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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Rußland und die armenische Frage.

benutzt laßt, um, namentlich mit Hilfe der russischen Armenier, die Stimmung
unter der christlichen Bevölkerung des türkischen Grenzgebiets zu bearbeiten.
Wahrend man aber durch geheime und offene Agitation die nationalen und
religiösen Regungen dieses Stammes unterstützt, nimmt das Petersburger Ka-
binet bei den gemeinschaftlichen Schritten in Konstantinopel eine reservirte Hal¬
tung an. Seine Sprache ist, soweit es die armenischen Verhältnisse betrifft,
maßvoll, fast lau. Rußland, das für die slavischen Christen den Kreuzzug gegen
Stambul unternahm, zeigt in seinen offiziellen Kundgebungen für die arme¬
nischen mir ein sehr bedingtes Mitgefühl. Eine Pression in diesem Sinne ist
von Petersburg niemals ausgegangen. Der Grund dieser nicht ungewöhnlichen
Enthaltsamkeit ist leicht erkennbar: je schlechter es den türkischen Armeniern
ergeht, je mehr sie von der Willkür und Mißwirtschaft der osmanischen Be¬
amten zu leiden haben, je häufiger die kurdischen und tartarischen Nomaden¬
stämme von den Bergen herabsteigen und die schutzlosen Thäler durch räube¬
rische Streifzüge heimsuchen, desto sehnsüchtiger richten sich die Augen der
Bedrückten nach den Niederlassungen ihrer Brüder jenseits der Grenze. Aller¬
dings ist auch das Loos der russischen Armenier kein glänzendes: die russische
Beamtcnwirtschaft ist in vielen Punkten kaum bester als die türkische, aber es
besteht doch dort die bürgerliche Gleichheit aller Konfessionen. In dem tür¬
kischen Armenien ist der Christ dem Mohamedaner gegenüber sast rechtlos.

Das Ausbleiben der verheißenen Reformen, die Wühlereien russischer g-Mui"
provoeÄtöurs und die Drangsale eines immer unerträglicher werdenden Zustandes
werden also die armenischen Unterthanen des Sultans mit der Zeit notwendig
in die Arme Rußlands treiben, und wenn dies geschieht, hat sich die Pforten¬
regierung den Verlust dieser Provinz lediglich selbst zuzuschreiben. Die Armenier
wünschen einen solchen Wechsel der Herrschaft keineswegs. Sie waren Jahr¬
hunderte lang und sind noch heute die treuesten, demütigster, bis zur Willenlosigkeit
ergebenen Unterthanen der Sultane. Von allen Rcijahstcimmen waren sie am leich¬
testen zu bezwingen und zu regieren. Duldung und Unterwürfigkeit, Unterwürfig¬
keit, verbunden mit großer Schlauheit, waren von jeher die charakteristischen
Merkmale dieser Rasse, welche noch heute in der orientalischen Handelswelt so
ziemlich dieselbe Stellung einnimmt, wie die jüdische in Europa. Das nationale
Bewußtsein ist lange eingeschlafen und auch neuerdings uur durch Anregungen
von außen künstlich geweckt. Zu einer autonomen Staatsform fehlt es den
Armeniern an den unerläßlichsten Vorbedingungen. Die jahrhundertelange Knecht¬
schaft hat alle Spuren eines politischen Bewußtseins vertilgt, und die religiösen
Überlieferungen bilden allein das Band der Zusammengehörigkeit eines weit
über die Grenzen seines ursprünglichen Wohnsitzes hinaus versprengten Stammes.
Ihre Kolonien erstrecken sich über alle Handelsplätze der Levante, über viele
Häfen des westlichen Mittelmeeres; zahlreiche Niederlassungen befinden sich in
Ungarn, Siebenbürgen, Polen, in Turkestan, selbst in China. Und für alle


Grenzboten I. 1884. 55
Rußland und die armenische Frage.

benutzt laßt, um, namentlich mit Hilfe der russischen Armenier, die Stimmung
unter der christlichen Bevölkerung des türkischen Grenzgebiets zu bearbeiten.
Wahrend man aber durch geheime und offene Agitation die nationalen und
religiösen Regungen dieses Stammes unterstützt, nimmt das Petersburger Ka-
binet bei den gemeinschaftlichen Schritten in Konstantinopel eine reservirte Hal¬
tung an. Seine Sprache ist, soweit es die armenischen Verhältnisse betrifft,
maßvoll, fast lau. Rußland, das für die slavischen Christen den Kreuzzug gegen
Stambul unternahm, zeigt in seinen offiziellen Kundgebungen für die arme¬
nischen mir ein sehr bedingtes Mitgefühl. Eine Pression in diesem Sinne ist
von Petersburg niemals ausgegangen. Der Grund dieser nicht ungewöhnlichen
Enthaltsamkeit ist leicht erkennbar: je schlechter es den türkischen Armeniern
ergeht, je mehr sie von der Willkür und Mißwirtschaft der osmanischen Be¬
amten zu leiden haben, je häufiger die kurdischen und tartarischen Nomaden¬
stämme von den Bergen herabsteigen und die schutzlosen Thäler durch räube¬
rische Streifzüge heimsuchen, desto sehnsüchtiger richten sich die Augen der
Bedrückten nach den Niederlassungen ihrer Brüder jenseits der Grenze. Aller¬
dings ist auch das Loos der russischen Armenier kein glänzendes: die russische
Beamtcnwirtschaft ist in vielen Punkten kaum bester als die türkische, aber es
besteht doch dort die bürgerliche Gleichheit aller Konfessionen. In dem tür¬
kischen Armenien ist der Christ dem Mohamedaner gegenüber sast rechtlos.

