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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Rußland und die armenische Frage.

im wesentlichen in der Ausdehnung des Haushaltcrstimmrcchts auf die ländlichen
Wahlkreise besteht, und die den Liberalen für lauge Jahre das Übergewicht in
der Gesetzgebung und damit verbunden die Regierung sichern soll, ins Leben
treten zu sehen. Vor dieser Gefahr wird der Patriotismus der Partei zurück¬
schrecken, mau wird also aller Wahrscheinlichkeit nach auf dieser Seite des Unter¬
hauses das Tadclsvotum der Konservativen nicht unterstützen, wie sehr man
auch überzeugt sein mag, daß es reichlich verdient worden ist.




Rußland und die armenische Frage.

le zwischen der Pforte und dem ökumenischen Patriarchat kürzlich
ausgebrochenen Streitigkeiten haben die Aufmerksamkeit der po¬
litischen Kreise Europas wieder mehr auf die Stellung der christ¬
lichen Kongregationen des Orients gelenkt. Es ist bei dieser
Gelegenheit auch der Lage der Armenier gedacht worden, ni:d
die "armenische Frage," welche die europäische Diplomatie ohne Bedauern
zeitweilig von der Tagesordnung hatte verschwinden sehen, taucht wieder am
Horizont auf. Die Bedeutung dieser Frage wird gewöhnlich im Abendlande
unterschätzt. Es ist unbequem, sich mit den Wünschen und Bedürfnissen eines
Volksstammes zu beschäftigen, der ein entlegenes, unzugängliches Gebiet bewohnt
und weder durch konfessionelle Bande noch durch materielle Interessen mit den
Bewohnern der europäischen Knlturstaciten verknüpft ist. Dennoch wird den
Kabinetten das Eingehen auf diese Frage nicht erspart bleiben. Je länger man
die Regelung der armenischen Verhältnisse hinausschiebt, desto schwieriger und
verwickelter wird die Arbeit werden. Augenblicklich liegen die Wünsche der Be¬
völkerung noch auf dein sozialen Gebiete; bleiben sie unbefriedigt, fo werden
sie sich auf das politische und nationale Gebiet übertragen. Schon jetzt sind
unter einer an und für sich friedlichen Bevölkerung die Anfänge einer Bewegung
erkennbar, welche dereinst für den Bestand des türkischen Reiches ebenso ver¬
hängnisvoll werden kann als die slavische und hellenische Agitation in den
europäischen Provinzen. Allein für eine Gefahr von dieser Seite sind die
türkischen Staatsmänner völlig blind. Sie halten eine Auflehnung der Armenier
für ebenso unmöglich wie einen Abfall der arabischen Stämme vom Sultanat.
Und doch fehlen nicht die Anzeichen dafür, daß die Osmanenherrschaft anch in
den asiatischen und afrikanischen Provinzen stark erschüttert ist.

Allerdings konnte die Pforte durch die bisherige Haltung der Kabinette
in der Meinung bestärkt werden, daß man für die Lage der armenischen Christen


Rußland und die armenische Frage.

im wesentlichen in der Ausdehnung des Haushaltcrstimmrcchts auf die ländlichen
Wahlkreise besteht, und die den Liberalen für lauge Jahre das Übergewicht in
der Gesetzgebung und damit verbunden die Regierung sichern soll, ins Leben
treten zu sehen. Vor dieser Gefahr wird der Patriotismus der Partei zurück¬
schrecken, mau wird also aller Wahrscheinlichkeit nach auf dieser Seite des Unter¬
hauses das Tadclsvotum der Konservativen nicht unterstützen, wie sehr man
auch überzeugt sein mag, daß es reichlich verdient worden ist.




Rußland und die armenische Frage.

