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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Unser Reichskanzler.

erkenntnis heraus die Erkenntnis der umgebenden Welt zu erwachsen habe.
Denn die Gesetze, mittelst welcher die Völker regiert werden -- so sagen sie --,
werden der Moral und Naturphilosophie gleichsam aus dem innersten Leibe
herausgeschält, diese aber erblühen aus der Kenntnis der menschlichen Natur.
Jene unerbittlichen und ernsten Denker nun sind immer der Überzeugung gewesen,
daß die theologische Wissenschaft zwar insofern Wert habe, als sie aufzeichne
und mitteile, was die frömmsten Geister über Gott und dessen Verhältnis zum
Menschen geäußert, daß sie aber keine Heilsmittel der Seele zu verordnen habe,
sondern daß hinsichtlich der Seelenbeschaffenheit jeder Mensch seinem Gott un¬
mittelbar gegenüberstehe. Und so haben sie mich der medizinischen Wissenschaft
zwar den Wert zugestanden, daß sie die Ansichten der berühmtesten Ärzte über
die Beschaffenheit des Körpers und seine Krankheiten mitteilen könne, aber sie
haben ihr nicht die Fähigkeit beigemessen, Heilmittel verordnen zu können, son¬
dern erkannt, daß hinsichtlich der Beschaffenheit seines Körpers jeder Mensch
unmittelbar mit der Natur zu verkehren habe.

Wenn wir nun sehen, daß der Fürst in diesen fundamentalen Stücken der Selbst¬
erkenntnis noch nicht zu den unerbittlichen Denkern gehört, sondern zum Glauben
neigt, so finden wir darin auch die Erklärung, warum er noch zu Zeiten an der
segensreichen Wirkung seiner eignen eminenten Leistungen zweifelt. Diese Zweifel
und Bedenken sind darin begründet, daß im Haupte des Fürsten noch keine völlige
Klarheit über seine eigne Natur und deren Wirkungskreis herrscht. Wäre er be¬
reits vollständig von der wahren Bedeutung eines Helden der That und von der
weltgeschichtlichen Bedeutung der eigenen Persönlichkeit durchdrungen und über¬
zeugt, so würden ihm derartige Stimmungen wohl nicht kommen. Er würde
sich alsdann sagen, daß er ein mächtiges Werkzeug in der Hand des Gottes
sei, der die Geschicke der Volker leitet, daß er sich aber über die Folgen seiner
Handlungen deshalb nicht zu grämen brauche, weil überhaupt kein Mensch wissen
und sagen kann, welcher Art die Folgen so großer politischer Eingriffe sein
werden. Denn diese Folgen sind nicht heute oder morgen, auch nicht in hun¬
dert oder tausend Jahren abgeschlossen, sondern sie sind unendlich. Aus eben
diesem Grunde aber, nämlich der Unabsehbarkeit der Folgen wegen, wird der
Held des Gedankens sich nicht mit Politik befassen, wenn er es irgend ver¬
meiden kann. Er wird schwer den Mut finden, das Leben seiner Mitmenschen
aufs Spiel zu setzen wegen einer Unternehmung, über deren unendlichen Ver¬
lauf er keine Kenntnis besitzt. Denn gesetzt auch, es wäre jemand so scharf¬
sichtig, den Verlauf eines Krieges vorher beurteilen zu können, so würden ihm
doch Bedenken kommen, ob für sein Volk der Sieg oder die Niederlage heil¬
samer wäre. Er würde sich sagen, daß für den Menschen nichts so schwer zu
ertragen sei, als eine Reihe von guten Tagen, und daß ein siegreiches, mäch¬
tiges und reiches Volt unfehlbar übermütig werden und vielen Lastern nachgehen
werde. Auf der andern Seite aber würde er die traurigen Folgen einer Nieder-


Unser Reichskanzler.

erkenntnis heraus die Erkenntnis der umgebenden Welt zu erwachsen habe.
Denn die Gesetze, mittelst welcher die Völker regiert werden — so sagen sie —,
werden der Moral und Naturphilosophie gleichsam aus dem innersten Leibe
herausgeschält, diese aber erblühen aus der Kenntnis der menschlichen Natur.
Jene unerbittlichen und ernsten Denker nun sind immer der Überzeugung gewesen,
daß die theologische Wissenschaft zwar insofern Wert habe, als sie aufzeichne
und mitteile, was die frömmsten Geister über Gott und dessen Verhältnis zum
Menschen geäußert, daß sie aber keine Heilsmittel der Seele zu verordnen habe,
sondern daß hinsichtlich der Seelenbeschaffenheit jeder Mensch seinem Gott un¬
mittelbar gegenüberstehe. Und so haben sie mich der medizinischen Wissenschaft
zwar den Wert zugestanden, daß sie die Ansichten der berühmtesten Ärzte über
die Beschaffenheit des Körpers und seine Krankheiten mitteilen könne, aber sie
haben ihr nicht die Fähigkeit beigemessen, Heilmittel verordnen zu können, son¬
dern erkannt, daß hinsichtlich der Beschaffenheit seines Körpers jeder Mensch
unmittelbar mit der Natur zu verkehren habe.

