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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Unser Reichskanzler.

gleichsam die verkörperte Thatkraft ist, sich Stimmungen hingeben kann, die an
den Weltschmerz der elegischen Seele gemahnen, müssen wir von einer andern
Stelle ans in die Tiefe seines Geistes hinabzusteigen versuchen. Wir müssen
den Fürsten, welcher Fürst nicht nur dem Titel nach, sondern als Mensch unter
seines gleichen ist, in dem Punkte beobachten, welcher der wichtigste, weil all¬
gemein menschliche ist, nämlich hinsichtlich seiner Anschauung der eignen Natur
und des Verhältnisses derselben zur Gottheit. Wie steht es bei dem Fürsten
um das "Erkenne dich selbst"? Hier scheint mir das rechte Mittel zum Ver¬
ständnis seiner Persönlichkeit gegeben zu sein.

Aus den Mitteilungen, welche uns über die religiöse Anschauung des
Reichskanzlers gemacht werden, erhellt, daß er nicht zu den Männern gerechnet
werden kann, welche gleich einem heiligen Bernhard oder heiligen Borromeo den
Schwerpunkt ihres Lebens und Wirkens in das Gebet verlegen und daß er
auch nicht eigentlich einer bestimmten Konfession zugezählt werden kann. Aber
der Fürst gehört auch uicht zu den Männern, welche gleich einem Friedrich dem
Großen oder Napoleon der Ansicht sind, daß Gott den Sieg immer demjenigen
Heere verleihe, welches die stärksten Bataillone in den Kampf führt. Er hat
selbst gesagt (Bd. 1, S. 130): "Wenn ich nicht ein strammgläubiger Christ
wäre, wenn ich die wundervolle Basis der Religion nicht hätte, so würden Sie
einen solchen Bundeskanzler garnicht erlebt haben." Er gebraucht die Heils¬
mittel der Kirche, wie z. B. das heilige Abendmahl, und sicherlich, bei der Größe
seines Charakters, nicht nur zum Schein und in Rücksicht auf seine Umgebung,
sondern in der aufrichtigen Überzeugung, damit seiner Seele zu nützen.

Durchaus in logischem Zusammenhang mit dieser Behandlung seiner Seele
steht die Behandlung seines Körpers. Der Fürst gehört weder zu den Männern,
welche ihren Leib dem Leibarzt oder Hausarzt übergeben, damit dieser für seine
Wohlfahrt sorge, noch anch gehört er zu denen, welche überhaupt keinen Arzt
nehmen und selbst die Wächter ihrer Gesundheit sind. Er steht der medizinischen
Wissenschaft etwa ebenso gegenüber wie der theologischen, das heißt, er glaubt,
es könnte möglicherweise doch wohl Heilmittel gegen die Krankheiten geben, aber
er bindet sich nicht an eine bestimmte Schule. Es wird berichtet, daß der Fürst
mit freiem Schritt aus der allopathischen in die homöopathische Richtung und
dann wieder zu Spezialkuren übergeht.

Nun ist es aber eine bemerkenswerte Thatsache, daß gerade diejenigen Männer,
welche wir als unerbittliche Denker zu bezeichnen pflegen, in diesen Punkten eine
große Schärfe und Klarheit der Auffassung gezeigt haben. Diese haben mit der Er¬
forschung der eignen Natur, sowohl des Leibes als der Seele, angefangen, eine solche
Erkenntnis für das wichtigste gehalten und die Beschäftigung mit allen andern
Dingen, namentlich der Politik, erst auf das Studium des ihnen zunächst liegenden
folgen lassen. Denn am nächsten liegt jedem Menschen offenbar die eigne Beschaffen¬
heit, und ernste Denker haben wohl darauf hingewiesen, daß erst aus der Selbst-


Unser Reichskanzler.

gleichsam die verkörperte Thatkraft ist, sich Stimmungen hingeben kann, die an
den Weltschmerz der elegischen Seele gemahnen, müssen wir von einer andern
Stelle ans in die Tiefe seines Geistes hinabzusteigen versuchen. Wir müssen
den Fürsten, welcher Fürst nicht nur dem Titel nach, sondern als Mensch unter
seines gleichen ist, in dem Punkte beobachten, welcher der wichtigste, weil all¬
gemein menschliche ist, nämlich hinsichtlich seiner Anschauung der eignen Natur
und des Verhältnisses derselben zur Gottheit. Wie steht es bei dem Fürsten
um das „Erkenne dich selbst"? Hier scheint mir das rechte Mittel zum Ver¬
ständnis seiner Persönlichkeit gegeben zu sein.

Aus den Mitteilungen, welche uns über die religiöse Anschauung des
Reichskanzlers gemacht werden, erhellt, daß er nicht zu den Männern gerechnet
werden kann, welche gleich einem heiligen Bernhard oder heiligen Borromeo den
Schwerpunkt ihres Lebens und Wirkens in das Gebet verlegen und daß er
auch nicht eigentlich einer bestimmten Konfession zugezählt werden kann. Aber
der Fürst gehört auch uicht zu den Männern, welche gleich einem Friedrich dem
Großen oder Napoleon der Ansicht sind, daß Gott den Sieg immer demjenigen
Heere verleihe, welches die stärksten Bataillone in den Kampf führt. Er hat
selbst gesagt (Bd. 1, S. 130): „Wenn ich nicht ein strammgläubiger Christ
wäre, wenn ich die wundervolle Basis der Religion nicht hätte, so würden Sie
einen solchen Bundeskanzler garnicht erlebt haben." Er gebraucht die Heils¬
mittel der Kirche, wie z. B. das heilige Abendmahl, und sicherlich, bei der Größe
seines Charakters, nicht nur zum Schein und in Rücksicht auf seine Umgebung,
sondern in der aufrichtigen Überzeugung, damit seiner Seele zu nützen.

