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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Der Titerarische verein in Stuttgart.

lateinische und deutsche Lieder und Gedichte, so genannt nach einer Handschrift
des dreizehnten Jahrhunderts, welche im Kloster zu Benediktbeuren aufgefunden
wurde. Längst vergriffen, ist dieser Band im vorigen Jahre wieder abgedruckt
"ut durch den Buchhandel jedermann zugänglich gemacht worden. Heiliges und
Unheiliges findet sich in der der Ausgabe Schmellers zu Grunde liegenden
Handschrift, die zu den größten Schätzen der an Handschriften so reichen Münchener
Hof- und Staatsbibliothek gehört, in buntem Durcheinander. Minnelieder bilden
die größte Zahl, daneben aber finden sich Stücke sowohl moralischen und reli¬
giösen als mythischen und geschichtlichen Inhalts, während ein dritter Teil einen
durchaus komischen Charakter trägt. Hier begegnen wir Zechliedern und possen¬
haften Gesängen, wie sie die wandernden Geistlichen und Schüler im Mittel¬
alter bei ihren Gelagen anzustimmen liebten. Manche köstliche Perle hat sich
unter ihnen erhalten und klingt noch heute, wenn auch im Laufe der Jahrhun¬
derte mannichfach umgewandelt, in unsern frohen Studentenliedern wieder.
Wertlos aber ist nichts in dieser köstlichen Sammlung. "Wie sehr verschieden
diese Blumen seien, sagt Schmeller, an Farbe und innerm Wert, ein eigentüm¬
licher Reiz, der ihnen unverkümmert bleibt, liegt darin, daß sie lebendiges Zeugnis
geben von der Weise, in der man vor einem halben Jahrtausend klagend oder
jubelnd sich ausgesprochen hat über Gefühle, Freuden und Leiden, die ein altes
Herkommen sind und ein ewiges Dableiben unter den Kindern der Menschen.
Schon dieses Reizes wegen wird sich, glauben wir, mancher Leser gern ergehen
in solchem altertümlichen Gärtlein; und je weniger kritische Dornen und Disteln er
sich in den Weg gelegt findet, umso lieber wird es ihm sein." Schmeller hat
seiner Ausgabe nur wenig kritische Zuthaten beigefügt, da er sich "bei der an¬
spruchslose" Art dieser Vereinspublikationen von vornherein einer Verbindlich¬
keit, über alles Unklare Rede zu stehen, überhoben erachtete." Die in vielen
Stücken durch Accentnoten oder nennen angedeutete Vortragsweise ließ er
ganz auf sich beruhen, sodaß hier dem Kundigen noch ein lohnender Ausflug
in das Gebiet der älteren Sing- und Licderkunst vorbehalten ist. Zudem hat man
in neuerer Zeit bemerkt, daß die Handschrift noch schlimmer verbunden ist als
Schmeller annahm, und daß auch in metrischer Beziehung noch mancherlei nach¬
zubessern ist; mau kann daher von einer erneuten Untersuchung der Handschrift,
die, wie wir hören, beabsichtigt wird, noch manche neue Resultate erwarten.

Die übrigen Publikationen aus dem Gebiete der lateinischen Poesie, wie
überhaupt alles sonstige Poetische, das der Verein zur Veröffentlichung gebracht
hat, übergehen wir, um unser Augenmerk nun auf die geschichtlichen Denkmäler
zu richten. Gleich der erste Band brachte ein solches: Closeners Stra߬
burgische Chronik, von Strobel und Schott herausgegeben. Sie wurde
später von Hegel in seinen Straßburger Städtechroniken noch einmal edirt.
Closener benutzte für seine Arbeit die "Weltchronik" Eckes von Repgow, und
zwar in einer Gestalt, welche bereits mit Fortsetzungen versehen war. Maß-


Der Titerarische verein in Stuttgart.

lateinische und deutsche Lieder und Gedichte, so genannt nach einer Handschrift
des dreizehnten Jahrhunderts, welche im Kloster zu Benediktbeuren aufgefunden
wurde. Längst vergriffen, ist dieser Band im vorigen Jahre wieder abgedruckt
»ut durch den Buchhandel jedermann zugänglich gemacht worden. Heiliges und
Unheiliges findet sich in der der Ausgabe Schmellers zu Grunde liegenden
Handschrift, die zu den größten Schätzen der an Handschriften so reichen Münchener
Hof- und Staatsbibliothek gehört, in buntem Durcheinander. Minnelieder bilden
die größte Zahl, daneben aber finden sich Stücke sowohl moralischen und reli¬
giösen als mythischen und geschichtlichen Inhalts, während ein dritter Teil einen
durchaus komischen Charakter trägt. Hier begegnen wir Zechliedern und possen¬
haften Gesängen, wie sie die wandernden Geistlichen und Schüler im Mittel¬
alter bei ihren Gelagen anzustimmen liebten. Manche köstliche Perle hat sich
unter ihnen erhalten und klingt noch heute, wenn auch im Laufe der Jahrhun¬
derte mannichfach umgewandelt, in unsern frohen Studentenliedern wieder.
Wertlos aber ist nichts in dieser köstlichen Sammlung. „Wie sehr verschieden
diese Blumen seien, sagt Schmeller, an Farbe und innerm Wert, ein eigentüm¬
licher Reiz, der ihnen unverkümmert bleibt, liegt darin, daß sie lebendiges Zeugnis
geben von der Weise, in der man vor einem halben Jahrtausend klagend oder
jubelnd sich ausgesprochen hat über Gefühle, Freuden und Leiden, die ein altes
Herkommen sind und ein ewiges Dableiben unter den Kindern der Menschen.
Schon dieses Reizes wegen wird sich, glauben wir, mancher Leser gern ergehen
in solchem altertümlichen Gärtlein; und je weniger kritische Dornen und Disteln er
sich in den Weg gelegt findet, umso lieber wird es ihm sein." Schmeller hat
seiner Ausgabe nur wenig kritische Zuthaten beigefügt, da er sich „bei der an¬
spruchslose» Art dieser Vereinspublikationen von vornherein einer Verbindlich¬
keit, über alles Unklare Rede zu stehen, überhoben erachtete." Die in vielen
Stücken durch Accentnoten oder nennen angedeutete Vortragsweise ließ er
ganz auf sich beruhen, sodaß hier dem Kundigen noch ein lohnender Ausflug
in das Gebiet der älteren Sing- und Licderkunst vorbehalten ist. Zudem hat man
in neuerer Zeit bemerkt, daß die Handschrift noch schlimmer verbunden ist als
Schmeller annahm, und daß auch in metrischer Beziehung noch mancherlei nach¬
zubessern ist; mau kann daher von einer erneuten Untersuchung der Handschrift,
die, wie wir hören, beabsichtigt wird, noch manche neue Resultate erwarten.

