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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Rußland und die armenische Frage.

in Europa nur ein geringes Interesse habe. Der Artikel 61 des Berliner Ver¬
trages wurde gewöhnlich nur dann hervorgesucht, wenn es galt, dem Sultan
eine schmerzliche Empfindung zu bereiten und damit seine Nachgiebigkeit auf
andern Gebieten der Politik zu erwirken. Die armenische Frage existirt also
nur dann, wenn ein Kabinet oder eine politische Gruppe ein Interesse haben,
eine "Frage" ins Leben zu rufen. Sie verschwindet vom Schauplatz, sobald
der gewünschte Zweck erreicht ist.

Eigentlich sind es -- wenn wir von allgemeinen, gewiß sehr ehrenwerten
Humanitären Bestrebungen absehen, welche auf die Wohlfahrt christlicher Volks¬
stämme im Orient gerichtet sind -- nur zwei Mächte: England und Rußland,
welche ein politisches Interesse an der Gestaltung der Dinge auf dem armenischen
Hochplateau haben können. Alle andern Signatarmächte des Berliner Vertrags
sind bei der armenischen Frage nur soweit interessirt, als ihr Wohlwollen sür
die Armenier in den? Text des obgedachten Artikels seinen bestimmten Ausdruck
erhalten hat, und administrative Veränderungen auf jenem östlichen Grenzgebiet
auf die allgemeinen Zustände des türkischen Reiches eine Rückwirkung ausüben
können. Als vor zwei Jahren die armenische Frage auf Wunsch Englands
Gegenstand der Besprechungen einer Votschafterkonferenz war und Lord Dufferin
das unter Billigung seiner Kollegen ausgearbeitete Memorandum der Pforte
überreichte, hatten sich die andern Mächte allerdings den Vorstellungen des bri¬
tischen Vertreters angeschlossen, sich dabei aber auf die Sprache freundschaftlich
gehaltener Ratschläge beschränkt. England blieb bei seiner weitergehenden, drän¬
genden und sast drohenden Haltung isolirt. Wir halten es daher auch jetzt
für keineswegs unwahrscheinlich, daß die deutsche und die österreichisch-ungarische
Regierung auf einen durch Mukhtar Pascha übermittelten Wunsch des Sultans:
man möge ihm für die Reformen in Kleinasien Zeit lassen, ohne große Be¬
denken eingegangen sind, und da England infolge der ägyptischen Krisis zur Zeit
nicht die Absicht haben kann, neue Schwierigkeiten mit der Pforte heraufzu¬
beschwören, so wird die armenische Frage aller Wahrscheinlichkeit nach nicht so
bald wieder zum Thema diplomatischer Erörterungen werden. Wie aber wird
dieser zeitweilige Jndifferentismus der christlichen Staaten auf die armenische
Bevölkerung wirken, welche seit fünf Jahren vergeblich auf eine Milderung ihres
drückenden Zustandes hofft? Wird dieses Gefühl der Verlassenheit sie in eine
verzweifelte Stimmung und damit zu leidenschaftlichen Ausbrüchen treiben?
Werden nicht vielleicht diejenigen Bezirke, welche vor allem von dem religiösen
Fanatismus der islamitischen Beamtenwelt zu leiden haben, ihre Blicke nach
dem Haupte des mächtigen christlichen Nachbarstaates richten und Vergleiche an¬
stellen zwischen ihrer Lage und zwischen der ihrer unter russischer Herrschaft
stehenden Religionsgenossen?

Daß die russische Regierung die Zustände im türkischen Armenien auf¬
merksam überwacht, ist wohl selbstverständlich; ebenso daß sie kein Mittel un-


Rußland und die armenische Frage.

in Europa nur ein geringes Interesse habe. Der Artikel 61 des Berliner Ver¬
trages wurde gewöhnlich nur dann hervorgesucht, wenn es galt, dem Sultan
eine schmerzliche Empfindung zu bereiten und damit seine Nachgiebigkeit auf
andern Gebieten der Politik zu erwirken. Die armenische Frage existirt also
nur dann, wenn ein Kabinet oder eine politische Gruppe ein Interesse haben,
eine „Frage" ins Leben zu rufen. Sie verschwindet vom Schauplatz, sobald
der gewünschte Zweck erreicht ist.