Durchaus in logischem Zusammenhang mit dieser Behandlung seiner Seele
steht die Behandlung seines Körpers. Der Fürst gehört weder zu den Männern,
welche ihren Leib dem Leibarzt oder Hausarzt übergeben, damit dieser für seine
Wohlfahrt sorge, noch anch gehört er zu denen, welche überhaupt keinen Arzt
nehmen und selbst die Wächter ihrer Gesundheit sind. Er steht der medizinischen
Wissenschaft etwa ebenso gegenüber wie der theologischen, das heißt, er glaubt,
es könnte möglicherweise doch wohl Heilmittel gegen die Krankheiten geben, aber
er bindet sich nicht an eine bestimmte Schule. Es wird berichtet, daß der Fürst
mit freiem Schritt aus der allopathischen in die homöopathische Richtung und
dann wieder zu Spezialkuren übergeht.

Nun ist es aber eine bemerkenswerte Thatsache, daß gerade diejenigen Männer,
welche wir als unerbittliche Denker zu bezeichnen pflegen, in diesen Punkten eine
große Schärfe und Klarheit der Auffassung gezeigt haben. Diese haben mit der Er¬
forschung der eignen Natur, sowohl des Leibes als der Seele, angefangen, eine solche
Erkenntnis für das wichtigste gehalten und die Beschäftigung mit allen andern
Dingen, namentlich der Politik, erst auf das Studium des ihnen zunächst liegenden
folgen lassen. Denn am nächsten liegt jedem Menschen offenbar die eigne Beschaffen¬
heit, und ernste Denker haben wohl darauf hingewiesen, daß erst aus der Selbst-


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[0511] Unser Reichskanzler. gleichsam die verkörperte Thatkraft ist, sich Stimmungen hingeben kann, die an den Weltschmerz der elegischen Seele gemahnen, müssen wir von einer andern Stelle ans in die Tiefe seines Geistes hinabzusteigen versuchen. Wir müssen den Fürsten, welcher Fürst nicht nur dem Titel nach, sondern als Mensch unter seines gleichen ist, in dem Punkte beobachten, welcher der wichtigste, weil all¬ gemein menschliche ist, nämlich hinsichtlich seiner Anschauung der eignen Natur und des Verhältnisses derselben zur Gottheit. Wie steht es bei dem Fürsten um das „Erkenne dich selbst"? Hier scheint mir das rechte Mittel zum Ver¬ ständnis seiner Persönlichkeit gegeben zu sein. Aus den Mitteilungen, welche uns über die religiöse Anschauung des Reichskanzlers gemacht werden, erhellt, daß er nicht zu den Männern gerechnet werden kann, welche gleich einem heiligen Bernhard oder heiligen Borromeo den Schwerpunkt ihres Lebens und Wirkens in das Gebet verlegen und daß er auch nicht eigentlich einer bestimmten Konfession zugezählt werden kann. Aber der Fürst gehört auch uicht zu den Männern, welche gleich einem Friedrich dem Großen oder Napoleon der Ansicht sind, daß Gott den Sieg immer demjenigen Heere verleihe, welches die stärksten Bataillone in den Kampf führt. Er hat selbst gesagt (Bd. 1, S. 130): „Wenn ich nicht ein strammgläubiger Christ wäre, wenn ich die wundervolle Basis der Religion nicht hätte, so würden Sie einen solchen Bundeskanzler garnicht erlebt haben." Er gebraucht die Heils¬ mittel der Kirche, wie z. B. das heilige Abendmahl, und sicherlich, bei der Größe seines Charakters, nicht nur zum Schein und in Rücksicht auf seine Umgebung, sondern in der aufrichtigen Überzeugung, damit seiner Seele zu nützen. Durchaus in logischem Zusammenhang mit dieser Behandlung seiner Seele steht die Behandlung seines Körpers. Der Fürst gehört weder zu den Männern, welche ihren Leib dem Leibarzt oder Hausarzt übergeben, damit dieser für seine Wohlfahrt sorge, noch anch gehört er zu denen, welche überhaupt keinen Arzt nehmen und selbst die Wächter ihrer Gesundheit sind. Er steht der medizinischen Wissenschaft etwa ebenso gegenüber wie der theologischen, das heißt, er glaubt, es könnte möglicherweise doch wohl Heilmittel gegen die Krankheiten geben, aber er bindet sich nicht an eine bestimmte Schule. Es wird berichtet, daß der Fürst mit freiem Schritt aus der allopathischen in die homöopathische Richtung und dann wieder zu Spezialkuren übergeht. Nun ist es aber eine bemerkenswerte Thatsache, daß gerade diejenigen Männer, welche wir als unerbittliche Denker zu bezeichnen pflegen, in diesen Punkten eine große Schärfe und Klarheit der Auffassung gezeigt haben. Diese haben mit der Er¬ forschung der eignen Natur, sowohl des Leibes als der Seele, angefangen, eine solche Erkenntnis für das wichtigste gehalten und die Beschäftigung mit allen andern Dingen, namentlich der Politik, erst auf das Studium des ihnen zunächst liegenden folgen lassen. Denn am nächsten liegt jedem Menschen offenbar die eigne Beschaffen¬ heit, und ernste Denker haben wohl darauf hingewiesen, daß erst aus der Selbst-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/511>, abgerufen am 28.09.2024.