer Sulpicius Severus von einem Menschen, der sich im Orient für den Apostel Johannes ausgegeben habe. Etwa siebenhundert Jahre nachher meldet der bulgarische Erzbischof Theophylaktus, es herrsche die Meinung, daß Johannes nicht gestorben sei, sondern zugleich mit Elias erst durch den Antichrist seinen Tod finden werde. Wieder dreihundert Jahre später verfaßte der byzantinische Philolog Georg von Trapezunt eine Schrift, in welcher er nachzuweisen suchte, daß Johannes noch am Leben sei. Gegen das Ende des sechzehnten Jahrhunderts wurde in Frankreich ein Be¬ trüger verbrannt, welcher behauptet hatte, er sei dieser unsterbliche Apostel, und in England existirte hundert Jahre später eine Sekte, welche von der Wieder¬ kunft des Johannes eine kirchliche Neugestaltung hoffte. In der Passionsgeschichte des vierten Evangeliums wird ferner berichtet, daß ein Diener des Hohenpriesters Kaiphas Christo einen Backenstreich versetzt habe. Die spätere Tradition identifizirt diesen Mann mit jenem Malchus, dem Petrus im Garten von Gethsemane ein Ohr abgehauen hatte. Nach einer alten italienischen Legende, in welcher derselbe Markus heißt, traf den Verbrecher die Strafe, unter der Erde fortzuleben und unaufhörlich um die Säule zu laufen, an der Jesus vor seiner Kreuzigung gegeißelt wurde. Nach einer im siebzehnten Jahrhunderte verfaßten „Relation" eines Danzigers heißt der Verurteilte weder Mnlchus noch Markus, sondern Josef, und man hat ihn einem venetianischen Pa¬ trizier aus dem Geschlechte der Bianchi zu Jerusalem „in einem verborgenen gepflasterten Saale" gezeigt, „woselbst er von den Türken als etwas besondres in steter Verwahrung gehalten worden. . . . Alldar der Gefangene in seinem alten römischen Habit ... in dem Saal aus- und niedergangen und ohne Wort sprechen sonst nichts gethan, als mit der Hand zuweilen an die Wand, zuweilen an die Brust geschlagen, zum Zeugnis, daß er Christum unverschuldet in sein heiliges Angesicht geschlagen." Aus diesen Überlieferungen über den zur Belohnung im Leben gelassenen Johannes und den zur Strafe der Ruhe im Grabe entzogenen Malchus ent¬ stand nach der Ansicht des Verfassers unsrer Schrift die Figur, in der wir das Urbild des „ewigen Juden" erblicken dürfen. Wahrscheinlich wirkten dabei apologetische Tendenzen mit, indem man während des Mittelalters die evan-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/653>, abgerufen am 28.06.2024.