Eigentlich sind es — wenn wir von allgemeinen, gewiß sehr ehrenwerten
Humanitären Bestrebungen absehen, welche auf die Wohlfahrt christlicher Volks¬
stämme im Orient gerichtet sind — nur zwei Mächte: England und Rußland,
welche ein politisches Interesse an der Gestaltung der Dinge auf dem armenischen
Hochplateau haben können. Alle andern Signatarmächte des Berliner Vertrags
sind bei der armenischen Frage nur soweit interessirt, als ihr Wohlwollen sür
die Armenier in den? Text des obgedachten Artikels seinen bestimmten Ausdruck
erhalten hat, und administrative Veränderungen auf jenem östlichen Grenzgebiet
auf die allgemeinen Zustände des türkischen Reiches eine Rückwirkung ausüben
können. Als vor zwei Jahren die armenische Frage auf Wunsch Englands
Gegenstand der Besprechungen einer Votschafterkonferenz war und Lord Dufferin
das unter Billigung seiner Kollegen ausgearbeitete Memorandum der Pforte
überreichte, hatten sich die andern Mächte allerdings den Vorstellungen des bri¬
tischen Vertreters angeschlossen, sich dabei aber auf die Sprache freundschaftlich
gehaltener Ratschläge beschränkt. England blieb bei seiner weitergehenden, drän¬
genden und sast drohenden Haltung isolirt. Wir halten es daher auch jetzt
für keineswegs unwahrscheinlich, daß die deutsche und die österreichisch-ungarische
Regierung auf einen durch Mukhtar Pascha übermittelten Wunsch des Sultans:
man möge ihm für die Reformen in Kleinasien Zeit lassen, ohne große Be¬
denken eingegangen sind, und da England infolge der ägyptischen Krisis zur Zeit
nicht die Absicht haben kann, neue Schwierigkeiten mit der Pforte heraufzu¬
beschwören, so wird die armenische Frage aller Wahrscheinlichkeit nach nicht so
bald wieder zum Thema diplomatischer Erörterungen werden. Wie aber wird
dieser zeitweilige Jndifferentismus der christlichen Staaten auf die armenische
Bevölkerung wirken, welche seit fünf Jahren vergeblich auf eine Milderung ihres
drückenden Zustandes hofft? Wird dieses Gefühl der Verlassenheit sie in eine
verzweifelte Stimmung und damit zu leidenschaftlichen Ausbrüchen treiben?
Werden nicht vielleicht diejenigen Bezirke, welche vor allem von dem religiösen
Fanatismus der islamitischen Beamtenwelt zu leiden haben, ihre Blicke nach
dem Haupte des mächtigen christlichen Nachbarstaates richten und Vergleiche an¬
stellen zwischen ihrer Lage und zwischen der ihrer unter russischer Herrschaft
stehenden Religionsgenossen?

Daß die russische Regierung die Zustände im türkischen Armenien auf¬
merksam überwacht, ist wohl selbstverständlich; ebenso daß sie kein Mittel un-


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[0442] Rußland und die armenische Frage. in Europa nur ein geringes Interesse habe. Der Artikel 61 des Berliner Ver¬ trages wurde gewöhnlich nur dann hervorgesucht, wenn es galt, dem Sultan eine schmerzliche Empfindung zu bereiten und damit seine Nachgiebigkeit auf andern Gebieten der Politik zu erwirken. Die armenische Frage existirt also nur dann, wenn ein Kabinet oder eine politische Gruppe ein Interesse haben, eine „Frage" ins Leben zu rufen. Sie verschwindet vom Schauplatz, sobald der gewünschte Zweck erreicht ist. Eigentlich sind es — wenn wir von allgemeinen, gewiß sehr ehrenwerten Humanitären Bestrebungen absehen, welche auf die Wohlfahrt christlicher Volks¬ stämme im Orient gerichtet sind — nur zwei Mächte: England und Rußland, welche ein politisches Interesse an der Gestaltung der Dinge auf dem armenischen Hochplateau haben können. Alle andern Signatarmächte des Berliner Vertrags sind bei der armenischen Frage nur soweit interessirt, als ihr Wohlwollen sür die Armenier in den? Text des obgedachten Artikels seinen bestimmten Ausdruck erhalten hat, und administrative Veränderungen auf jenem östlichen Grenzgebiet auf die allgemeinen Zustände des türkischen Reiches eine Rückwirkung ausüben können. Als vor zwei Jahren die armenische Frage auf Wunsch Englands Gegenstand der Besprechungen einer Votschafterkonferenz war und Lord Dufferin das unter Billigung seiner Kollegen ausgearbeitete Memorandum der Pforte überreichte, hatten sich die andern Mächte allerdings den Vorstellungen des bri¬ tischen Vertreters angeschlossen, sich dabei aber auf die Sprache freundschaftlich gehaltener Ratschläge beschränkt. England blieb bei seiner weitergehenden, drän¬ genden und sast drohenden Haltung isolirt. Wir halten es daher auch jetzt für keineswegs unwahrscheinlich, daß die deutsche und die österreichisch-ungarische Regierung auf einen durch Mukhtar Pascha übermittelten Wunsch des Sultans: man möge ihm für die Reformen in Kleinasien Zeit lassen, ohne große Be¬ denken eingegangen sind, und da England infolge der ägyptischen Krisis zur Zeit nicht die Absicht haben kann, neue Schwierigkeiten mit der Pforte heraufzu¬ beschwören, so wird die armenische Frage aller Wahrscheinlichkeit nach nicht so bald wieder zum Thema diplomatischer Erörterungen werden. Wie aber wird dieser zeitweilige Jndifferentismus der christlichen Staaten auf die armenische Bevölkerung wirken, welche seit fünf Jahren vergeblich auf eine Milderung ihres drückenden Zustandes hofft? Wird dieses Gefühl der Verlassenheit sie in eine verzweifelte Stimmung und damit zu leidenschaftlichen Ausbrüchen treiben? Werden nicht vielleicht diejenigen Bezirke, welche vor allem von dem religiösen Fanatismus der islamitischen Beamtenwelt zu leiden haben, ihre Blicke nach dem Haupte des mächtigen christlichen Nachbarstaates richten und Vergleiche an¬ stellen zwischen ihrer Lage und zwischen der ihrer unter russischer Herrschaft stehenden Religionsgenossen? Daß die russische Regierung die Zustände im türkischen Armenien auf¬ merksam überwacht, ist wohl selbstverständlich; ebenso daß sie kein Mittel un-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/442>, abgerufen am 04.07.2024.