le zwischen der Pforte und dem ökumenischen Patriarchat kürzlich
ausgebrochenen Streitigkeiten haben die Aufmerksamkeit der po¬
litischen Kreise Europas wieder mehr auf die Stellung der christ¬
lichen Kongregationen des Orients gelenkt. Es ist bei dieser
Gelegenheit auch der Lage der Armenier gedacht worden, ni:d
die „armenische Frage," welche die europäische Diplomatie ohne Bedauern
zeitweilig von der Tagesordnung hatte verschwinden sehen, taucht wieder am
Horizont auf. Die Bedeutung dieser Frage wird gewöhnlich im Abendlande
unterschätzt. Es ist unbequem, sich mit den Wünschen und Bedürfnissen eines
Volksstammes zu beschäftigen, der ein entlegenes, unzugängliches Gebiet bewohnt
und weder durch konfessionelle Bande noch durch materielle Interessen mit den
Bewohnern der europäischen Knlturstaciten verknüpft ist. Dennoch wird den
Kabinetten das Eingehen auf diese Frage nicht erspart bleiben. Je länger man
die Regelung der armenischen Verhältnisse hinausschiebt, desto schwieriger und
verwickelter wird die Arbeit werden. Augenblicklich liegen die Wünsche der Be¬
völkerung noch auf dein sozialen Gebiete; bleiben sie unbefriedigt, fo werden
sie sich auf das politische und nationale Gebiet übertragen. Schon jetzt sind
unter einer an und für sich friedlichen Bevölkerung die Anfänge einer Bewegung
erkennbar, welche dereinst für den Bestand des türkischen Reiches ebenso ver¬
hängnisvoll werden kann als die slavische und hellenische Agitation in den
europäischen Provinzen. Allein für eine Gefahr von dieser Seite sind die
türkischen Staatsmänner völlig blind. Sie halten eine Auflehnung der Armenier
für ebenso unmöglich wie einen Abfall der arabischen Stämme vom Sultanat.
Und doch fehlen nicht die Anzeichen dafür, daß die Osmanenherrschaft anch in
den asiatischen und afrikanischen Provinzen stark erschüttert ist.

Allerdings konnte die Pforte durch die bisherige Haltung der Kabinette
in der Meinung bestärkt werden, daß man für die Lage der armenischen Christen


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[0441] Rußland und die armenische Frage. im wesentlichen in der Ausdehnung des Haushaltcrstimmrcchts auf die ländlichen Wahlkreise besteht, und die den Liberalen für lauge Jahre das Übergewicht in der Gesetzgebung und damit verbunden die Regierung sichern soll, ins Leben treten zu sehen. Vor dieser Gefahr wird der Patriotismus der Partei zurück¬ schrecken, mau wird also aller Wahrscheinlichkeit nach auf dieser Seite des Unter¬ hauses das Tadclsvotum der Konservativen nicht unterstützen, wie sehr man auch überzeugt sein mag, daß es reichlich verdient worden ist. Rußland und die armenische Frage. le zwischen der Pforte und dem ökumenischen Patriarchat kürzlich ausgebrochenen Streitigkeiten haben die Aufmerksamkeit der po¬ litischen Kreise Europas wieder mehr auf die Stellung der christ¬ lichen Kongregationen des Orients gelenkt. Es ist bei dieser Gelegenheit auch der Lage der Armenier gedacht worden, ni:d die „armenische Frage," welche die europäische Diplomatie ohne Bedauern zeitweilig von der Tagesordnung hatte verschwinden sehen, taucht wieder am Horizont auf. Die Bedeutung dieser Frage wird gewöhnlich im Abendlande unterschätzt. Es ist unbequem, sich mit den Wünschen und Bedürfnissen eines Volksstammes zu beschäftigen, der ein entlegenes, unzugängliches Gebiet bewohnt und weder durch konfessionelle Bande noch durch materielle Interessen mit den Bewohnern der europäischen Knlturstaciten verknüpft ist. Dennoch wird den Kabinetten das Eingehen auf diese Frage nicht erspart bleiben. Je länger man die Regelung der armenischen Verhältnisse hinausschiebt, desto schwieriger und verwickelter wird die Arbeit werden. Augenblicklich liegen die Wünsche der Be¬ völkerung noch auf dein sozialen Gebiete; bleiben sie unbefriedigt, fo werden sie sich auf das politische und nationale Gebiet übertragen. Schon jetzt sind unter einer an und für sich friedlichen Bevölkerung die Anfänge einer Bewegung erkennbar, welche dereinst für den Bestand des türkischen Reiches ebenso ver¬ hängnisvoll werden kann als die slavische und hellenische Agitation in den europäischen Provinzen. Allein für eine Gefahr von dieser Seite sind die türkischen Staatsmänner völlig blind. Sie halten eine Auflehnung der Armenier für ebenso unmöglich wie einen Abfall der arabischen Stämme vom Sultanat. Und doch fehlen nicht die Anzeichen dafür, daß die Osmanenherrschaft anch in den asiatischen und afrikanischen Provinzen stark erschüttert ist. Allerdings konnte die Pforte durch die bisherige Haltung der Kabinette in der Meinung bestärkt werden, daß man für die Lage der armenischen Christen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/441>, abgerufen am 04.07.2024.