Wenn wir nun sehen, daß der Fürst in diesen fundamentalen Stücken der Selbst¬
erkenntnis noch nicht zu den unerbittlichen Denkern gehört, sondern zum Glauben
neigt, so finden wir darin auch die Erklärung, warum er noch zu Zeiten an der
segensreichen Wirkung seiner eignen eminenten Leistungen zweifelt. Diese Zweifel
und Bedenken sind darin begründet, daß im Haupte des Fürsten noch keine völlige
Klarheit über seine eigne Natur und deren Wirkungskreis herrscht. Wäre er be¬
reits vollständig von der wahren Bedeutung eines Helden der That und von der
weltgeschichtlichen Bedeutung der eigenen Persönlichkeit durchdrungen und über¬
zeugt, so würden ihm derartige Stimmungen wohl nicht kommen. Er würde
sich alsdann sagen, daß er ein mächtiges Werkzeug in der Hand des Gottes
sei, der die Geschicke der Volker leitet, daß er sich aber über die Folgen seiner
Handlungen deshalb nicht zu grämen brauche, weil überhaupt kein Mensch wissen
und sagen kann, welcher Art die Folgen so großer politischer Eingriffe sein
werden. Denn diese Folgen sind nicht heute oder morgen, auch nicht in hun¬
dert oder tausend Jahren abgeschlossen, sondern sie sind unendlich. Aus eben
diesem Grunde aber, nämlich der Unabsehbarkeit der Folgen wegen, wird der
Held des Gedankens sich nicht mit Politik befassen, wenn er es irgend ver¬
meiden kann. Er wird schwer den Mut finden, das Leben seiner Mitmenschen
aufs Spiel zu setzen wegen einer Unternehmung, über deren unendlichen Ver¬
lauf er keine Kenntnis besitzt. Denn gesetzt auch, es wäre jemand so scharf¬
sichtig, den Verlauf eines Krieges vorher beurteilen zu können, so würden ihm
doch Bedenken kommen, ob für sein Volk der Sieg oder die Niederlage heil¬
samer wäre. Er würde sich sagen, daß für den Menschen nichts so schwer zu
ertragen sei, als eine Reihe von guten Tagen, und daß ein siegreiches, mäch¬
tiges und reiches Volt unfehlbar übermütig werden und vielen Lastern nachgehen
werde. Auf der andern Seite aber würde er die traurigen Folgen einer Nieder-


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[0512] Unser Reichskanzler. erkenntnis heraus die Erkenntnis der umgebenden Welt zu erwachsen habe. Denn die Gesetze, mittelst welcher die Völker regiert werden — so sagen sie —, werden der Moral und Naturphilosophie gleichsam aus dem innersten Leibe herausgeschält, diese aber erblühen aus der Kenntnis der menschlichen Natur. Jene unerbittlichen und ernsten Denker nun sind immer der Überzeugung gewesen, daß die theologische Wissenschaft zwar insofern Wert habe, als sie aufzeichne und mitteile, was die frömmsten Geister über Gott und dessen Verhältnis zum Menschen geäußert, daß sie aber keine Heilsmittel der Seele zu verordnen habe, sondern daß hinsichtlich der Seelenbeschaffenheit jeder Mensch seinem Gott un¬ mittelbar gegenüberstehe. Und so haben sie mich der medizinischen Wissenschaft zwar den Wert zugestanden, daß sie die Ansichten der berühmtesten Ärzte über die Beschaffenheit des Körpers und seine Krankheiten mitteilen könne, aber sie haben ihr nicht die Fähigkeit beigemessen, Heilmittel verordnen zu können, son¬ dern erkannt, daß hinsichtlich der Beschaffenheit seines Körpers jeder Mensch unmittelbar mit der Natur zu verkehren habe. Wenn wir nun sehen, daß der Fürst in diesen fundamentalen Stücken der Selbst¬ erkenntnis noch nicht zu den unerbittlichen Denkern gehört, sondern zum Glauben neigt, so finden wir darin auch die Erklärung, warum er noch zu Zeiten an der segensreichen Wirkung seiner eignen eminenten Leistungen zweifelt. Diese Zweifel und Bedenken sind darin begründet, daß im Haupte des Fürsten noch keine völlige Klarheit über seine eigne Natur und deren Wirkungskreis herrscht. Wäre er be¬ reits vollständig von der wahren Bedeutung eines Helden der That und von der weltgeschichtlichen Bedeutung der eigenen Persönlichkeit durchdrungen und über¬ zeugt, so würden ihm derartige Stimmungen wohl nicht kommen. Er würde sich alsdann sagen, daß er ein mächtiges Werkzeug in der Hand des Gottes sei, der die Geschicke der Volker leitet, daß er sich aber über die Folgen seiner Handlungen deshalb nicht zu grämen brauche, weil überhaupt kein Mensch wissen und sagen kann, welcher Art die Folgen so großer politischer Eingriffe sein werden. Denn diese Folgen sind nicht heute oder morgen, auch nicht in hun¬ dert oder tausend Jahren abgeschlossen, sondern sie sind unendlich. Aus eben diesem Grunde aber, nämlich der Unabsehbarkeit der Folgen wegen, wird der Held des Gedankens sich nicht mit Politik befassen, wenn er es irgend ver¬ meiden kann. Er wird schwer den Mut finden, das Leben seiner Mitmenschen aufs Spiel zu setzen wegen einer Unternehmung, über deren unendlichen Ver¬ lauf er keine Kenntnis besitzt. Denn gesetzt auch, es wäre jemand so scharf¬ sichtig, den Verlauf eines Krieges vorher beurteilen zu können, so würden ihm doch Bedenken kommen, ob für sein Volk der Sieg oder die Niederlage heil¬ samer wäre. Er würde sich sagen, daß für den Menschen nichts so schwer zu ertragen sei, als eine Reihe von guten Tagen, und daß ein siegreiches, mäch¬ tiges und reiches Volt unfehlbar übermütig werden und vielen Lastern nachgehen werde. Auf der andern Seite aber würde er die traurigen Folgen einer Nieder-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/512>, abgerufen am 28.09.2024.