Das Ausbleiben der verheißenen Reformen, die Wühlereien russischer g-Mui«
provoeÄtöurs und die Drangsale eines immer unerträglicher werdenden Zustandes
werden also die armenischen Unterthanen des Sultans mit der Zeit notwendig
in die Arme Rußlands treiben, und wenn dies geschieht, hat sich die Pforten¬
regierung den Verlust dieser Provinz lediglich selbst zuzuschreiben. Die Armenier
wünschen einen solchen Wechsel der Herrschaft keineswegs. Sie waren Jahr¬
hunderte lang und sind noch heute die treuesten, demütigster, bis zur Willenlosigkeit
ergebenen Unterthanen der Sultane. Von allen Rcijahstcimmen waren sie am leich¬
testen zu bezwingen und zu regieren. Duldung und Unterwürfigkeit, Unterwürfig¬
keit, verbunden mit großer Schlauheit, waren von jeher die charakteristischen
Merkmale dieser Rasse, welche noch heute in der orientalischen Handelswelt so
ziemlich dieselbe Stellung einnimmt, wie die jüdische in Europa. Das nationale
Bewußtsein ist lange eingeschlafen und auch neuerdings uur durch Anregungen
von außen künstlich geweckt. Zu einer autonomen Staatsform fehlt es den
Armeniern an den unerläßlichsten Vorbedingungen. Die jahrhundertelange Knecht¬
schaft hat alle Spuren eines politischen Bewußtseins vertilgt, und die religiösen
Überlieferungen bilden allein das Band der Zusammengehörigkeit eines weit
über die Grenzen seines ursprünglichen Wohnsitzes hinaus versprengten Stammes.
Ihre Kolonien erstrecken sich über alle Handelsplätze der Levante, über viele
Häfen des westlichen Mittelmeeres; zahlreiche Niederlassungen befinden sich in
Ungarn, Siebenbürgen, Polen, in Turkestan, selbst in China. Und für alle


Grenzboten I. 1884. 55
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[0443] Rußland und die armenische Frage. benutzt laßt, um, namentlich mit Hilfe der russischen Armenier, die Stimmung unter der christlichen Bevölkerung des türkischen Grenzgebiets zu bearbeiten. Wahrend man aber durch geheime und offene Agitation die nationalen und religiösen Regungen dieses Stammes unterstützt, nimmt das Petersburger Ka- binet bei den gemeinschaftlichen Schritten in Konstantinopel eine reservirte Hal¬ tung an. Seine Sprache ist, soweit es die armenischen Verhältnisse betrifft, maßvoll, fast lau. Rußland, das für die slavischen Christen den Kreuzzug gegen Stambul unternahm, zeigt in seinen offiziellen Kundgebungen für die arme¬ nischen mir ein sehr bedingtes Mitgefühl. Eine Pression in diesem Sinne ist von Petersburg niemals ausgegangen. Der Grund dieser nicht ungewöhnlichen Enthaltsamkeit ist leicht erkennbar: je schlechter es den türkischen Armeniern ergeht, je mehr sie von der Willkür und Mißwirtschaft der osmanischen Be¬ amten zu leiden haben, je häufiger die kurdischen und tartarischen Nomaden¬ stämme von den Bergen herabsteigen und die schutzlosen Thäler durch räube¬ rische Streifzüge heimsuchen, desto sehnsüchtiger richten sich die Augen der Bedrückten nach den Niederlassungen ihrer Brüder jenseits der Grenze. Aller¬ dings ist auch das Loos der russischen Armenier kein glänzendes: die russische Beamtcnwirtschaft ist in vielen Punkten kaum bester als die türkische, aber es besteht doch dort die bürgerliche Gleichheit aller Konfessionen. In dem tür¬ kischen Armenien ist der Christ dem Mohamedaner gegenüber sast rechtlos. Das Ausbleiben der verheißenen Reformen, die Wühlereien russischer g-Mui« provoeÄtöurs und die Drangsale eines immer unerträglicher werdenden Zustandes werden also die armenischen Unterthanen des Sultans mit der Zeit notwendig in die Arme Rußlands treiben, und wenn dies geschieht, hat sich die Pforten¬ regierung den Verlust dieser Provinz lediglich selbst zuzuschreiben. Die Armenier wünschen einen solchen Wechsel der Herrschaft keineswegs. Sie waren Jahr¬ hunderte lang und sind noch heute die treuesten, demütigster, bis zur Willenlosigkeit ergebenen Unterthanen der Sultane. Von allen Rcijahstcimmen waren sie am leich¬ testen zu bezwingen und zu regieren. Duldung und Unterwürfigkeit, Unterwürfig¬ keit, verbunden mit großer Schlauheit, waren von jeher die charakteristischen Merkmale dieser Rasse, welche noch heute in der orientalischen Handelswelt so ziemlich dieselbe Stellung einnimmt, wie die jüdische in Europa. Das nationale Bewußtsein ist lange eingeschlafen und auch neuerdings uur durch Anregungen von außen künstlich geweckt. Zu einer autonomen Staatsform fehlt es den Armeniern an den unerläßlichsten Vorbedingungen. Die jahrhundertelange Knecht¬ schaft hat alle Spuren eines politischen Bewußtseins vertilgt, und die religiösen Überlieferungen bilden allein das Band der Zusammengehörigkeit eines weit über die Grenzen seines ursprünglichen Wohnsitzes hinaus versprengten Stammes. Ihre Kolonien erstrecken sich über alle Handelsplätze der Levante, über viele Häfen des westlichen Mittelmeeres; zahlreiche Niederlassungen befinden sich in Ungarn, Siebenbürgen, Polen, in Turkestan, selbst in China. Und für alle Grenzboten I. 1884. 55

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/443>, abgerufen am 04.07.2024.