Die übrigen Publikationen aus dem Gebiete der lateinischen Poesie, wie
überhaupt alles sonstige Poetische, das der Verein zur Veröffentlichung gebracht
hat, übergehen wir, um unser Augenmerk nun auf die geschichtlichen Denkmäler
zu richten. Gleich der erste Band brachte ein solches: Closeners Stra߬
burgische Chronik, von Strobel und Schott herausgegeben. Sie wurde
später von Hegel in seinen Straßburger Städtechroniken noch einmal edirt.
Closener benutzte für seine Arbeit die „Weltchronik" Eckes von Repgow, und
zwar in einer Gestalt, welche bereits mit Fortsetzungen versehen war. Maß-


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[0567] Der Titerarische verein in Stuttgart. lateinische und deutsche Lieder und Gedichte, so genannt nach einer Handschrift des dreizehnten Jahrhunderts, welche im Kloster zu Benediktbeuren aufgefunden wurde. Längst vergriffen, ist dieser Band im vorigen Jahre wieder abgedruckt »ut durch den Buchhandel jedermann zugänglich gemacht worden. Heiliges und Unheiliges findet sich in der der Ausgabe Schmellers zu Grunde liegenden Handschrift, die zu den größten Schätzen der an Handschriften so reichen Münchener Hof- und Staatsbibliothek gehört, in buntem Durcheinander. Minnelieder bilden die größte Zahl, daneben aber finden sich Stücke sowohl moralischen und reli¬ giösen als mythischen und geschichtlichen Inhalts, während ein dritter Teil einen durchaus komischen Charakter trägt. Hier begegnen wir Zechliedern und possen¬ haften Gesängen, wie sie die wandernden Geistlichen und Schüler im Mittel¬ alter bei ihren Gelagen anzustimmen liebten. Manche köstliche Perle hat sich unter ihnen erhalten und klingt noch heute, wenn auch im Laufe der Jahrhun¬ derte mannichfach umgewandelt, in unsern frohen Studentenliedern wieder. Wertlos aber ist nichts in dieser köstlichen Sammlung. „Wie sehr verschieden diese Blumen seien, sagt Schmeller, an Farbe und innerm Wert, ein eigentüm¬ licher Reiz, der ihnen unverkümmert bleibt, liegt darin, daß sie lebendiges Zeugnis geben von der Weise, in der man vor einem halben Jahrtausend klagend oder jubelnd sich ausgesprochen hat über Gefühle, Freuden und Leiden, die ein altes Herkommen sind und ein ewiges Dableiben unter den Kindern der Menschen. Schon dieses Reizes wegen wird sich, glauben wir, mancher Leser gern ergehen in solchem altertümlichen Gärtlein; und je weniger kritische Dornen und Disteln er sich in den Weg gelegt findet, umso lieber wird es ihm sein." Schmeller hat seiner Ausgabe nur wenig kritische Zuthaten beigefügt, da er sich „bei der an¬ spruchslose» Art dieser Vereinspublikationen von vornherein einer Verbindlich¬ keit, über alles Unklare Rede zu stehen, überhoben erachtete." Die in vielen Stücken durch Accentnoten oder nennen angedeutete Vortragsweise ließ er ganz auf sich beruhen, sodaß hier dem Kundigen noch ein lohnender Ausflug in das Gebiet der älteren Sing- und Licderkunst vorbehalten ist. Zudem hat man in neuerer Zeit bemerkt, daß die Handschrift noch schlimmer verbunden ist als Schmeller annahm, und daß auch in metrischer Beziehung noch mancherlei nach¬ zubessern ist; mau kann daher von einer erneuten Untersuchung der Handschrift, die, wie wir hören, beabsichtigt wird, noch manche neue Resultate erwarten. Die übrigen Publikationen aus dem Gebiete der lateinischen Poesie, wie überhaupt alles sonstige Poetische, das der Verein zur Veröffentlichung gebracht hat, übergehen wir, um unser Augenmerk nun auf die geschichtlichen Denkmäler zu richten. Gleich der erste Band brachte ein solches: Closeners Stra߬ burgische Chronik, von Strobel und Schott herausgegeben. Sie wurde später von Hegel in seinen Straßburger Städtechroniken noch einmal edirt. Closener benutzte für seine Arbeit die „Weltchronik" Eckes von Repgow, und zwar in einer Gestalt, welche bereits mit Fortsetzungen versehen war. Maß-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/567>, abgerufen am 27.08.2024.