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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Auf der Leiter des Glücks.

einer platzenden Bombe hatte und das die beiden alten Eheleute völlig aus der
Fassung brachte. Denn von den immer mehr oder weniger humanen Phrasen
entkleidet, die der Ausdrucksweise der Frau von Mockritz längst zur andern
Natur geworden waren, besagte das Billet der "guten Nachbarin" etwa fol¬
gendes: Ihre aus alter Freundschaft sür Herrn von Hartig eingezogenen Er¬
kundigungen hätten leider zu der Ermittlung geführt, daß die gewesene Kammer¬
jungfer Lore, rsetius Elise Müller, die Tochter des vor einer Reihe von Jahren
in zum Zuchthaus verurteilten Fälschers und Bankrotteurs sei, der durch
seine Selbstentleibung sich wohl dem Arme des Gesetzes entzogen habe, nicht
aber den ihm ins Jenseits gefolgten Thränen und Verwünschungen der durch
ihn an den Bettelstab gebrachten Witwen und Waisen. Ein beigelegter Zettel
enthielt den Namen des Missethäters, des geheimen Kommerzienrath Gebhardi,
und Kaspar Benedikts Herz wollte sich schier umwenden. Für welche Nach¬
kommenschaft öffneten sich die berühmte", von so zahllosen Besuchern bewunderten
Kinder- und Enkclzimmer der merkwürdigen Villa!




Zwanzigstes Uapitel.

Es war Herbst geworden, ehe Kaspar Benedikt sich von diesem Schlage
erholte. Er hatte seine Einwilligung nicht zurückgezogen, aber wie fühllos hätte
Berthold sein müssen, um angesichts der vergebens durch Lächeln und herzliche
Worte verschleierten Traurigkeit des gütigen Greises die Braut ihm ins Haus
führen zu wollen! Immer wurden neue Gründe von Berthold ausgesonnen,
warum ein Aufschub nötig sei. Frau Anna mußte mit dazu thun, ob ihr auch
das Herz dabei brechen wollte.

Dann blieb Kaspar Benedikts Auge eines Tages in seiner Bibliothek an
einem Ausspruche Senccas haften, an den Worten: "Kleine Schmerzen find beredt,
großer Kummer ist stumm." Lange schritt er in seiner Bibliothek auf und ab, die
Hände auf dem Rücken, den Zeigefinger in dem Buche. Er war in tiefernsten
Gedanken.

Was ihm fast noch mehr als der für alle Zeit gebrandmarkte Name, dessen
Elise sich entledigt hatte, ein immer gleich empfindlich schmerzender Stachel ge¬
wesen war, eben dieses Verschweigen einer so befleckten Abstammung -- der
Philosophirende Greis begann milder darüber zu denken. "Großer Kummer ist
stumm." In der That, der Kummer des armen Mädchens durfte ein großer genannt
werden, und daß sie den Leuten die Möglichkeit entzog, sie auf die Berechtigung
jenes Kummers anzusprechen, daß sie wie in eine verschlossene Urne alles bestattet
hatte, was sonst dem Menschenherzen teuer ist: Kindheitserinnerungen, Heimat,
Elterngcdenken -- durfte Kaspar Benedikt ihr daraus ein Verbrechen machen?
"Großer Kummer ist stumm."


Auf der Leiter des Glücks.

einer platzenden Bombe hatte und das die beiden alten Eheleute völlig aus der
Fassung brachte. Denn von den immer mehr oder weniger humanen Phrasen
entkleidet, die der Ausdrucksweise der Frau von Mockritz längst zur andern
Natur geworden waren, besagte das Billet der „guten Nachbarin" etwa fol¬
gendes: Ihre aus alter Freundschaft sür Herrn von Hartig eingezogenen Er¬
kundigungen hätten leider zu der Ermittlung geführt, daß die gewesene Kammer¬
jungfer Lore, rsetius Elise Müller, die Tochter des vor einer Reihe von Jahren
in zum Zuchthaus verurteilten Fälschers und Bankrotteurs sei, der durch
seine Selbstentleibung sich wohl dem Arme des Gesetzes entzogen habe, nicht
aber den ihm ins Jenseits gefolgten Thränen und Verwünschungen der durch
ihn an den Bettelstab gebrachten Witwen und Waisen. Ein beigelegter Zettel
enthielt den Namen des Missethäters, des geheimen Kommerzienrath Gebhardi,
und Kaspar Benedikts Herz wollte sich schier umwenden. Für welche Nach¬
kommenschaft öffneten sich die berühmte», von so zahllosen Besuchern bewunderten
Kinder- und Enkclzimmer der merkwürdigen Villa!




Zwanzigstes Uapitel.

Es war Herbst geworden, ehe Kaspar Benedikt sich von diesem Schlage
erholte. Er hatte seine Einwilligung nicht zurückgezogen, aber wie fühllos hätte
Berthold sein müssen, um angesichts der vergebens durch Lächeln und herzliche
Worte verschleierten Traurigkeit des gütigen Greises die Braut ihm ins Haus
führen zu wollen! Immer wurden neue Gründe von Berthold ausgesonnen,
warum ein Aufschub nötig sei. Frau Anna mußte mit dazu thun, ob ihr auch
das Herz dabei brechen wollte.

Dann blieb Kaspar Benedikts Auge eines Tages in seiner Bibliothek an
einem Ausspruche Senccas haften, an den Worten: „Kleine Schmerzen find beredt,
großer Kummer ist stumm." Lange schritt er in seiner Bibliothek auf und ab, die
Hände auf dem Rücken, den Zeigefinger in dem Buche. Er war in tiefernsten
Gedanken.

Was ihm fast noch mehr als der für alle Zeit gebrandmarkte Name, dessen
Elise sich entledigt hatte, ein immer gleich empfindlich schmerzender Stachel ge¬
wesen war, eben dieses Verschweigen einer so befleckten Abstammung — der
Philosophirende Greis begann milder darüber zu denken. „Großer Kummer ist
stumm." In der That, der Kummer des armen Mädchens durfte ein großer genannt
werden, und daß sie den Leuten die Möglichkeit entzog, sie auf die Berechtigung
jenes Kummers anzusprechen, daß sie wie in eine verschlossene Urne alles bestattet
hatte, was sonst dem Menschenherzen teuer ist: Kindheitserinnerungen, Heimat,
Elterngcdenken — durfte Kaspar Benedikt ihr daraus ein Verbrechen machen?
„Großer Kummer ist stumm."


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/589>, abgerufen am 22.07.2024.